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Joan Baez
Joan Baez
 
Die heilige Johanna der Folkmusic
 
Joan Baez ist die bedeutendste Interpretin der amerikanischen Folkmusic. Die ehedem dunkelhaarige Schönheit mit der Wanderklampfe und der markanten Sopranstimme, die nicht nur Ernest Hemingway an die »Reinheit eines Gebirgsbachs« erinnerte, ist auch im fünften Jahrzehnt ihrer Karriere die weltweit bekannteste Vertreterin der reinen Lehre dieser Tradition. Bei einer kaum noch überschaubaren Menge von Alben und Greatest-Hits-Kompilationen hatte sie mit »The night they drove old Dixie down« ihren einzig nennenswerten Charterfolg. Dennoch verbindet eine breite Öffentlichkeit ihre charakteristische Stimme mit Standards wie »Amazing grace«, »We shall overcome«, »Farewell Angelina«, »Where have all the flowers gone« oder »Joe Hill«. Joan Baez begann als Interpretin traditioneller Balladen wie »House of the rising sun« und »Banks of the Ohio«. Obwohl sich ihr musikalisches Spektrum im Laufe der Zeit enorm erweitert hat und mittlerweile alle nur erdenklichen Facetten aktueller europäischer wie nord- und südamerikanischer Folklore umfasst, finden Songs, die teilweise über hundert Jahre alt sind, auch heute noch den gebührenden Platz im Repertoire ihrer Konzerte.
 
Politisiert wurde Baez, die schon als Teenager unter dem Einfluss der Lehren Mahatma Gandhis und Martin Luther Kings zur überzeugten Pazifistin geworden war, nicht erst durch Bob Dylan. Durch die Beziehung zu ihm, die zeitweise mehr als platonische Freundschaft war, gelangte sie jedoch zu der Erkenntnis, dass der Protest gegen aktuelle Missstände in selbst verfassten Songs eine enorme politische Breitenwirkung entfalten kann. Anders als Dylan verweigerte sie sich ein Leben lang den Vermarktungsmechanismen der Unterhaltungsindustrie und empfand sich selbst als Streiterin gegen Krieg und Unterdrückung, für die das Singen nur eine der Möglichkeiten im Kampf um eine gerechtere Welt war. Sie war phasenweise derart ausgefüllt durch politische Aktivitäten wie die Leitung des von ihr gegründeten »Instituts zur Erforschung der Gewaltlosigkeit«, dass sie ihre Karriere als Sängerin vernachlässigte. Seit einigen Jahren jedoch scheint Joan Baez ihre künstlerischen Ambitionen wieder in den Vordergrund zu stellen. Sie unternimmt wie früher ausgedehnte Tourneen, und nach den in den 90er-Jahren erschienenen Tonträgern zu urteilen, scheint sie dabei so kraftvoll und beeindruckend zu sein wie eh und je.
 
 Rasanter Aufstieg
 
Joan Chandos Baez wurde am 9. Januar 1941 in Staten Island, New York, als mittlere der drei Töchter von Albert und Joan Bridge Baez geboren. Der Beruf ihres Vaters, der als wissenschaftlicher Berater unter anderem für Rüstungskonzerne tätig war, brachte häufige Ortswechsel mit sich. Sie lebte einige Zeit in der irakischen Hauptstadt Bagdad, bevor sie den größten Teil ihrer Schulzeit in Kalifornien verbrachte und sich 1958 an der Universität von Massachusetts in Boston einschrieb. Anfänglich von schwarzem Rhythm and Blues begeistert und zum Gitarrespielen animiert, kam sie hier schnell in Kontakt mit jungen Intellektuellen, die alles verdammten, was auch nur im Entferntesten an Kommerz erinnerte, und sich musikalisch an der Tradition der meist auch in der Bürgerrechtsbewegung engagierten Folksinger orientierten. Folk in Amerika ist bis heute kein homogener Stil, sondern ein Sammelbegriff für akustisch gespielte Musik, die so authentisch wie möglich das überlieferte Liedgut der einfachen Leute unterschiedlichster Herkunft pflegt und diese Tradition durch aktuelle Eigenkompositionen aufrechterhält. Gospel, Countryblues und Bluegrass gehören dazu ebenso wie schottische Balladen aus dem 17. Jahrhundert. Den stärksten Einfluss hatten jedoch die Songs von Pete Seeger und Woody Guthrie, die unmissverständlich systemkritisch das Elend der Unterprivilegierten und die Willkür der Staatsorgane im kapitalistischen Amerika anprangerten und sich dafür regelmäßig Ärger mit Senator Joe McCarthy und seinem Ausschuss für unamerikanische Umtriebe einhandelten.
 
Joan Baez hängte schon im ersten Jahr ihr Studium an den Nagel, stellte ein Repertoire meist sehr alter und relativ unpolitischer Traditionals zusammen und erspielte sich einen ausgezeichneten Ruf in den Folkklubs von New England. Ihr unangekündigter Auftritt beim Newport Folk Festival 1959 machte sie über Nacht überregional bekannt, ein Jahr später war sie schon die Hauptattraktion dieses bedeutendsten Festivals der Folkszene und wurde dadurch zur nationalen Berühmtheit. Albert Grossman, der später unter anderen Bob Dylan und Janis Joplin managte, wollte sie unter Vertrag nehmen und beim Branchenführer Columbia Record unterbringen, was daran scheiterte, dass Baez sich bei den Aufnahmen von der politisch »suspekten« Gruppe »The Weavers«, zu der auch Pete Seeger gehörte, begleiten lassen wollte. Sie verzichtete daraufhin auf die Dienste Grossmans und unterschrieb beim kleinen, aber in Folkkreisen renommierten Label Vanguard und erzielte mit ihrem schlicht »Joan Baez« benannten Debüt in England und Amerika Verkaufszahlen, die im Bereich der Folkmusic bisher als utopisch galten. Als diese mit den Nachfolgern »Volume 2« und »In concert« noch übertroffen wurden und ihr unergründliches Mona-Lisa-Lächeln 1962 das Titelbild des Magazins »Time« zierte, war die 21-jährige Baez ein internationaler Star und die unumstrittene Galionsfigur der zweiten Generation der Folkmusic.
 
 The King and the Queen of Folk
 
Den aufstrebenden Woody-Guthrie-Jünger Bob Dylan hatte Joan Baez schon 1961 kennen gelernt. Seine ausgesprochen gewöhnungsbedürftige Art der Intonation beeindruckte sie weitaus weniger als seine Fähigkeit, eigene Songs zu schreiben. Zwischen 1963 und 1965 waren die beiden ein Paar, und auch wenn Joan Baez' Rolle als Wegbereiterin der Karriere Dylans häufig übertrieben dargestellt wird, verschaffte die bereits etablierte »Queen of Folk« dem Newcomer durch gemeinsame Auftritte auch dann noch bereitwillig ein großes Publikum, als dieser ihr allmählich den Rang ablief. Baez, die mittlerweile zwar auf eine ganze Reihe ausgezeichneter Eigenkompositionen zurückblickte, sich mit dem Songschreiben aber immer schwer tat, übernahm nun zunehmend Stücke von zeitgenössischen Folk- und Protestsängern wie Dylan, Donovan und Phil Ochs und sang 1963 Pete Seegers Bürgerrechtshymne »We shall overcome« vor 250 000 Demonstranten des Civil Right Movement (der Bürgerrechtsbewegung), die auf dem Marsch nach Washington waren. 1964 forderte sie Präsident Johnson öffentlich dazu auf, den Vietnamkrieg zu beenden, und legte die Hälfte ihrer Steuern auf ein Sperrkonto, um sie nicht in den Rüstungsetat fließen zu lassen.
 
Im selben Jahr erschien mit »Joan Baez 5« ihr letztes rein akustisch eingespieltes Album, aber anders als Dylan, der 1965 die Folkgemeinde mit elektrisch verstärktem Rock schockte, ließ sie sich nun von Streichern und großen Orchestern begleiten und interpretierte neben Traditionals getragene, moderate Versionen bekannter Titel von Autoren wie Dylan (»It's all over now, baby blue«, »A hard rain's agonna fall«), Donovan (»Colours«), Lennon/McCartney (»Eleanor Rigby«) und Tim Hardin (»If I were a carpenter«) auf den Alben »Farewell Angelina« (1965), »Noel« (1966) und »Joan« (1967). Obwohl sich die Wege von Dylan und Baez 1965 musikalisch und privat getrennt hatten, blieben sie freundschaftlich verbunden. Erstaunlicherweise war es aber vornehmlich Joan Baez, die den verbalradikalen Pazifismus vieler Dylan-Texte in konkrete politische Aktionen umsetzte. 1965 gründete sie ihr »Institut zur Erforschung der Gewaltlosigkeit« und nahm in der Folgezeit an jeder bedeutenden Protestaktion gegen Rassentrennung, Vietnamkrieg und Todesstrafe teil. 1966 führte sie in Deutschland den Ostermarsch an, 1967 saß sie eine 45-tägige Haftstrafe wegen der Blockade einer Kaserne ab und 1968 heiratete sie den wegen Kriegsdienstverweigerung zu drei Jahren Gefängnis verurteilten Studentenführer David Harris. In puncto Musik war für sie 1968 ein Jahr des Umbruchs. Mit »Baptism« erschien ein ambitioniertes, aber gründlich missglücktes Album, das hauptsächlich aus Gedichtrezitationen mit Orchesterbegleitung bestand.
 
 Die 1970er-Jahre: Auch Country ist Folklore
 
Nach dem vorhersehbaren kommerziellen Misserfolg orientierte sich Joan Baez ein weiteres Mal an Bob Dylan, diesmal allerdings reichlich radikal. Sie folgte ihm, der gerade seine Liebe zur konservativen Countrymusic entdeckt hatte, in die Studios von Nashville und nahm ihre nächsten vier LPs mit den exzellenten, aber für ihre konservative Gesinnung berüchtigten Studiomusikern der so genannten »Nashville Mafia« auf. Trotz anfänglich frostiger Stimmung im Studio entstanden dabei einige der gelungensten Werke ihrer Karriere. »Any day now« (1968) war eine Doppel-LP, die ausschließlich Dylan-Kompositionen enthielt und manchen seiner spröden Songs eine neue Dimension verlieh. Ähnlich wie die Byrds, die mit ihren kongenialen Interpretationen die Chartstauglichkeit von Dylan-Songs bewiesen hatten, lieferte Joan Baez hier ein Album ab, das den Countryambitionen des Meisters auf »Nashville Skyline« mindestens ebenbürtig war. »David's album« (1969) bestand hauptsächlich aus Countrystandards der Vorkriegszeit, und Baez schreckte auch vor einer - allerdings angenehm unpathetischen - Version der durch Tom Jones berüchtigten Schnulze »Green, green grass of home« nicht zurück. Auf »One day at a time« (1970) findet sich neben der Jagger/Richards-Komposition »No expectations« auch die Ballade über den Märtyrer der Arbeiterbewegung, »Joe Hill«. Zusammen mit dem Spottlied auf Ronald Reagan »Drug store truck drivin' man« wurde dies der wohl am weitesten verbreitete Song von Joan Baez, nachdem die beiden Titel ausgewählt wurden, um ihren Auftritt beim legendären Woodstock-Festival auf dem dabei entstandenen Dreifachalbum zu dokumentieren. 1971 hatte sie mit »The night they drove old Dixie down« aus der Feder von Robbie Robertson, dem Chef von Dylans ehemaliger Begleitgruppe »The Band«, ihren einzigen großen Singlehit. Das dazugehörige Album »Blessed are« war eine gelungene Mischung aus Folk, Rock und Country und bot neben Titeln von Kris Kristofferson und den Beatles eine überraschende Anzahl gelungener Eigenkompositionen.
 
Nach ihrem größten kommerziellen Erfolg wechselte Baez zur Plattenfirma A & M, woraufhin Vanguard den Markt jahrelang mit einer Fülle von Wiederveröffentlichungen und Kompilationen überschwemmte. »Come from the shadows«, ihr Debüt für A & M, das neben eigenen, neuen Songs Stücke von Leonard Cohen und John Lennons »Imagine« enthielt, ging jedoch trotz unbestreitbarer Qualitäten fast unbemerkt unter, weil sie keine Zeit für Promotion fand. Nachdem sie sich kurz nach seiner Haftentlassung (1971) von David Harris hatte scheiden lassen, wirkte sie an den Soundtracks zu den Filmen »Sacco and Vanzetti« (1971), »Carry it on« (1972) und »Silent running« (1974) mit, organisierte Antikriegsdemonstrationen, war als Repräsentantin von Amnesty International unterwegs und verbrachte etwa Weihnachten 1972 demonstrativ in einem Luftschutzkeller in Hanoi, wo sie hautnah ein Flächenbombardement der U. S. Air Force miterlebte. Die folgenden beiden Platten machten ihr neues Label auch nicht glücklicher oder reicher. »Where are you now, my son« war ein düsteres Werk, dessen zweite Seite aus Dokumentaraufnahmen aus dem Hanoier Bunker bestand, »Gracias a la vida« (1974) war dagegen zwar ein beschwingtes Album mit lateinamerikanischen Einflüssen, die allerdings so weit gingen, dass Joan Baez hier ausschließlich Spanisch sang. Seit ihrem Wechsel zu A & M arbeitete Joan Baez in Los Angeles mit einigen der renommiertesten Studiomusiker Amerikas zusammen, darunter mit Tom Scott, Larry Carlton, Jim Gordon und Larry Knechtel. Auch wenn bei den Aufnahmen nicht gerade Rock 'n' Roll entstand, hatte die erwachsene Joan Baez, abgesehen von der beeindruckenden Stimme, kaum noch etwas von dem ernsten, fast schüchternen Mädchen, das einst »Black is the colour of my true love's hair« gesungen hatte. Mit »Diamonds and rust« gelang ihr 1975 ein kommerziell erfolgreiches Album, das, ohne sich anzubiedern, dem Zeitgeist Tribut zollte und auch heute noch erstaunlich modern klingt. Welch hervorragende Songschreiberin sie inzwischen geworden war, bewies sie im Titelstück, in dem sie leicht ironisch, aber ohne Bitternis mit Bob Dylan abrechnet. »Gulf winds«, ihr letztes Album für A & M, bestand erstmals ausschließlich aus eigenen Stücken und war keinen Deut schlechter als der Vorgänger. Allerdings verkaufte es sich schlecht, und nach ihrem Wechsel zu Portrait Record nahm Joan Baez zwei reichlich belanglose Alben auf, auf denen sie sich an glattem Pop wie »Let your love flow« (Bellamy Brothers) ebenso versuchte wie an Bob Marleys »No woman, no cry«. Größeres Aufsehen erregte ihre Mitwirkung an Bob Dylans »Rolling Thunder«-Tournee und dem daraus entstandenen Film »Renaldo and Clara« (1978), der dokumentiert, dass die beiden sich privat wieder recht nahe gekommen waren.
 
 Politische Aktivitäten
 
Dass sie auf dem linken Auge nicht blind war, bewies Baez 1979, als sie sich wieder in Vietnam einmischte, diesmal aber die Menschenrechtsverletzungen des mittlerweile dort herrschenden kommunistischen Regimes anprangerte. Im selben Jahr gründete sie die Menschenrechtsorganisation »Humanitas«, die sie die nächsten 13 Jahre leitete. Baez war in den 1980er-Jahren hauptsächlich damit beschäftigt, sich um Kriegsopfer in Kambodscha, Nicaragua und anderen Krisenherden in der Welt zu kümmern und durch Konzerte Geld für ihre Hilfsaktionen aufzutreiben. Darüber hinaus war sie weiterhin für Amnesty International aktiv und engagierte sich für die Aidshilfe. Die Unterstützung lateinamerikanischer Regimegegner trug ihr Auftrittsverbote in Chile, Argentinien und Brasilien ein. Ihre weltweiten Aktivitäten ließen ihr kaum noch Zeit für aufwendige Studioproduktionen, sodass sich ihre Veröffentlichungen lange Zeit auf Livemitschnitte beschränkten wie die LP »Europa Tournee« (1980), auf der sie erstmals in deutscher Sprache singt und Bettina Wegners »Sind so kleine Hände« zum Besten gibt. Härtere Töne schlug Baez erst 1987 wieder an mit dem Studioalbum »Recently«, auf dem sie »Brothers in arms« von den Dire Straits und Peter Gabriels bittere Antiapartheidballade »Biko« interpretierte. 1989 folgte mit »Speaking of dreams« ein von Paul Simon produziertes Album, das europäische, amerikanische und afrikanische Elemente zu einer gelungenen Variante der »Weltmusik« fusionierte. Ihre Alben der 1990er-Jahre, »Play me backwards«, »Ring them bells« und »Gone from danger« zeichnen sich aus durch die Rückkehr zu ihren Wurzeln, ohne dabei in folkloristische Nostalgie zu verfallen. Joan Baez arbeitet inzwischen mit einer eigenen Band und vermeidet nun die früher üblichen wechselnden Besetzungen, die, zumindest im Studio, zu äußerst uneinheitlichen Ergebnissen geführt hatten. Ihr Repertoire besteht heute wieder hauptsächlich aus angloamerikanischem Folk mit Rockeinflüssen. Neben hervorragenden Eigenkompositionen interpretiert sie nun häufig Stücke von jungen, meist nur in Folkkreisen bekannten Künstlern wie Dar Williams und Sinead Lohan, ohne dabei uralte Traditionals oder Klassiker wie Dylans »Don't think twice« und Cohens »Suzanne« zu vernachlässigen. Auch wenn Joan Baez im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit eine Art Ikone der 60er-Jahre ist und heute nur noch für ein Nischenpublikum singt, zur Ruhe gesetzt hat sich die Künstlerin, die 2001 ihren 60. Geburtstag feierte, noch lange nicht.

Universal-Lexikon. 2012.