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Rilke
Rịlke,
 
Rainer Maria, eigentlich René M. Rilke, österreichischer Schriftsteller, * Prag 4. 12. 1875, ✝ Val-Mont (heute zu Montreux) 29. 12. 1926. Rilkes Vater, ehemaliger Unteroffizier, war Eisenbahnbeamter, die Mutter stammte aus großbürgerlicher Kaufmannsfamilie. Die Eltern trennten sich 1886; Rilke wurde auf den Militärrealschulen Sankt Pölten und Mährisch-Weißkirchen auf die Offizierslaufbahn vorbereitet, musste jedoch aus Gesundheitsgründen 1891 entlassen werden. Er besuchte die Handelsakademie in Linz und erhielt schließlich Privatunterricht bis zum Abitur. In Prag, München und Berlin studierte er Philosophie, Kunst und Literatur. 1897 traf er Lou Andreas-Salomé, mit der er 1899 und 1900 ihre Heimat Russland besuchte. Diese Reisen, deren dichterische Ergebnisse »Das Stunden-Buch« (1905) und die Sammlung »Vom lieben Gott und Anderes« (1900, 1904 unter dem Titel »Geschichten vom lieben Gott«) waren, v. a. die Begegnung mit L. N. Tolstoj, erwiesen sich als nachhaltigste Erlebnisse in Rilkes Frühzeit. Die Beziehung zu Lou Andreas-Salomé hielt lebenslang an; 1899 entstand in ihrer Nähe sein später bekanntestes Werk, »Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke« (1906).
 
Im Jahre 1900 erhielt Rilke eine Einladung des Malers H. Vogeler nach Worpswede. Hier lernte er u. a. Paula Modersohn-Becker und die Bildhauerin Clara Westhoff kennen. Rilke und Clara Westhoff heirateten im April 1901, im Dezember des gleichen Jahres wurde ihre Tochter Ruth geboren; bereits 1902 löste Rilke den gemeinsamen Haushalt auf. Ein Prosaband »Die Letzten« (1902), eine neue Sammlung von Gedichten »Das Buch der Bilder« (1902, erweitert 1906) sowie »Worpswede« (1903), die »Monographie einer Landschaft und ihrer Maler«, sind die schriftstellerischen Erträge dieser Zeit. Rilke siedelte nach Paris über, wo er, von seinen zahlreichen Reisen abgesehen, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs lebte. Er arbeitete zeitweise als Sekretär bei A. Rodin. Nach dem Bruch mit diesem wurde Rilke v. a. von Mäzenen wie H. Graf Kessler, dem Verleger A. Kippenberg sowie Sidonie Nádherny von Borutin unterstützt. In diesen Jahren wurde das »Stunden-Buch« vollendet, entstanden eine Auftragsarbeit, die Monographie »Auguste Rodin« (1903), v. a. aber Rilkes einziger Roman, »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« (2 Bände, 1910), zugleich weitere Lyrikbände (»Neue Gedichte«, 1907; »Der neuen Gedichte anderer Teil«, 1908). Einziges größeres Werk dieser Zeit ist »Das Marienleben« (1913, vertont von P. Hindemith 1922/23). Seit 1911-12 konzipierte er die »Duineser Elegien«, sein bedeutendstes Spätwerk, in einer Zeit, als er auf dem Adriaschloss Duino der Fürstin Marie von Thurn und Taxis (* 1855, ✝ 1934) lebte.
 
In der Periode bis 1922, die Rilke selbst als Schaffenskrise empfand, entstanden gut die Hälfte der »Elegien« und viele Gedichte in neuem Ton (dem »Spätstil«), dazu eine Vielzahl von Entwürfen. Ein erheblicher Teil seiner Produktivität dieser Zeit ist in das Briefwerk eingegangen (rund 10 000 Briefe). Den Krieg erlebte Rilke v. a. in München; 1915-16 musste er für ein halbes Jahr in Wien Kriegsdienst leisten. 1919 siedelte er in die Schweiz über, wo er, nach verschiedenen Stationen und Einladungen, 1921 den »Turm« von Muzot bei Siders bezog, den ihm ein Freund zur Verfügung stellte. Innerhalb kurzer Zeit schrieb er hier »Die Sonette an Orpheus« (1923) und vollendete die »Duineser Elegien« (1923). Daneben entstanden kongeniale Übersetzungen (u. a. P. Valéry, A. Gide, M. de Guérin, Elizabeth Browning) sowie zahlreiche Gedichte in französischer Sprache. Die letzten Lebensjahre Rilkes waren von Krankheit überschattet, er starb in einem Sanatorium an Leukämie und wurde, seinem Testament gemäß, an der Bergkirche von Raron (Kanton Wallis) bestattet.
 
Rilkes Jugendlyrik, seine frühen Dramen und Prosaskizzen bewegen sich noch unentschieden zwischen Naturalismus, Jugendstil und Neuromantik. Erst der Gedichtband »Mir zur Feier« (1899, 1909 unter dem Titel »Die frühen Gedichte«) bedeutet einen Stilwandel: Das »Ich« tritt allmählich zurück, abstrakte Wendungen werden häufiger. Die Worpsweder und endgültig die Pariser Zeit festigen diese Entwicklung zur Eigenständigkeit und poetischen Integrität. Ein nuancenreicher, plastischer, malerisch-intensiver Stil prägt jetzt zunehmend die Lyrik Rilkes, die nun weniger Stimmungen und Gefühle, sondern Erfahrungen, Erlebnisse von Daseinsformen und Dingen (Dinggedicht) in Sprache umsetzt. Einen dichterischen Höhepunkt stellen dabei die beiden Bände der »Neuen Gedichte« dar. Zur Reife gelangt ist hier Rilkes Ästhetik der wechselseitigen Durchdringung von Außen- und Innenwelt, seine Überzeugung, alle Dinge, auch die geringsten, seien gleichermaßen Kundgaben des Lebens. Die Suche nach Identität mündet in die Hoffnung, dass künstlerische Form zugleich Sinnstruktur ist, die dem Leben individuellen Halt und eine gestalthafte Ordnung geben kann. So erscheint Kunst als Rettung und Bewahrung der vergänglichen Welt, als Form des Widerstands gegen die Zeitlichkeit der Dinge. Das Bewahren durch Verwandlung ist ein zentrales Motiv auch in den »Duineser Elegien«. Der Zyklus, dessen elegische Distichen von Klopstock, Hölderlin und Goethe inspiriert sind, erhält seinen Rang durch die kunstvolle Struktur, durch das beziehungsreiche Neben- und Gegeneinander der Motive Vergänglichkeit, Verzweiflung, Schmerz, Tod, aber auch Liebe und Rettung, ein poetisches Universum, dessen zentrales Symbol die »Engel« sind. Das letzte umfassend konzipierte lyrische Werk, »Die Sonette an Orpheus«, vereint die Klage um die Welt und ihren Lobpreis durch den Dichter, verkündet hymnisch bewegt, aber gebändigt durch die Strenge des Sonetts, die mystische Einheit von Leben und Tod. Rilkes weit greifende Deutungsversuche menschlicher Existenz können als poetisches Pendant der zeitgenössischen Neubestimmung der philosophischen Kategorien in der Kierkegaard-Nachfolge gelten.
 
Weitere Werke: Gedichte: Larenopfer (1896); Traumgekrönt (1897); Advent (1898); Vergers suivi des Quatrains Valaisans (1926); Les fenêtres (herausgegeben 1927); Les roses (herausgegeben 1927).
 
Prosa: Am Leben hin (1898).
 
Ausgaben: Gesammelte Briefe, herausgegeben von R. Sieber-Rilke u. a., 6 Bände (1936-39); Briefe an Sidonie Nádherný von Borutin, herausgegeben von B. Blume (1973); R. M. Rilke und L. Andreas-Salomé. Briefwechsel, herausgegeben von E. Pfeiffer (1975); Übertragungen, herausgegeben von E. Zinn u. a. (1975); Werke in 3 Bänden, herausgegeben von H. Nalewski (1978); Die Gedichte (1986); Sämtliche Werke, herausgegeben vom Rilke-Archiv, 7 Bände (Neuausgabe 1-51995-97); R. M. Rilke und Ellen Key. Briefwechsel, herausgegeben von T. Fiedler (1993); Briefwechsel mit Anton Kippenberg 1906-1926, herausgegeben von I. Schnack und R. Scharffenberg, 2 Bände (1995).
 
Literatur:
 
Blätter der R.-Gesellschaft (Bern 1972 ff.; mit Bibliogr., 1975 ff.);
 
R. M. R. 1875-1975, hg. v. J. W. Storck, Ausst.-Kat. (1975);
 J. R. von Salis: R. M. R.s Schweizer Jahre (Neuausg. 1975);
 A. Stahl: R.-Komm. zum lyr. Werk, 2 Bde. (1978-79);
 A. Stahl: R.-Komm. zu den »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«, zur erzähler. Prosa, zu den essayist. Schriften u. zum dramat. Werk (1979);
 D. A. Prater: Ein klingendes Glas. Das Leben R. M. R.s (a. d. Engl., Neuausg. 1989);
 
R. Leben, Werk u. Zeit in Texten u. Bildern, hg. v. H. Nalewski (1992);
 L. Andreas-Salomé: R. M. R. (Neuausg. 21993);
 H. E. Holthusen: R. M. R. (172.-174. Tsd. 1996);
 W. Leppmann: R., sein Leben, seine Welt, sein Werk (Neuausg. 1996);
 
R. M. R. 1926 bis 1996, hg. v. V. Hauschild (1996);
 E. Lazarraga: Das Leben ist eine Herrlichkeit. R. M. R. im Spiegel seiner Lebensbejahung u. seines Humors (1996);
 I. Schnack: R. M. R. Chronik seines Lebens u. seines Werkes (21996).

Universal-Lexikon. 2012.