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Mittelstandspolitik
Mittelstandspolitik,
 
Mittelstandsförderung, Gesamtheit der wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Sicherung und Förderung der mittelständischen Wirtschaft. Als unternehmensgrößenbezogene Strukturpolitik ist die Mittelstandspolitik, ebenso wie die regionale und sektorale Strukturpolitik, ein eigenständiger Bereich der speziellen Wirtschaftspolitik. In der wirtschaftspolitischen Praxis wird die Mittelstandspolitik in der Regel als Querschnittsaufgabe wahrgenommen, denn sie enthält in ihrer konkreten Ausformung sowohl unternehmensgrößenbezogene als auch regional- und branchenspezifische sowie allgemeine wirtschaftspolitische Elemente. Die Bundesländer führen ihre mittelstandspolitischen Maßnahmen auf der Grundlage eigener Mittelstandsförderungsgesetze durch; auf Bundesebene existiert kein entsprechendes Gesetz. Vielmehr bilden die »Grundsätze einer Strukturpolitik für kleine und mittlere Unternehmen« sowie das »Aktionsprogramm zur Leistungssteigerung kleiner und mittlerer Unternehmen« (1970 von der Bundesregierung verabschiedet) bis heute die Basis für die Mittelstandspolitik des Bundes.
 
Zur mittelständischen Wirtschaft zählen kleine und mittlere Unternehmen (KMU) aus den Bereichen Industrie, Handwerk, Handel, Verkehr- und Nachrichtenübermittlung, dem Dienstleistungssektor sowie den freien Berufen (z. B. Ärzte, Rechtsanwälte), bei denen in der Regel Eigentum, Unternehmensleitung und unternehmerisches Risiko zusammenfallen, d. h. der gewerbliche oder selbstständige Mittelstand. Eine allgemeine akzeptierte Definition fehlt; die Abgrenzung gegenüber Großbetrieben wird v. a. über die Zahl der Beschäftigten (nicht mehr als 500) und den Umsatz (nicht mehr als 50 Mio. pro Jahr) vorgenommen. Gegebenenfalls werden zusätzliche quantitative Erklärungs- und Beschreibungsmerkmale einbezogen. Innerhalb der EU zählen Unternehmen (freiberufliche Praxen) nur dann zum Mittelstand, wenn die Beschäftigtenzahl 250 Arbeitnehmer nicht übersteigt. Obwohl der wirtschaftliche Mittelstand als Rückgrat der deutschen Wirtschaft betrachtet wird, taucht dieser Begriff nicht in der amtlichen Statistik auf. Das Instituts für Mittelstandsforschung Bonn (IfM) ermittelt deshalb periodisch unter Nutzung primär- und sekundärstatistischer Datenquellen sowie amtlicher, halbamtlicher und privat verfügbarer Datensätze wichtige Schlüsselgrößen und Kennzahlen zum wirtschaftliche Mittelstand in Deutschland. Nach Berechnungen des IfM Bonn gehören (2002) 99,5 % aller Unternehmen in Deutschland zum Mittelstand. Sie beschäftigen 69,7 % aller Arbeitnehmer, bilden etwa 80 % aller Lehrlinge aus, erwirtschaften 49 % der gesamten Bruttowertschöpfung aller Unternehmen und tätigen 46 % aller Bruttoinvestitionen.
 
Träger
 
der Mittelstandspolitik sind v. a. das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und die Wirtschaftsministerien der Länder. Da Mittelstandspolitik eine Querschnittsaufgabe ist, werden fallweise weitere Bundes- bzw. Länderressorts (z. B. für Finanzen oder für Bildung und Forschung) in mittelstandspolitische Maßnahmen einbezogen. Zunehmend gewinnt auch die Mittelstandspolitik der EU an Bedeutung. Über eigene Förderprogramme aber auch über die Kontrolle nationaler Beihilfen (Subventionen) kann die Europäische Kommission nationale mittelstandspolitische Maßnahmen ergänzen oder gegebenenfalls untersagen.
 
Nationale wie europäische Mittelstandspolitik folgen dem Subsidiaritätsprinzip, d. h., die Selbstverantwortung der untersten staatlichen Ebene hat Vorgang vor dem Tätigwerden der nächsthöheren Ebene. Diese wird erst dann aktiv, wenn bestimmte Ziele, z. B. wegen ihrer finanziellen Dimension oder ihrer überregionalen Bedeutung, auf der jeweils unteren Ebene nicht erreicht werden können. Mittelstandsförderung setzt in jedem Fall ein Tätigwerden des Einzelnen, d. h. Eigeninitiative und -beteiligung des oder der Begünstigten, voraus (Prinzip der »Hilfe zur Selbsthilfe«). Notwendige Koordinierungsaufgaben, die sich aus dem Zusammenwirken von Bund und Ländern sowie nationalen und supranationalen Entscheidungsträgern - z. B. bei Gesetzgebungsverfahren und der Auflage neuer Förderprogramme - ergeben, werden von interministeriellen, häufig internationalen Fach- und Arbeitsgruppen der jeweiligen Bundes- und Landesorgane im Rahmen der Wirtschaftsförderung wahrgenommen.
 
Mittelstandspolitik ist sowohl Rahmen- als auch Prozesspolitik. Die Rahmenpolitik enthält bei prioritärer (Richtlinien-) Kompetenz des Bundes alle Maßnahmen, die das Wettbewerbs-, Steuer-, Außenwirtschafts-, Sozial-, Arbeits-, Berufsbildungs- und Vertragsrecht betreffen. In diesen Bereichen können für KMU Ausnahmetatbestände eingeräumt werden. So sieht z. B. das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen weitgehende Ausnahmen für die Zusammenarbeit von KMU vor. Im Steuerrecht wirken u. a. Ansparabschreibungen für Neuinvestitionen, steuerliche Erleichterungen für Übernehmensübergaben und Kooperationen sowie steuerfreie Reinvestitionsrücklagen bei Gewinnen aus Veräußerung von Beteiligungen für den Mittelstand steuermindernd und erfüllen damit den Subventionstatbestand. An die Unternehmensgröße gebundene Ausnahmeregelungen befreien KMU von bestimmten arbeits- und sozialrechtl. Pflichten (z. B. Kündigungsschutz, Beschäftigung von Behinderten). Zur Mittelstandspolitik als Prozesspolitik gehören alle Maßnahmen, die darauf abzielen, strukturelle bzw. größenbedingte Nachteile des Mittelstandes gegenüber Großunternehmen auszugleichen, aber auch spezielle Maßnahmen für bestimmte Branchen (z. B. Handwerk, Tourismuswirtschaft). In jüngster Zit finden zunehmend soziographische und sozialpolitische Zielsetzungen (z. B. Unterstützung von Unternehmerinnen und Existenzgründerinnen, arbeitsplatzorientierte Förderansätze) Eingang in die prozessorientierte Mittelstandspolitik. Kernelemente der prozessorientierten Mittelstandspolitik sind: Erleichterung des Zugangs zu Finanzierungsmitteln, Förderung von Beratung, Aus- und Weiterbildung sowie Stärkung der Innovationstätigkeit kleinerer und mittlerer Unternehmen. Alle Unterstützungen werden jedoch nur Unternehmen bzw. Existenzgründern zuteil, die bereit sind, einen Teil der Risiken oder Kosten selbst zu tragen.
 
Ziele
 
der Mittelstandspolitik sind v. a. die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit und die Stärkung von Leistungs- und Innovationsfähigkeit der mittelständischen Wirtschaft sowie die Erleichterung der Anpassung an den wirtschaftlichen Strukturwandel und Globalisierungsprozesse. In wachsendem Maße werden mittelstandspolitische Maßnahmen mit dem Ziel eingesetzt, Zahl und Qualität von Existenzgründungen zu steigern, die Mortalität von Neugründungen zu senken und die Übergabe von Unternehmen im Nachfolgefall zu erleichtern.
 
Die einzelnen Maßnahmen der Mittelstandspolitik sind auf bestimmte betriebliche Funktionsbereiche, unternehmensinterne Ressourcenknappheiten und unternehmerische Entscheidungsfelder abgestimmt. Sie zielen auf Investitions- und Finanzierungsentscheidungen, organisationsspezifische, bezugs- oder absatzpolitische, produktionstechnische, personalpolitische oder innovationsrelevante Hanlungsfelder. Durch die substanzielle Eigenbeteiligung der Förderungsempfänger und die Definition förderungswürdiger Tatbestände wird das Verhalten der Unternehmen in eine der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung adäquate Richtung gelenkt.
 
Zentraler Baustein der finanziellen Mittelstandsförderung des Bundes ist die Gewährung zinsgünstiger Kredite aus Mitteln des ERP-Sondervermögens (ERP). Je nach Zielrichtung und Adressat ist die ERP-Förderung untergliedert in Eigenkapitalhilfe-, Existenzgründungs-, Regionalförderungs-, Umwelt-, Energiespar- und Innovationsprogramme. Im Jahr 2000 wurden aus den verschiedenen ERP-Programmen 30 000 langfristige Darlehen (Volumen: 10,1 Mrd. DM) an den Mittelstand vergeben. Die ERP-Mittel werden nicht direkt an den Förderungsempfänger ausgereicht, sondern müssen vom Antragsteller bei seinem Kreditinstitut beantragt werden (Hausbankprinzip). Die Hausbank leitet die Anträge an die Kreditanstalt für Wiederaufbau oder die Deutsche Ausgleichbank weiter, die über die Förderanträge entscheiden. Die finanziellen Förderprogramme des Bundes werden zum Teil von den Bundesländern ergänzt, kofinanziert, aufgestockt oder um zusätzliche landestypische Ziele erweitert. Auch auf Landesebene gilt das Hausbankprinzip; zur Ausreichung der Fördermittel verfügen die Bundesländer über eigene Investitions- bzw. Förderbanken.
 
Weiteres zentrale Anliegen der Mittelstandspolitik ist die Förderung von Aus- und Weiterbildung sowie beruflicher und außerberuflicher Qualifikation. Neben der Schaffung neuer und der Anpassung alter Berufsbilder an moderne Entwicklungen wird unter Einbeziehung der Industrie- und Handelskammern sowie der Handwerkskammern v. a. die Berufsausbildung (z. B. durch Teilfinanzierung überbetrieblicher Ausbildungsstätten und -lehrgänge), der Wissentransfer auf Weiterbildungsveranstaltungen und die Entwicklung regionaler Konzepte zur Bildung von Lern- und Kooperationsnetzwerken gefördert. Durch verstärkte Online-Kommunikation zw. Mittelstand und Verwaltungsbehörden sollen bürokratische Verfahren abgebaut und z. B. die Erteilung von Genehmigungen vereinfacht und beschleunigt werden.
 
Um die Internationalisierung des Mittelstandes zu fördern, werden vom Bund und den Ländern spezielle außenhandelsrelevante Hilfen angeboten. Diese reichen von Serviceleistungen deutscher Auslandshandelskammern über die Förderung von Messen und Ausstellungen, Bundesbürgschaften, Bundesgarantien und sonstige Gewährleistungen bis zu Beratungs- und Unterstützungsangeboten der Bundesagentur für Außenwirtschaft (Abkürzung bfai; Serviceagentur des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie). Die bfai stellt export- oder investitionsinteressierten Unternehmen u. a. Wirtschaftsdaten verschiedener Länder, Zoll- und Rechtsinformationen sowie internationale Markt- und Branchenanalysen zur Verfügung.
 
Die Bundesministerien für Wirtschaft und Technologie sowie Forschung und Bildung unterstützen im Rahmen der Technologie- und Innovationspolitik die KMU bei Forschung, Entwicklung und Innovation. Entsprechende Programme bieten finanzielle Hilfe (z. B. Beteiligungskapital oder langfristige Darlehen) für die Entwicklung und Markteinführung neuer Produkte, Verfahren und Dienstleistungen. Weiterhin werden der Wissenstransfer und die Kooperation zwischen mittelständischen Unternehmen und Forschungseinrichtungen sowie die technologische Beratung der KMU, Technologietransfer sowie das Innovationsmagement durch Zuschüsse gefördert. Regionale Komptenzzentren bieten KMU Information, Schulung und Beratung, z. B. zur Nutzung von Internet und multimedialen Diensten sowie zur Entwicklung von E-Commerce-Aktivitäten.
 
Interessenvertretungen
 
des Mittelstandes auf Bundesebene sind: Deutscher Industrie- und Handelskammertag, Zentralverband des deutschen Handwerks, Bundesverband der Deutschen Industrie, Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels (HDE), Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels (BGA), Bundesverband der Freien Berufe (BFB) und DeutscherHotel- und Gaststättenverband (DEHOGA). Daneben existieren zahlreiche Fachverbände mit Branchen- oder Querschnittsfunktion, z. B. Arbeitsgemeinschaft Selbstständiger Unternehmer (ASU), Bundesverband der Selbständigen Deutscher Gewerbeverband (BDS/DGV), Aktionsgemeinschaft Wirtschaftlicher Mittelstand (AWM), Bundesverband mittelständischer Wirtschaft Unternehmensverband Deutschlands (BVMW), Unternehmerverband mittelständische Wirtschaft (UMW), Europaverband der Selbständigen Bundesverband Deutschland (BVD), Bundesverband mittelständischer Bauunternehmer. In großen politischen existieren zum Teil eigenständige Mittelstandsorganisationen, so z. B. die Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU oder die Arbeitsgemeinschaft Selbständige in der SPD.
 
Spezielle Forschungsinstitute analysieren Situation und Perspektiven des Mittelstandes, so z. B. das Institut für Mittelstandsforschung Bonn, das Institut für Mittelstandsforschung an der Universität Mannheim, das Institut für Mittelstandsökonomie an der Universität Trier und das Betriebswirtschaftliche Forschungszentrum für Fragen der mittelständischen Wirtschaft an der Universität Bayreuth. Zu den branchenspezifischen Forschungseinrichtungen gehören u. a. das Forschungsinstitut Freie Berufe an der Universität Lüneburg, das Deutsche Handwerksinstitut und das Institut für Handelsforschung an der Universität Köln. Zunehmend werden an den Hochschulen Spezialinstitute bzw. Lehrstühle für Existenzgründungsforschung eingerichtet, z. B. das Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke.
 
Literatur:
 
Unternehmensgrößenstatistik. Daten u. Fakten (1976 ff., unregelmäßig); S. Henrich u. H. Kirsch: Förderung u. Hemmnisse mittelständ. Unternehmen durch öffentl. Institutionen (1994);
 T. Krickhahn: Die Verbände des wirtschaftl. Mittelstands in Dtl. (1995);
 
Mittelstandsförderung in der Praxis, hg. v. R. Ridinger u. M. Steinröx (1996);
 H. C. Pfohl u. a.: Betriebswirtschaftslehre der Mittel- und Kleinbetriebe (31997);
 D. Lotz: Zielorientierte Mittelstandsförderung (1997);
 
Existenzgründungen und dynamische Wirtschaftsentwicklung, hg. v. R. Ridinger u. P. Weiss (1999);
 A. Icks u. M. Richter: Innovative kommunale Wirtschaftsförderung (1999).

Universal-Lexikon. 2012.