orthodọxe Kirche,
die Gemeinschaft der historisch weitgehend aus der östlichen Hälfte der nachkonstantinischen Reichskirche hervorgegangenen Kirchen, deren gemeinsame Lehrgrundlage (zusammen mit der katholischen Kirche, aber im Unterschied zu den orientalischen Nationalkirchen) v. a. die Beschlüsse der Konzile von Nicäa (325), Ephesos (431) und Chalkedon (451) bilden. Theologisch (nicht organisatorisch) versteht sich die orthodoxe Kirche als eine (unteilbare) Kirche, wofür ihre Selbstbezeichnung als die »eine, heilige, katholische und apostolische Kirche Christi des wahren (orthodoxen) Glaubensbekenntnisses« und die gleiche liturgische und spirituelle Tradition Ausdruck sind.
Struktur und Bestand
Die orthodoxe Kirche zählt heute (2001) nach Schätzungen und Eigenangaben weltweit etwa 150-170 Mio. Gläubige. Die größte orthodoxe Landeskirche ist die russisch-orthodoxe Kirche, der nominell bis zu 100 Mio. Gläubige zugerechnet werden (realistisch jedoch wohl maximal 60 Mio. orthodoxe Christen in Russland). Von den über 1,1 Mio. orthodoxen Christen in Deutschland gehören rd. 960 000 der orthodoxen Kirche, die übrigen verschiedenen orientalischen Nationalkirchen an. Die organisatorische Struktur der orthodoxen Kirche kann mit einem dezentralisierten »System« verglichen werden, innerhalb dessen alle autokephalen orthodoxen (Landes-)Kirchen (Autokephalie) gleichberechtigte Glieder der einen orthodoxen Kirche bilden und der gleichen liturgischen, theologischen und spirituellen Tradition verbunden sind. Gegenwärtig bestehen 14 autokephale orthodoxe Kirchen; die der »Orthodoxen Kirche in Amerika« von ihrer Mutterkirche, dem Moskauer Patriarchat, 1970 verliehene Autokephalie fand gesamtorthodox bislang keine Anerkennung. Den kirchenrechtlichen Status autonomer Kirchen, die in Fragen ihrer inneren Verwaltung selbstständig, kanonisch jedoch einer autokephalen (Mutter-)Kirche verbunden sind, besitzen die unter der übergeordneten Jurisdiktion des Ökumenischen Patriarchen stehende »Estnische Orthodoxe Kirche« und »Finnische Orthodoxe Kirche« und die dem Moskauer Patriarchat in kanonische Gemeinschaft verbundene »Ukrainische Orthodoxe Kirche«, »Weißrussische Orthodoxe Kirche«, »Orthodoxe Kirche in Moldawien« sowie die »Japanische Orthodoxe Kirche«, deren Autonomie allerdings vom Ökumenischen Patriarchat nicht anerkannt wird. Daneben bestehen mehrere orthodoxe Kirchen, die sich von ihren Mutterkirchen getrennt und eine De-facto-Selbstständigkeit erlangt haben. Diese ist innerhalb der orthodoxen Kirche umstritten, sie gelten kirchenrechtlich als Kirchen mit irregulärem Status. Zu ihnen zählen die russisch-orthodoxe Auslandskirche, die »Makedonische Orthodoxe Kirche«, die »Ukrainische Orthodoxe Kirche - Patriarchat Kiew« (ukrainische Kirchen).
Nach dem der ganzen orthodoxen Kirche gemeinsamen Kirchenrecht ist ihre Verfassung synodal-kollegial, d. h. keinem Glied der orthodoxen Kirche wird gegenüber anderen eine überragende Stellung eingeräumt. Die höchste Instanz ist die Ökumenische Synode; sie allein kann Fragen von gesamtorthodoxer Bedeutung entscheiden. Ihr entsprechen auf lokaler oder regionaler Ebene die Synoden der einzelnen orthodoxen (Landes-)Kirchen, die von den entsprechenden Bischofskollegien gebildet werden, in der Regel mit Vertretern des Klerus, der Klöster und der Laien. Unter ihrer Oberaufsicht leitet jeder Bischof selbstständig seine Diözese (Eparchie). Den Leitern der einzelnen autokephalen Kirchen (Patriarchen, Metropoliten oder Erzbischöfen) kommt innerhalb der Landessynode nur ein Ehrenvorsitz ohne zusätzliche Jurisdiktionsgewalt (»Primus inter Pares«) zu. Der (nach heutigem Recht unverheiratete und in der Regel dem Mönchtum entstammende) Bischof wird in seiner Amtsführung von den in seinem Auftrag handelnden Presbytern (Priestern) als den Vorstehern der einzelnen Gemeinden und den Diakonen unterstützt, die beide durch die Weihe in ihr Amt eingesetzt werden und meist verheiratet sind. Laien wirken in der Lehre, dem liturgischen Leben und der allgemeinen und finanziellen Verwaltung der orthodoxen Kirche mit (zum Teil sogar an der Bischofs- und Patriarchenwahl). Da alle Getauften als gleichwertige Glieder der orthodoxen Kirche gelten, wird die Aufgliederung in Kleriker und Laien nicht als wesensmäßig, sondern nur als funktionell verstanden.
Die orthodoxe Kirche begründet ihre Überzeugung von der durch sie gelebten Orthodoxie (als rechter Lehre und rechtem Lobpreis Gottes) mit der Bewahrung des urchristlichen Erbes in Glaube und Leben und ihrer Rolle als Repräsentantin der unverfälschten Überlieferung der apostolischen Kirche. Die meisten Differenzpunkte der orthodoxen Kirche gegenüber den westlichen Kirchen - etwa im Hinblick auf die Kirchenstruktur (Ablehnung des päpstlichen Primates), die Rolle der Sakramente, die Gnadenvermittlung (abendländische Rechtfertigungslehre) - sind aus Sicht der orthodoxen Kirche auf dieses unterschiedliche Traditionsverständnis zurückzuführen. Tradition wird dabei nicht als statisches System von Lehrsätzen oder als rechtsverbindliche Institution verstanden, sondern als »Leben mit Christus«: Die orthodoxe Kirche sieht sich nicht primär als belehrende, sondern als Gott preisende, betende Gemeinschaft; sie betont die Erfahrung der Anwesenheit Gottes in der Geschichte und den Erfahrungscharakter ihrer Theologie und die zentrale Stellung des Gottesdienstes. In der alle Sinne des Menschen ansprechenden Feier der »Göttlichen Liturgie« ereignet sich nach orthodoxem Verständnis »Kirche« im eigentlichen Sinn, indem die Trennung zwischen irdischer und himmlischer Kirche während dieser Zeit aufgehoben ist und sich beide begegnen. Zentralthemen des orthodoxen Glaubens sind das Wirken des Heiligen Geistes in der Kirche und der Welt, das Gottwerden des Menschen (Theosis) und die Verklärung der Welt (Metamorphosis): Durch die Gnade Gottes sei der ganze Kosmos berufen, mit Gott vereinigt zu werden.
Nach dem Ausscheiden der orientalischen Nationalkirchen aus der gesamtkirchlichen Einheit im 5./6. Jahrhundert und dem Vordringen des Islam lag das Schwergewicht der orthodoxen Kirche eine Zeit lang eindeutig in Konstantinopel, der Hauptstadt des Byzantinischen Reiches und dem Sitz des Ökumenischen Patriarchen. Ende des 10. Jahrhunderts bildeten sich neben den vier altkirchlichen Patriarchaten (Konstantinopel, Alexandria, Antiochia, Jerusalem) neue autokephale Landeskirchen auf dem Balkan und große Gemeinden in Osteuropa, v. a. in der Kiewer Metropolie. Die führende Stellung des Ökumenischen Patriarchates in der orthodoxen Kirche blieb jedoch bis zum endgültigen Untergang des Byzantinischen Reiches unberührt und wurde noch deutlicher, als es 1054 (Morgenländisches Schisma) zum bis heute dauernden Bruch zwischen der abendländischen Kirche und der orthodoxen Kirche kam. Endgültig zerstört wurde das frühere Bewusstsein der Gemeinsamkeit durch die Übergriffe der »Lateiner« während der Kreuzzüge (Besetzung Konstantinopels 1204) und die missglückten Versuche, der orthodoxen Kirche in politisch heikler Lage eine Unterstellung unter den Papst abzunötigen (2. Konzil von Lyon; Unionskonzil Ferrara-Florenz-Rom). Einzelne Teilunionen mit Rom wirkten sich zusätzlich belastend auf die Beziehungen aus (Unionsbestrebungen; Brester Union; griechisch-katholische Kirche). - Nach dem Fall Konstantinopels 1453, als die altkirchlichen Patriarchate und die Kirchen auf dem Balkan unter der osmanischen Herrschaft standen, gewann die inzwischen autokephale orthodoxe Kirche von Russland (russisch-orthodoxe Kirche) in der Gesamtorthodoxie, v. a. auch im Hinblick auf die Glaubensverbreitung, an Bedeutung. Viele der heutigen orthodoxen Landeskirchen sind aus dieser russischen Missionsarbeit erwachsen. Im 19. und 20. Jahrhundert kam es mit dem Zerfall des Osmanischen, später des Russischen Reiches und des Habsburgerreiches auf dem Balkan und in Ostmitteleuropa zur Gründung von orthodoxen Landeskirchen in den neu entstandenen Nationalstaaten (so in Serbien, Bulgarien, Rumänien, Polen, der Tschechoslowakei, Finnland), die allerdings nach der Errichtung kommunistischer Staats- und Gesellschaftssysteme in den meisten dieser (traditionell orthodoxen) Länder Europas (zuerst nach 1917 in Russland) dort über Jahrzehnte dem Druck des Staatsatheismus und (v. a. in der Anfangszeit der kommunistischen Herrschaft) zum Teil blutigen Verfolgungen ausgesetzt waren. Der dadurch bewirkten Emigration, aber auch der Arbeitsmigration im 20. Jahrhundert ist es zuzuschreiben, dass heute weltweit orthodoxe Bistümer und Gemeinden bestehen. Schwerpunkte der orthodoxen Diaspora bilden Amerika, Westeuropa und Australien; in Afrika und Asien wird eine intensive Missionsarbeit betrieben. Die vor dem Hintergrund dieser Situation notwendige Neuordnung der Diaspora auf der Grundlage des orthodoxen Prinzips, dass in einem Land jeweils nur eine, einheitliche orthodoxe Kirche bestehen solle, wird ein wichtiger Gegenstand des orthodoxen Gesamtkonzils sein, das gegenwärtig auf panorthischer Ebene vorbereitet wird (Konzil). Der Dialog mit anderen christlichen Kirchen wird in Form bilateraler (theologischer) Gespräche zwischen einzelnen Kirchen, aber auch auf panorthischer Ebene und im Rahmen der ökumenischen Bewegung gepflegt, in der trotz verstärkter Vorbehalte in jüngster Zeit (besonders innerhalb der russisch-orthodoxen und serbisch-orthodoxen Kirche) fast alle orthodoxen Kirchen mitarbeiten.
S. Zankow: Das orth. Christentum des Ostens (1928);
P. Bratsiotis: Von der griech. Orthodoxie (1966);
H.-G. Beck: Kirche u. theolog. Lit. im byzantin. Reich (21977);
N. Thon: O. K. Einheit in der Vielfalt (1981);
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K. Onasch: Die alternative Orthodoxie. Utopie u. Wirklichkeit im russ. Laienchristentum des 19. u. 20. Jh. (1993);
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G. Larentzakis: Die o. K. Ihr Leben u. ihr Glaube (Graz 2000).
Weitere Literatur: russisch-orthodoxe Kirche, Ostkirchen.
Universal-Lexikon. 2012.