1. das Improvisieren:
Improvisation ist nicht seine Stärke.
2. das ohne Vorbereitung, aus dem Stegreif Dargebotene:
ihre Improvisation gefiel den Gästen sehr.
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Im|pro|vi|sa|ti|on 〈[ -vi-] f. 20〉
1. unvorbereitete Handlung, Behelfsmäßigkeit
[<ital. improvvisazione u. frz. improvisation „Stegreifvortrag“; → improvisieren]
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1. das Improvisieren; Kunst des Improvisierens:
I. ist seine Stärke.
2. ohne Vorbereitung, aus dem Stegreif Dargebotenes; Stegreifschöpfung, [musikalische] Stegreiferfindung u. -darbietung:
seine Rede war eine geschickte I.;
-en auf dem Klavier spielen.
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I Improvisation
[lateinisch, ex improviso = sinngemäß »ohne Vorbereitung, aus dem Stegreif«], Improvisation gilt als wichtiges, zum Teil grundlegendes Gestaltungsmittel in der Folklore, im Jazz und in anderen Formen der populären Musik. Im allgemeinen Sprachgebrauch oft vermengt, im Bedeutungsgehalt jedoch vom Improvisieren zu trennen, sind Fantasieren — völlig ungebundenes, nur dem spontanen Einfall folgendes Musizieren — und Variieren, das Abwandeln einer vorgegebenen musikalischen Gestalt in enger Bindung an diese. Das Verändern von bekannten, mündlich überlieferten Melodie- und Rhythmusmodellen wie z. B. dem arabischen Maqam oder den indischen Râgas gehört zur Praxis der Folkloretraditionen und unterliegt meist strengen Regeln. Auch das Improvisieren im Jazz und Rock ist an bestimmte musikalische Sachverhalte gebunden. Es setzt Einfallsreichtum, solide Spieltechnik auf dem Instrument, stilistisches Gespür und zumindest ein Grundmaß an theoretischem Wissen um die musikalischen Zusammenhänge voraus. Andererseits überzeugt in vielen Beispielen das natürliche, »unverbildete«, von Feeling und Engagement getragene Musizieren der Folkblues-Veteranen, junger Rockgruppen und anderen.
Spontane Erfindung setzt höchste kreative Bereitschaft voraus. Diese ist durch fehlendes Stimulans, körperliche Beschwerden, widrige Umwelteinflüsse und viele andere, die persönliche Stimmung beeinträchtigende Faktoren nicht immer gegeben. Deshalb greifen selbst versierte Improvisatoren auf eingeübte Figuren und Standardphrasen zurück. Mitunter werden sogar (z. B. bei Produktionen, um »Leerlauf« zu vermeiden) gewisse Wendungen aufgeschrieben. Improvisationen können (beziehungsweise müssen) durch Übung, das heißt durch Speicherung eigener, selbst gefundener, improvisierter Motive und Figuren vorbereitet werden. Das Improvisierte stellt eine persönliche Leistung, eine individuelle Äußerung dar, die durchaus in ähnlicher oder gar gleicher Gestalt wiederholbar ist: Ein einmal erprobtes Solo taucht oft bei Livekonzerten mit nur geringen Abweichungen immer wieder auf, ja, Fans erwarten nachgerade von ihrem Idol bestimmte (auf einer LP festgehaltene) Melodiewendungen. Das Adjektiv »spontan« hat also relative Bedeutung. Das Nachspielen fremder Improvisationen sollte aufgrund der beschriebenen Persönlichkeitsbindung unterbleiben, es sei denn als Studienobjekt oder bewusste Personalstilkopie.
Grundlage bildet in der Regel das Thema — die Melodie mit den zugehörigen Harmonien und die Taktanzahl. Die Formeinheiten, meist Refrains von Standards, Oldies, Evergreens usw. (die Verse dieser Titel entfallen beim Improvisieren oft), tragen die Bezeichnung Chorus. Die Länge der Improvisation ist durch die Taktzahl gegeben — zwölf in der Bluesform und zweiunddreißig in der AABA- beziehungsweise AB-Form —, wobei seltener deren Halbierung, oft aber Verdoppelung und weitere Ausdehnung erfolgen.
Der Old-Time-Jazz beruht weitgehend auf dem im Bläserensemble (Lead-Kornett, Klarinette, Posaune) anzutreffenden Variationsprinzip. Die Melodie als Grundlage erfährt eine mehr oder weniger starke Umspielung beziehungsweise Abwandlung, das Musizieren vollzieht sich also horizontal, Zusammenklänge sind zufallsbedingt. Alfons M. Dauer schreibt dazu: »Die Stegreifvariation. .. bezieht sich auf die gegebene Vorlage (Melodie) und gestaltet diese nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten um. Im Negerischen Musizieren durch die Varianten-Heterophonie. .., durch tonalen Ausgleich (das gegebene Melodieprofil bleibt erhalten, die Einzeltöne werden entweder untereinander oder durch ihre tonal nächst verwandten Intervalle ausgetauscht), durch melodische und rhythmische Paraphrase (Umschreibung). Im europäischen Musizieren durch die bekannten Mittel der Verzierung: Diminuieren, Passeggieren, Figurieren, Vorhalte, Durchgänge, Wechselnoten, Triller, Intervallbrechungen (arpeggieren), Doppelschlag (Circulatio), Pralltriller, Mordent usw.« (Jazz. Die magische Musik, Bremen 1961, 328). Im Old-Time-Jazz dominiert die Kollektivvariation (Kollektivimprovisation). In den Chorussen stehen jeweils andere Bläser im Vordergrund, übernehmen die Lead-Stimme, jedoch stets von der gesamten Band unterstützt. Einzige Solostellen waren die Breaks, aus denen sich dann Ende der Zwanzigerjahre die Soloimprovisation entwickelte. Neben der Melodieumspielung muss das Ruf-Antwort-Prinzip (Call and Response) als Improvisationsmethode im Blues genannt werden, wobei hier die Musiker bereits an die Harmoniefolge gebunden sind. Auch ein- und zweitaktige Rhythmusfiguren, Stomps, dienten als Ausgangspunkt zur Melodieerfindung.
Im Laufe der Zwanzigerjahre wurde das Harmoniegerüst des Themas zunehmend zur Verständigungsgrundlage der Improvisierenden, das heißt das Vertikale, der Zusammenklang, gewann an Bedeutung. Das führte nunmehr zur Schaffung eigenständiger, nicht in melodischer Abhängigkeit zum Thema verlaufender Melodielinien. Die Grundharmonien erfuhren seit den Dreißigerjahren eine klangliche Aufstockung durch Hinzufügen von Zusatztönen und eine Erweiterung durch Nebenklänge, Dominantvertreter usw. bis zum ständigen halbtaktigen Harmoniewechsel (Harmonik).
Als Novum kam im Chicago-Stil die Soloimprovisation auf, die Frank Teschemacher (1906-1932) eingeführt haben soll. Als Standardfolge ergab sich nunmehr: im Kollektiv vorgetragenes Thema — Reihung von Solochorussen mit Begleitung durch die Rhythmusgruppe (auch mit Bläser-Riffs) — abschließend wieder das Thema, auch als Kollektivimprovisation. In den Jazzstilen seit dem Bebop nahm der Stellenwert des Themas als musikalisch-inhaltlicher Ausgangspunkt ab, dagegen stieg das Ansehen des Individuellen im Solospiel, wobei der Bezug zum Thema kaum noch spürbar blieb. Mitunter wurde sogar ganz darauf verzichtet. Größere Freiheit in der melodischen Erfindung gewährte der Modal Jazz: Anstelle halbtaktiger Harmoniewechsel konnten die Musiker nunmehr mehrtaktige Abschnitte unter Zugrundelegung von modalen Leitern improvisieren. Dies war bereits ein Schritt zum Free Jazz der Sechzigerjahre, in dem die harmonische Bindung ebenso wie die Taktbegrenzung vollends aufgegeben wurde. Als Bezugspunkte galten nun die Mitspieler, die Improvisationskunst zeigte sich im dialogisierenden Miteinander ebenso wie im kontrastierenden Solo, bei dem erweiterte Klangräume auch durch neue Spieltechniken erschlossen wurden.
Das Improvisieren hat im Rock einen wesentlich geringeren Stellenwert als im Jazz. Es leitet sich vom Blues beziehungsweise vom Rhythm and Blues, von verschiedenen Folktraditionen und vom Jazz ab. Rockspezifische Eigenheiten (Harmonik, Instrumentarium, Sound, Effekte, Lautstärke usw.) prägen das Chorusspiel. So finden sich viele kürzere (zwölf- beziehungsweise sechzehntaktige) Chorusse als instrumentales Zwischenspiel, das die Gesangsteile verbindet. Andererseits fehlt es nicht an ausgedehnten, überlangen Soli mit oft nur geringer musikalischer Substanz bzw. endlosen pseudovirtuosen Selbstdarstellungen bei Livekonzerten. Das bewusste Vermeiden komplizierter, rasch wechselnder Harmoniefolgen führte im Rock häufig zu Chorussen über nur zwei Harmonien (oft sogar nur über einem Akkord) mit modalen, bevorzugt auch pentatonischen Wendungen.
Vom Swing ausgehend verstärkte sich der Einsatz von Improvisationen als Arrangementeffekt auch in der Tanzmusik (Ensemblechorusse, Solochorusse). Einen großen Anteil nahm das Improvisieren etwa in der Bar- und Combo-Tanzmusik der Fünfziger/Sechzigerjahre ein.
II
Improvisation
[zu improvisieren] die, -/-en,
1) Literatur: unvorbereitetes, spontanes Dichten (»aus dem Stegreif«). In Italien war die Stegreifdichtung seit der Renaissance besonders beliebt (B. Accolti, der lateinisch dichtende A. Marone). Ende des 17. Jahrhunderts machten öffentlich auftretende Improvisatoren aus der freien gesellschaftlichen Unterhaltung einen Beruf. Ebenfalls in Italien findet sich zuerst das Stegreifspiel der Commedia dell'Arte. Im deutschen Theater wurde v. a. von der komischen Person (Hanswurst) improvisiert. Im volkstümlichen Theater, besonders Wiens, blieb das Stegreifspiel lange wesentliches Element. Heute ist die Improvisation oft Teil der Schauspielausbildung; sie hat besonders bei den Theaterkollektiven (u. a. Living Theatre; Théâtre du Soleil der Ariane Mnouchkine) an Bedeutung gewonnen.
2) Musik: das Musizieren in spontaner Erfindung, besonders am Instrument, entweder über vorgegebene Themen, auch Harmoniefolgen und Rhythmen oder als freies Fantasieren, wobei zumeist gängige Spielfiguren und Satztechniken verwendet werden und traditionelle Formen (z. B. Variation, Choralbearbeitung, Fuge) als Muster dienen. In Ländern außerhalb Europas, in denen man keine tonschriftlich fixierte Komposition kennt, werden die Improvisationsmodelle (Maqam, Patet, Raga) schriftlos überliefert. Die frühe Mehrstimmigkeit im 9.-11. Jahrhundert wurde als Aufführungsweise des Cantus nach bestimmten Regeln chorisch, später auch solistisch aus dem Stegreif ausgeführt (Organum), ähnlich später Faburden und Sortisatio. Die Improvisation auf Tasteninstrumenten führte zu komponierten Formen wie Präludium, Toccata, Ricercar, wie überhaupt nicht selten Improvisationspraktiken in die schriftliche Fixierung der Komposition überführt wurden. Als Kunst des Verzierens blieb die Improvisation bis ins ausgehende 18. Jahrhundert lebendig, besonders in der Arie und in der Konzertkadenz. In der Musik nach 1950 erlangte die Improvisation besonders in der Aleatorik und musikalischen Grafik wieder eine neue Bedeutung. Als praktische Kunstfertigkeit ist Improvisation v. a. für Organisten und Jazzmusiker (also Solo- oder Kollektivimprovisation) bis heute unentbehrlich. Eine wichtige Rolle spielt sie heute auch wieder in der Musikerziehung.
G. F. Wehle: Die Kunst der I., 2 Bde. (1950-53);
E. T. Ferand: Die I. in Beispielen aus 9 Jahrhunderten abendländ. Musik (1956);
B. Noglik: Klangspuren. Wege improvisierter Musik (Neuausg. 1992).
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Im|pro|vi|sa|ti|on, die; -, -en [zu ↑improvisieren]: 1. das Improvisieren, Kunst des Improvisierens: I. ist seine Stärke; Vielleicht fehlt etwas die Brillanz und I. der Brasilianer oder Peruaner oder die technische Reife der Argentinier (Kicker 6, 1982, 53). 2. ohne Vorbereitung, aus dem Stegreif Dargebotenes; Stegreifschöpfung, [musikalische] Stegreiferfindung u. -darbietung: Wenn es ihr recht ist, möchte ich an Weihnachten ein paar -en auf böhmische Volkslieder spielen (Bieler, Mädchenkrieg 274).
Universal-Lexikon. 2012.