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Schlangen
Schlangen
 
[althochdeutsch slango, zu slingan »hin und her ziehend schwingen«, »winden«, »flechten«], Serpẹntes, Unterordnung der Schuppenkriechtiere mit über 2 500 Arten weltweit in warmen und gemäßigten Gebieten. Der Körper ist lang gestreckt (etwa 15 cm bis 9 m lang) und schlank mit zahlreichen (bis zu 435) Wirbeln. Die Extremitäten sind zumeist vollständig zurückgebildet, nur ursprüngliche Arten weisen Reste des Beckengürtels auf (Riesenschlangen). Die Haut ist mit hornigen Schuppen oder Schilden bedeckt, die am Bauch zumeist als quer verlaufende Schienen ausgebildet sind. Das durchsichtige Unterlid ist fest mit dem rückgebildeten Oberlid verwachsen und bildet über dem Auge eine Kapsel (Brille). Die gesamte Oberhaut einschließlich der Brille wird periodisch gehäutet und in einem Stück abgestreift (Natternhemd; Häutung). Die Fortbewegung erfolgt üblicherweise durch Schlängeln, aber auch durch »Raupenkriechen«, »Ziehharmonikakriechen« oder Seitenwinden. Alle Schlangen leben von tierischer Kost, die nach dem Ergreifen mit den Zähnen sofort verschlungen oder zuvor durch Umschlingen (Ersticken) oder Giftbiss getötet wird; eine besondere Nahrungsspezialisierung zeigen die Eierschlangen. Die Elemente des Schädels sind zum Teil gegeneinander stark beweglich, was das Verschlingen auch größerer Beute ermöglicht; die Unterkieferäste sind durch Sehnen miteinander verbunden, die Zähne zumeist nach hinten gekrümmt. Etwa 17 % aller Arten sind Giftschlangen. Zur Einleitung des Giftes (Schlangengifte) in die Bisswunde sind spezielle Zähne ausgebildet: Bei Trugnattern sind die hinten im Kiefer stehenden Giftzähne mit einer Furche versehen (opistoglyph). Bei Giftnattern sitzen die Giftzähne vorn im Kiefer, und die Furche ist teilweise zu einem Injektionskanal geschlossen (proteroglyph). Die höchstentwickelten Giftschlangen sind Vipern und Grubenottern. Ihre langen, röhrenförmigen (solenoglyphe) Giftzähne sitzen vorn im Kiefer und können beim Beißen aufgerichtet werden. Die Fortpflanzung der Schlangen erfolgt durch Eier, bei einigen Arten (z. B. Vipern) schlüpfen die Jungen bereits im Mutterleib und werden lebend geboren (Ovoviviparie). Brutpflege durch Bewachen des Geleges kommt als Ausnahme bei Kobras, echtes Bebrüten der Gelege bei Pythonschlangen vor.
 
Fossil sind Schlangen seit der Unterkreide belegt. Sie lassen sich von den Echsen ableiten, besonders nah ist ihre Verwandtschaft zu den Waranen. Zu den Schlangen gehören u. a. die Familien Blindschlangen, Schlankblindschlangen und Erdschlangen, Schildschwänze, Rollschlangen, Riesenschlangen und Warzenschlangen, Nattern, Giftnattern, Seeschlangen und Vipern.
 
Aus der Haut einiger Schlangen, besonders der Python- und Warzenschlangen, wird Leder hergestellt, das zu Handtaschen, Damenschuhen und sogar Mänteln verarbeitet wird. Da die Bestände vieler Schlangen in den Herkunftsländern gefährdet sind, unterliegt die Einfuhr dieser Tiere und aus ihnen hergestellter Produkte Beschränkungen, die durch das Washingtoner Artenschutzübereinkommen und die Bundesartenschutz-VO geregelt werden.
 
Kulturgeschichte:
 
Schlangen finden sich in den Mythen, Sagen und Legenden der meisten Völker; sie können dämonische und Verderben bringende Züge tragen, in Verbindung mit Tod und Unterwelt erscheinen oder Leben, Heilung, Unsterblichkeit oder Weisheit symbolisieren. Dabei sind Schlange und Drache nicht immer zu trennen. Kultische Verehrung (Ophiolatrie, Schlangendienst) genießt die erdgebundene Schlange als Trägerin chthonischer Kräfte, mit Aufkommen von Himmels- und Lichtgöttern verstärken sich vielfach Negativaspekte der Schlange. Sie ist Hüterin von Haus und Tempel, Unterwelt, Orakelstätte sowie Seelentier (im Traum und im Tod verlässt die Seele als Schlange den Körper). Im alten Ägypten erscheint die Schlange als Schützerin von Toren und Heiligtümern. Schlangen wurden im Haus als Schutzgeister gehalten. Die ägyptische Medizin unterschied 20 Giftschlangen und entsprechende Maßnahmen. In Hermopolis wurden als Urmächte des Chaos vier Götterpaare verehrt, die Achtheit genannt, deren weibliche Teile als Schlangen auftraten (die männlichen als Frösche). Der Schöpfergott Atum von Heliopolis konnte Schlangengestalt haben. Auf einer Grabstele aus Abydos (um 2900 v. Chr.) erscheint die Schlange als Bildsymbol für den König, Stellvertreter des Falkengottes Horus auf Erden. Die Schlange Apophis ist der Hauptfeind des Sonnengottes Re und Gegner der Weltordnung. Die Uräusschlange an der Krone des Königs wurde als Auge des Sonnengottes angesehen; sie verkörperte ursprünglich wohl Uto, die Schlangengöttin von Buto. Diese nährte auch den Horusknaben. Im Buch »Amduat« vollzieht sich die allmähliche Verjüngung des Sonnengottes und der seligen Toten im Leib einer riesigen Schlange (Himmelsschlange). Das Symbol des Uroboros (die sich in den Schwanz beißende Schlange), ein Symbol der Ewigkeit, findet sich erstmals auf einem der vergoldeten Schreine Tut-ench-Amuns (um 1340 v. Chr.). Die Israeliten in Palästina betrachteten die Schlange als unheimliches, bedrohliches Tier. Die Schlange ist die Verführerin des ersten Menschenpaares (1. Mose 3), das Symbol böser Menschen (z. B. Psalm 140, 4), der Sünde (Jesus Sirach 21, 2) und des Satans (Offenbarung des Johannes 12, 9, wo der Drache vom Erzengel Michael bekämpft und mit der »alten Schlange« des Paradieses in Verbindung gebracht wird), aber auch der Klugheit (Matthäus 10, 16), weshalb später byzantinische und koptische Bischöfe zwei Schlangen an ihrem t-förmigen Stab trugen. Kultische Bedeutung (als Heilssymbol) hatte bei den Israeliten die nach der biblischen Erzählung von Mose errichtete Eherne Schlange. In dem bis ins 3. Jahrtausend v. Chr. zurückreichenden »Gilgamesch-Epos« Mesopotamiens raubt eine Schlange dem Helden das Lebenskraut. Die gehörnte Schlange ist Symbol des Heilgottes Ningizzida, der zugleich eine Unterweltgottheit ist. Im babylonischen Weltschöpfungsepos »Enuma Elisch« wird der schlangenartige Chaosdrache Tiamat von Marduk, dem Reichsgott von Babylon, besiegt. Als Marduks Symboltier wurde der Schlangendrache Muschchusch dargestellt. Schon in der Harappakultur Indiens ist ein Schlangenkult bezeugt. In der indischen Mythologie ist die Naga Schutzgeist, ein Schöpfungsmythos bringt die Schlange Vasuki mit der Entstehung der Welt zusammen (durch Quirlen des Milchsees mit dem Schlangenschwanz). Der Schlangendämon Shesha, Vishnus Begleiter und Sitz, auch Ananta (»endlos«) genannt, dargestellt als geschlossener Ring, ist Symbol der ewigen Wiederkehr. Der Kult seiner Schwester, der Schlangengöttin Manasa, ist heute besonders in Bengalen verbreitet, wo diese zum Schutz gegen Schlangenbisse angerufen wird. Die Schlange Kundalini gilt als Trägerin kosmischer Energie. Im alten China ist die Schlange ein mit der Erde und dem Wasser verbundenes Yin-Symbol. Innerhalb des chinesischen, türkischen und mongolischen Tierkreiszyklus ist die Schlange das sechste der zwölf Tierkreiszeichen. Für die minoische Kultur Kretas ist Schlangenkult bezeugt durch die Statuette einer Schlange bändigenden Priesterin (auch »Schlangengöttin« genannt); heilige Schlangen wurden im Kultbecken des Palastes von Knossos gehalten; die Schlange war der »Großen Göttin« zugeordnet. In der Mythologie des antiken Griechenland zeugte der Schlangenmensch Typhon mit dem Schlangenweib Echidna mehrere Ungeheuer, darunter die Hydra (die erst durch Herakles besiegte Lernäische Schlange) und die Chimaira (Chimäre). Perseus tötet Medusa, ein schlangenumzüngeltes, todbringendes Ungeheuer (Gorgo), dessen Haupt (das Gorgoneion) Athene erhält. Die Giganten wurden mit Schlangenschwanz dargestellt (Pergamonaltar). Apoll erschlug schon als Säugling die delphische Pythonschlange, die seine Mutter Leto verfolgte. Der Heilgott Asklepios, auch seine Gemahlin Hygieia werden häufig eine Schlange fütternd dargestellt (die, weil sie sich jährlich häutet, als Symbol der Lebenserneuerung gilt). Der Äskulapstab als Sinnbild des Heilberufes wird von einer Schlange umwunden dargestellt. Überall, wo die Römer später Heilbäder errichteten, brachten sie die Äskulapnatter mit (Äskulap). In vielen römischen Häusern wurden Schlangen als Symbol der Haus- und Familiengeister gehalten. Auf dem Kapitol wurden die Schlangen der Juno gefüttert. Ceres fuhr wie Demeter im Schlangenwagen. Von Minerva wurden in Lavinium schlangenumwundene Terrakottastatuetten des 4. Jahrhunderts v. Chr. gefunden. In der germanischen Mythologie umgibt die riesige, Verderben bringende Midgardschlange im Weltmeer die als Scheibe vorgestellte Erde (Midgard). Im alten Amerika wurden Schlangengottheiten mit Himmel, Regen, Blitz und Feuchtigkeit in Zusammenhang gebracht und zu deren kultischer Beschwörung Schlangen verwendet. Der Wodukult auf dem amerikanischen Kontinent hat seinen Ursprung in einem Schlangenkult Westafrikas (Schlangentempel von Ouidah), den die Sklaven nach Amerika mitbrachten.
 
Literatur:
 
Biologie:
 
E. A. Arnold u. J. A. Burton: Pareys Reptilien- u. Amphibienführer Europas (a. d. Engl., 21983);
 
Grzimeks Tierleben, hg. v. B. Grzimek, Bd. 6: Kriechtiere (Neuausg. Zürich 1984);
 Dieter Schmidt: S. Haltung, Pflege, Vermehrung, Arten (1995).
 Kulturgeschichte:
 
M. Lurker: Adler u. S. Tiersymbolik im Glauben u. Weltbild der Völker (1983);
 M. Lurker: Snakes, in: The encyclopedia of religion, hg. v. M. Eliade u. a., Bd. 13 (New York 1987);
 H. Egli: Das S.-Symbol. Gesch., Märchen, Mythos (Olten 21985);
 S. Schilling: Die S.-Frau. Über die matriarchale Symbolik weibl. Identität u. ihre Aufhebung in Mythologie, Märchen, Sage u. Lit. (21987);
 C. Paul-Stengel: S.-Spuren. Reptilien u. ihre Bedeutung in der Kulturgesch. (1996);
 A. M. Warburg: S.-Ritual. Ein Reisebericht (Neuausg. 1996).
 

Universal-Lexikon. 2012.