Mädchenbildung,
1) allgemein die quantitative und qualitative Beteiligung von Mädchen an den Einrichtungen des Schulsystems (bei Einschluss berufsqualifizierender Ausbildungs- und Studiengänge wird der Terminus Frauenbildung verwendet); 2) veraltetes, zum Teil bis ins 20. Jahrhundert hineinreichendes, auf Vorstellungen von der häuslichen Rolle der Frau und fast immer auch auf Überzeugungen von einer andersartigen und auf intellektuellem Gebiet minderen Befähigung der Frau beruhendes Konzept eines speziellen Bildungsweges für Mädchen; 3) ein an der Vorstellung qualitativer Eigenart des Weiblichen orientierter, neuartiger Diskussionsbereich innerhalb der Schulpädagogik sowie der Bildungsphilosophie, in dem in Kritik an der Koedukation als dominantem Organisationsprinzip von Schulunterricht die Frage eines spezifischen Zugangs zu Unterrichtsinhalten thematisiert und untersucht wird. - Die Geschichte der Mädchenbildung stellt sich als Abfolge struktureller Benachteiligung dar, zumal dann, wenn man die im jeweiligen Schulsystem verfolgten Ziele als von den Bedürfnissen männlich geprägter Herrschaftssysteme abhängig ansieht und zum Maßstab des Fortschritts macht.
In der Antike gab es nur vereinzelt ein öffentlich organisiertes Unterrichtswesen für Mädchen (z. B. in Sparta, v. a. Sport). Im Mittelalter beschränkte sich die schulmäßige Mädchenbildung auf einige Klosterschulen; Trägerinnen gelehrter Bildung waren Nonnen (Hrotsvith von Gandersheim, Hildegard von Bingen, Herrad von Hohenburg u. a.). Durchgängig wurde aber einer allgemeinen Bildung für Frauen keinerlei Wert beigemessen. Trotz der positiven Einstellung zur Mädchenbildung, wie sie bei Humanisten und Reformatoren (Erasmus von Rotterdam, M. Luther, Melanchthon, J. L. Vives) zum Ausdruck kam, trotz der Schul- und Visitationsordnungen des 16. Jahrhunderts und des Wirkens von J. A. Comenius, der Ursulinen und Englischen Fräulein im 17. Jahrhundert brachte erst die Schrift von F. Fénelon »L'éducation des filles« (1687) Verbesserungen: Für die Töchter des französischen Adels gründete Madame de Maintenon das Internat Saint-Cyr bei Versailles, A. H. Francke 1698 die erste höhere Mädchenschule (Gynaeceum) in Deutschland. Sie blieben in ihrem Anspruch bis ins 19. Jahrhundert hinein Ausnahmen; einzelne Mädchen wurden durch Privatunterricht weit gefördert (z. B. D. C. Erxleben, die die Anerkennung der gleichartigen Intelligenz der Frau forderte und 1741 ihre Zulassung zum Studium erreichte), in den höheren Töchterschulen wurden die Mädchen jedoch nur gezielt auf ihre spätere Hausfrauenrolle vorbereitet. Fürsprecher einer guten Mädchenbildung waren u. a. J. H. Campe, T. G. von Hippel oder auch J. H. Pestalozzi, aber erst im Zusammenhang mit der Frauenbewegung wurde nach 1870 das höhere Mädchenschulwesen in den deutschen Ländern stärker ausgebaut. Die preußische Reform von 1908 schuf das Lyzeum und beeinflusste damit die höheren Mädchenschulen der übrigen deutschen Länder; es umfasste (mit Vorklassen) zehn Jahre, darauf aufbauend gab es eine zweijährige Frauenschule sowie ein dreijähriges Lehrerinnenseminar (mit praktischem Jahr). Den Zugang zur Universität eröffneten die Studienanstalten, die von den höheren Mädchenschulen abzweigten. Seit 1923 führte in Preußen das Oberlyzeum in zwei Formen zur Hochschulreife. In den anderen deutschen Ländern gab es ebenfalls diese oder ähnliche Lyzeumstypen, die auch die Bezeichnungen Mädchengymnasium und Mädchenoberrealschule trugen. 1938 wurden diese verschiedenen Formen in Oberschulen für Mädchen mit einem hauswirtschaftlichen und einem sprachlichen Zweig umgewandelt. Nach 1945 gab es noch eine Zeit lang - neben den zur allgemeinen Hochschulreife führenden - verschiedenen Formen von höheren Mädchenschulen, deren Abschluss zum Studium an PH, Kunst- und Musikhochschulen berechtigte. Vom Volksschulwesen ausgehend, setzte sich im allgemeinen Schulwesen allmählich die Koedukation durch. Die Ausbildungswege der in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen, auf soziale Frauenberufe hin orientierten Frauenfachschulen wurden entsprechend der veränderten Rolle der Frau in den modernen Gesellschaften und unter dem Aspekt der Bildungsparität und Chancengleichheit in das System der berufsqualifizierenden Bildungswege einbezogen. An ihre Stelle sind die Fachhochschulen für Sozialarbeit und -pädagogik für die Ausbildung (Frauen und Männer) zum Erzieher, Sozialarbeiter und Sozialpädagogen, hauswirtschaftliche Schulen zum Hauswirtschafter, Hauswirtschaftsleiter oder Wirtschafter für den städtischen sowie ländlichen Bereich (landwirtschaftliches Bildungswesen) getreten. Für Österreich gilt Entsprechendes (mittlere Schulen sowie höhere Lehranstalten für wirtschaftliche Berufe). Die hauswirtschaftliche Form der Mädchenmittelschule wurde nach 1962 in das wirtschaftskundliche Realgymnasium umgewandelt. In der Schweiz erließ die Erziehungsdirektorenkonferenz 1972 erstmals »Grundsätze zur Mädchenbildung« und 1981 »Empfehlungen betreffend gleiche Ausbildungschancen für Mädchen und Knaben«. In der DDR bestanden aufgrund der verfassungsmäßigen Gleichberechtigung der Geschlechter grundsätzlich keine speziellen Ausbildungsgänge der Mädchenbildung.
Die tatsächliche Nutzung der formal gleichen Bildungschancen weist jedoch erhebliche Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen auf. Z. B. bei der Wahl der beruflichen Bildungswege zeigt sich deutlich der Einfluss tradierter Rollenvorstellungen und geschlechtsspezifische Erwartungshaltungen, wobei gesehen werden muss, dass in der Berufswelt die Anerkennung der Leistung von Frauen nicht ohne weiteres gegeben ist (Frauenarbeit) und dass dazu eine schulische Parallele besteht. Es wird heute als Problem der Koedukation gesehen, dass Jungen vielfach den Ton angeben und Mädchen ihre zweite Rolle nicht selten verinnerlichen und sich die Vorurteile zu Eigen machen.
L. Voss: Gesch. der höheren Mädchenschule (1952);
Berufsorientierung. Mädchen im Blickpunkt, hg. v. U. Wascher u. a. (1988);
M. Mitscherlich: Über die Mühsal der Emanzipation (Neuausg. 1994);
M. A. Kreienbaum: Erfahrungsfeld Schule. Koedukation als Kristallisationspunkt (21995).
Universal-Lexikon. 2012.