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öffentliche Bibliothek
öffentliche Bibliothek,
 
öffentliche Bücherei, früher auch Volksbibliothek, Volksbücherei, Bücherhalle, Bildungsbibliothek, Volkstümliche Bücherei u. Ä. genannt, heute meist Stadtbibliothek, Stadtbücherei, Leihbücherei u. Ä.; eine jedermann zugängliche, gemeinnützige Bibliothek für die allgemeine Literatur- und Informationsversorgung.
 
Forderungen nach öffentlichen Bibliotheken wurden bereits in der Reformationszeit erhoben (M. Luther), ein Bedarf im Sinne einer bildungspolitischen Einrichtung manifestierte sich durch Anregungen der Aufklärung und des Neuhumanismus. Verwirklicht wurde der Gedanke einer öffentlichen Bibliothek in Deutschland erstmals durch K. B. Preusker, der 1828 in Großenhain eine Schulbibliothek gründete, die 1833 zur Stadtbibliothek erklärt wurde. Das Beispiel fand aber nur in wenigen Städten Nachfolger (u. a. in Berlin, angeregt durch F. von Raumer, 1850). Stärker wirkten die Büchereien, die als Ergebnis katholischer Bildungsarbeit (Borromäusverein, gegründet 1844) und der Arbeit der protestantischen Inneren Mission (J. H. Wichern, 1848) entstanden; hinzu kamen Büchereien liberaler (Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung, 1871) und Arbeiterbildungsvereine. In diesen Jahren entwickelte sich in den USA (erstes Büchereigesetz 1847) und in Großbritannien (erstes Büchereigesetz 1850) aus freier Bürgerinitiative ein schnell wachsendes System von »Public libraries«, das mit Beginn der 1890er-Jahre auf Österreich (E. Reyer), wo die erste Volksbücherei 1878 in Wien gegründet worden war, Einfluss nahm und um die Jahrhundertwende schließlich auf Deutschland (C. Nörrenberg, F. von Raumer) als Vorbild wirkte und zur »Bücherhallenbewegung« anregte. Diese Bewegung hatte v. a. in den Städten (Berlin, Düsseldorf, Essen, Hamburg, Jena, Osnabrück) Einfluss, brachte aber auch die ersten Anfänge ländlicher Büchereiarbeit auf kommunaler Grundlage (Erlass des preußischen Ministers R. Bosse 1899, erste staatliche Beratungsstelle in Dortmund, später Hagen, für die Provinz Westfalen und in Düsseldorf für den Regierungsbezirk, 1910). Nach 1918 zeigte der 1913 ausgebrochene »Richtungsstreit« der Bibliothekare, der sich v. a. an Fragen der Literaturpädagogik und der Büchereiorganisation entzündet hatte, Wirkung. In diese Zeit fällt die terminologische Differenzierung der Begriffe »öffentliche Bücherei« und »wissenschaftliche Bibliothek«, womit Bestrebungen zum Ausdruck kamen, die Zielsetzung der Volksbüchereien, Bildungsbibliotheken und Bücherhallen von den Aufgaben der wissenschaftlichen Bibliotheken abzugrenzen. Unter den Wortführern E. Ackerknecht, der sich gegen eine Bevormundung der Leser wandte, und W. Hofmann, der die pädagogischen Aufgaben des Bibliothekars als »Volksbildner« herausstellte und für ein »Hinauflesen« (zu immer anspruchsvollerer Literatur) eintrat, führte die Kontroverse zu immer schärferen Gegensätzen im Berufsstand. Die Gründung eines Verbandes Deutscher Volksbibliothekare (VDV, 1922) führte allmählich zu einer Annäherung der Gegner, bis die »Gleichschaltung« unter dem nationalsozialistischen Regime 1933 (Eingliederung des VDV in die Reichsschrifttumskammer) die Gegensätze zwangsweise einebnete. Es wurden in gravierendem Maße »Säuberungen« des Personals und der Buchbestände vorgenommen. Nach dem Kriegsende wurde in der Bundesrepublik Deutschland der Wiederaufbau der öffentlichen Bibliotheken als Institutionen einer demokratischen Ordnung begonnen, wobei v. a. die angelsächsischen und skandinavischen Büchereisysteme als Vorbild dienten. Zudem wurde die organisatorische Vereinheitlichung des Büchereiwesens vorangetrieben und das Prinzip der autonomen Erwerbspraxis jeder einzelnen Bibliothek eingeführt.
 
In Österreich ist nach 1945 wie in der Bundesrepublik Deutschland das Volksbüchereiwesen im Sinne demokratischer Grundsätze reformiert worden. Hauptträger der Volksbüchereien ist das Borromäuswerk; zu ihm treten andere Institutionen als Träger (u. a. Gewerkschaften), subventioniert vom Staat. 1948 wurde der »Verband Österreichischer Volksbüchereien« gegründet (heutiger Sitz Wien). In der Schweiz gehen die Gründungen von Büchereien v. a. auf die Initiative privaten Engagements von Vereinen und kirchlichen Einrichtungen zurück. Die kulturelle Eigenständigkeit der Kantone bedingte die uneinheitliche und vielfältige Entwicklungsgeschichte des schweizerischen Büchereiwesens.
 
Die öffentliche Bibliothek der Bundesrepublik Deutschland und weitgehend auch Österreichs und der Schweiz versteht sich heute als ein Kommunikations-, Informations- und Lernzentrum für alle Schichten und Gruppierungen der Gesellschaft. Sie stellt deshalb alle Arten von geeigneten Medien zur Verfügung, die die Orientierung, Weiterbildung, freie Meinungsbildung und Information fördern und zur Freizeitgestaltung anregen. Für Kinder, Jugendliche, alte Menschen, Blinde, ausländische Mitbürger und Menschen in besonderen Lebenssituationen (z. B. in Krankenhäusern, Altersheimen, Strafanstalten) gibt es Kinder-, Blinden-, Krankenhausbüchereien und ähnliche Sonderabteilungen mit entsprechenden Medienbeständen. Einige Aufgabenbereiche werden kooperativ (z. B. Schulbildung mit Schulbibliotheken) betreut.
 
Die öffentlichen Bibliotheken gliedern sich nach den zu versorgenden Gebieten in Gemeinde-, Kreis- und Stadtbibliotheken; die Abdeckung des Grundbedarfs wird v. a. in Bereichen geringer Siedlungsdichte und in Randzonen von Ballungsgebieten über Fahrbibliotheken, kirchliche Gemeindebüchereien u. a. angestrebt. Die eingesetzten Medien und Dienstleistungen umfassen, entsprechend den sich wandelnden Bedürfnissen der Gesellschaft, neben dem traditionellen Angebot von Druckerzeugnissen (Bücher, Zeitschriften, Zeitungen) auch audiovisuelle Informationsträger (Schallplatten, Kassetten, Videofilme; Musikbibliothek, Mediothek), Materialien und Geräte, Spiele und Reproduktionen von Kunstwerken (Arto-, Graphotheken) sowie computergestützte Produkte wie CD-ROM und den Zugang zu Datenbanken, dem Internet und anderen Speichermedien.
 
In der Bundesrepublik Deutschland gibt es im Unterschied zu den meisten europäischen Staaten kein einheitliches Bibliotheksgesetz (Kulturhoheit der Länder, Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung). Die öffentlichen Bibliotheken gehören nicht zu den kommunalen Pflichtaufgaben. Allgemein gewähren die Länder den Büchereiträgern nur relativ geringe Zuschüsse. Staatliche Büchereistellen (Beratungs-, Fachstellen) unterstützen vornehmlich die Entwicklung des ländlichen Büchereiwesens. Die Deutsche Bibliotheksstatistik zählt für 1996 insgesamt 12 727 öffentliche Bibliotheken (darunter 5 265 kirchliche Bibliotheken), der größte Teil wird ohne hauptamtliches Personal geführt. Auf dem Gebiet der DDR gab es zuletzt (1989) ein flächendeckendes Netz von 16 850 öffentlichen Bibliotheken (ebenfalls überwiegend ohne hauptamtliche Kräfte). Eine länderübergreifende Planung für ein flächendeckendes Büchereiwesen in der gesamten Bundesrepublik Deutschland steht noch aus.
 
In den letzten Jahren ist die Entwicklung durch Ansätze zu gesetzlichen Regelungen auf Länderebene und verstärkte regionale und überregionale Kooperation (u. a. neugeordneter Leihverkehr der Bibliotheken untereinander, Einführung neuer einheitlicher Katalogisierungsregeln) gekennzeichnet. Verbundmaßnahmen wie der auswärtige Leih- und Informationsverkehr, die Pflege von Sondersammelgebieten (unterstützt durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und in Aufgabenteilung mit den wissenschaftlichen Bibliotheken) sowie der Einrichtung des Deutschen Bibliotheksinstituts in Berlin (und seiner Vorgängereinrichtung) und der »Einkaufszentrale für öffentliche Bibliotheken« in Reutlingen sind verwirklicht worden.
 
In den allen Büchereien weitgehend gemeinsamen betrieblichen (Lektoren als für bestimmte Fachgebiete zuständige Fachbibliothekare, Bibliotheksassistenten, technisches Personal) und methodischen Strukturen (Regelwerke zur Katalogisierung, kooperative Lektoratsarbeit, Fernleihe, technische Buchbearbeitung) wird zunehmend die elektronische Datenverarbeitung eingesetzt. Der Fortschritt bei den Informations- und Kommunikationstechnologien wirkt sich auch auf die Bestandsbeschaffung und -darbietung aus.
 
Literatur:
 
W. Hofmann: Buch u. Volk u. die volkstüml. Bücherei (1916);
 P. Ladewig: Katechismus der Bücherei (21922);
 E. Ackerknecht: Büchereifragen (21926);
 H. Hugelmann: Die Volksbücherei. Wesen, Aufgabe u. Organisation (1952);
 K.-W. Mirbt: Pioniere des öffentl. Bibliothekswesens (1969);
 F. Andrae: Volksbücherei u. Nationalsozialismus (1970);
 W. Thauer: Die Bücherhallenbewegung (1970);
 W. Thauer: Politik der Bücherei (1975);
 T. Süle: Bücherei u. Ideologie. Polit. Aspekte im »Richtungsstreit« dt. Volksbibliothekare 1910-1930 (1972);
 R. Engelsing: Der Bürger als Leser. Lesergesch. in Dtl. 1500-1850 (1974);
 L. Buzás: Dt. Bibliotheksgesch., 3 Bde. (1975-78);
 E. Marks: Die Entwicklung des Bibliothekswesens der DDR (Leipzig 21986);
 E. Boese: Das öffentl. Bibliothekswesen im Dritten Reich (1987);
 
Die Kinder- u. Jugendbibliothek, hg. v. der Kommission des Dt. Bibliotheksinstituts für Kinder- u. Jugendbibliotheken (1988);
 
Die ö. B., hg. vom Dt. Bibliotheksverband (1989);
 W. Thauer u. P. Vodosek: Gesch. der öffentl. Bücherei in Dtl. (21990);
 P.-H. Pieler: Anfänge der Hamburger Öffentlichen Bücherhallen u. ihre Entwicklung bis 1933 (1992);
 
Die Entwicklung des Bibliothekswesens in Dtl. 1945-1965, hg. v. P. Vodosek u. J.-L. Leonhard (1993);
 
Bibliotheken '93. Strukturen, Aufgaben, Positionen, hg. v. der Bundesvereinigung Dt. B.-Verbände (1994);
 
Kulturpolitik für die Öffentliche Bibliothek, bearb. v. J. Hausmann u. F. Kröger (1994);
 
Zur Gesch. der ö. B. in Österreich, hg. v. A. Pfoser u. P. Vodosek (Wien 1995).
 
Zeitschriften: Bibliothek

Universal-Lexikon. 2012.