Runen,
Singular Rune die, -, Bezeichnung für die epigraphischen germanischen Schriftzeichen, die vom 2. Jahrhundert n. Chr. bis ins skandinavische Mittelalter gebräuchlich waren, jedoch dann vom lateinischen Alphabet abgelöst wurden. Die letzten Ausläufer der Runenschrift (bereits stark vermischt mit lateinischen Buchstaben) wurden im mittelschwedischen Dalarna noch bis Ende des 19. Jahrhunderts geritzt. Das Wort »Rune« wurde im 17. Jahrhundert aus dem Skandinavischen entlehnt; die Etymologie ist umstritten. Während die ältere Forschung das Etymon »rūn« als »Geheimnis« auslegte, wird in der jüngsten Forschung die Bedeutung »geschriebene Mitteilung« betont.
Die älteste gemeingermanische Runenreihe bestand aus 24 Zeichen. Sie ist durch mehrere inschriftliche Zeugnisse aus dem 5. und 6. Jahrhundert überliefert, deren ältestes die Grabplatte von Kylver auf Gotland (um 400) darstellt. Diese gemeingermanische Runenreihe umfasst folgende Zeichen (Anordnung noch nicht hinreichend geklärt):
Nach dem Lautwert der ersten sechs Zeichen wird die Runenreihe als Futhark bezeichnet (wobei th eine einzige Rune repräsentiert). Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem älteren Futhark aus urnordischer Zeit (etwa 200-750) und dem verkürzten (16 Zeichen) jüngeren Futhark aus der Wikingerzeit (etwa 800-1050) sowie - in Abwandlungen - aus dem skandinavischen Mittelalter (ab 1050). Die Runenreihe war in drei Geschlechter (aett) zu je acht Runen eingeteilt. Die Reihenfolge der ältesten Runen (in Umschrift und deren nicht immer einheitliche und sicher bestimmbare Namen): f = fehu (Vieh, Fahrhabe); u = ūruz (Ur, Auerochse); Þ = Þurisaz (Thurse, Riese); a = ansus (Anse, Ase); r = raidō (Fahrt, Ritt, Wagen); k = kaunan (?) (Geschwür, Krankheit); g = gebō (Gabe); w = wunjō (Wonne); h = haglaz, haglan (Hagel); n = naudiz (Not, schicksalhafter Zwang); i = īsaz, īsan (Eis); j = jēran (gutes Jahr); ï = īwaz (Eibe); p = perÞo (?) (ein Fruchtbaum - vielleicht aus dem Keltischen entlehnt); z (ursprünglich als [z], nach dem Übergang vom Ur- zum Altnordischen als [r] gesprochen) = algiz (Elch); s = sōwilō (Sonne); t = tīwaz (Týr, der Himmelsgott); b = berkanan (Birkenreis); e = ehwaz (Pferd); m = mannaz (Mensch); l = laukaz (Lauch); Ȗ = ingwaz (Gott des fruchtbaren Jahres); d = dagaz (Tag); o = ōÞalan, ōÞilan (ererbter Besitz). Bekannt sind die Runennamen hauptsächlich erst aus mittelalterlichen Handschriften und aus vier Runengedichten (u. a. dem »Abecedarium Nordmannicum«, 1. Hälfte des 9. Jahrhunderts). Jedes Runenzeichen verfügt sowohl über einen Lautwert als auch über einen Begriffswert (Runenname). Der Lautwert ist in der Regel dem Anlaut des Runennamens zu entnehmen. In den ältesten Inschriften vertreten die Runen v. a. ihren Laut-, ab dem 4. Jahrhundert bisweilen auch ihren Begriffswert. In den ältesten Inschriften wurden Runen fortlaufend geritzt (Trennungs- und Schlusszeichen sind erst ab dem 5. Jahrhundert überliefert), entweder von links nach rechts oder von rechts nach links, aber auch als Bustrophedon oder in Schlangenschrift geschrieben.
Besondere Runenformen sind u. a. Binderunen (zwei Runen haben einen gemeinsamen Stab), Wenderunen (gegen die in der Zeile vorherrschende Schriftrichtung geritzt) und Sturzrunen (um 180º gedreht). Verschlüsselungen und Verwendung von Geheimrunen sind charakteristisch für die Wikingerzeit (z. B. auf dem Stein von Rök).
Die frühen Runen wurden v. a. in Holz eingeritzt, außerdem (in den ersten drei Jahrhunderten ihrer Verwendung) in Knochen, Ton und Metall. Die Gewohnheit, Runen in Felswände und Bautasteine einzumeißeln, entstand in der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts in Norwegen und Schweden wohl unter der Nachwirkung der bronzezeitlichen Felsritzungen; nach Dänemark gelangte sie erst um 800. In England finden sich Runensteine fast ausschließlich unter christlichem Einfluss, in Deutschland wurden nahezu keine Runeninschriften in Stein gefunden. Die meist nur sehr kurzen Runeninschriften dienten profanen und magischen Zwecken. Die Runenmeister leiteten sie aus göttlichen Ursprüngen her; als Runenschöpfer galt der Gott Odin. Als Runenritzer und Auftraggeber von Runeninschriften fungierten v. a. Männer; in Einzelfällen sind jedoch auch Frauen als Auftraggeberinnen belegt. In der Spätzeit gab es sogar ausgesprochen professionell ausgerichtete Schulen für das Ritzen von Runen (besonders im schwedischen Uppland).
In der Forschung wird die Frage nach der Herkunft der Runenschrift und ihre Beziehung zu anderen Schriften kontrovers diskutiert. Nach der nordetruskischen These (C. J. Marstrander, W. Krause) geht die Runenschrift auf nordetruskisch-norditalische Alphabete zurück, die im Alpenbereich vom 5. Jahrhundert v. Chr. bis ins 1. Jahrhundert n. Chr. in Gebrauch waren und bereits unter dem Einfluss des lateinischen Alphabets standen; die in germanischen Siedlungsgebieten nördlich der Alpen entwickelten Runen wurden dieser These zufolge innerhalb der ersten vier nachchristlichen Jahrhunderte nach Skandinavien vermittelt. Allerdings wurden die ältesten Runendenkmäler nicht im südlichen, sondern im nördlichen Bereich der Germania gefunden. Die Lateinthese (L. F. A. Wimmer, H. Pedersen, S. Agrell) stützt sich auf die Übereinstimmung zahlreicher Runen mit Buchstaben des lateinischen Alphabets oder auf offensichtlicher Nachbildung lateinischer Lettern (z. B. F, D, R, C/K, H, I, S, T, L) und auf den starken kulturellen Einfluss des Römischen Reiches. Dem dänischen Runologen E. Moltke zufolge sind die Runen eine selbstständige dänische Schöpfung auf der Grundlage des lateinischen Alphabets (die Kulturvermittlung soll über das Niederrheingebiet erfolgt sein). Mit der Griechenthese (S. Bugge, O. von Friesen) wurden Anknüpfungen an die archaische griechische Schrift versucht.
Gegenwärtig sind über 5 000 Inschriften bekannt, überwiegend aus Skandinavien.
Runeninschriften im älteren Futhark (um 200-750)
Nur eine kleine Anzahl dieser Denkmäler ist problemlos les- und interpretierbar. Neben der erwähnten Inschrift auf der Steinplatte von Kylver gehören hierzu die auf der Spange von Charnay-les-Mâcon (Département Saône-et-Loire) und der Bügelfibel von Beuchte (2. Hälfte 6. Jahrhundert). Eine Katalogisierung, Übersetzung und Deutung wurde nach den verschiedenen Inschriftenträgern vorgenommen. Eines der ältesten Denkmäler ist die zur Kategorie Speerblätter zählende Inschrift von Øvre Stabu (Provinz Oppland, Norwegen, 2. Hälfte 2. Jahrhundert); aus dem beginnenden 7. Jahrhundert stammt aus alemannischem Gebiet das Speerblatt von Wurmlingen (bei Tuttlingen). Relativ oft treten Fibeln auf; sie reichen bis in die Zeit um 200 zurück und tragen häufig eine umschreibende Selbstbezeichnung des Runenmeisters. Moorfunde brachten mit Runen beritzte Gegenstände (Amulette, Hobel, Kämme, Kästchen, Tongefäße, Waffen) aus der Zeit von etwa 200 bis ins 6. Jahrhundert zutage. Zu den bedeutendsten Inschriften auf Metallgegenständen zählen der Goldring von Pietroasa, dessen Inschrift in gotischer Sprache verfasst ist, und eines der beiden (abhanden gekommenen) goldenen Hörner von Gallehus. Zahlreiche Inschriften aus der Mitte des 4. Jahrhunderts bis Ende des 7. Jahrhunderts stehen auf den Bautasteinen, die ältesten in Norwegen (4. Jahrhundert: Vetteland, südlich von Stavanger; Einang, Provinz Oppland); einige enthalten Schutz- und Fluchformeln, z. B. zur Sicherung des Grabfriedens; häufig anzutreffen sind auch Berufsbezeichnungen der Runenmeister (z. B. auf dem Stein von Nordhuglo, Gebiet Valdres, um 400). Oft sind Bautasteine auch mit Totengedenkinschriften versehen, auf denen der Name des Toten, zum Teil mit dem Namen seines Erben oder des Runenmeisters, erscheint (z. B. Stein von Tune, Provinz Østfold). Die vier Blekinge-Steine von Gummarp, Istaby, Stentoften und Björketorp (Südostschweden, etwa 600-675) weisen auf ein Häuptlingsgeschlecht der Landschaft Blekinge. Der Kategorie der Bildsteine werden u. a. der Stein von Möjbro (Verwaltungsbezirk Uppsala, um 450-500) und der Eggjastein von Eggjum (um 700) zugerechnet. Eine eigene Gruppe bilden die v. a. aus Altdänemark stammenden Brakteaten (Ende 5. Jahrhundert bis Mitte 6. Jahrhundert), deren Inschriften v. a. als magisch interpretierte Wortformeln sowie Runenmeisterformeln und Personennamen verzeichnen.
Die wenigen ostgermanischen Runeninschriften stammen aus dem 3. und 4. Jahrhundert und finden sich auf Metallgegenständen, z. B. auf den Speerblättern von Dahmsdorf (Brandenburg), Kowel (Wolhynien) und auf dem Goldring von Pietroasa.
Die etwa 75 südgermanischen Runeninschriften kommen v. a. aus dem bairisch-alemannischen Gebiet und gehören der Zeit vom 4. bis 7. Jahrhundert an. Träger sind lose Gegenstände, v. a. Waffen, Fibeln sowie ein Speerblatt. Nach der Christianisierung wurde die Tradition der Runenschrift hier nicht weitergeführt. Als älteste südgermanische Runeninschrift gilt die auf der Silberschnalle von Liebenau (um 400). Mythologisch bedeutsam ist die alemannische Inschrift auf der Bügelfibel I von Nordendorf (bei Augsburg), die - einer Deutung zufolge - u. a. eine Göttertrias nennt (logaÞore wodan wigiÞonar, »Logathore ?, Wotan, Weihedonar«), nach einer anderen Interpretation eine christliche Abschwörungsformel wiedergibt (»Ränkeschmiede [logaÞore] sind Wotan und Weihedonar«).
Bei den angelsächsischen und friesischen Runen (5.-9. Jahrhundert) stimmen die Zeichen weitgehend überein, allerdings ist ihre Beziehung zueinander umstritten. Nach dem gegenüber dem Futhark variierenden Lautwert der 4. Rune (o statt a) wird die anglofriesische Runenreihe auch Futhorc genannt. Im angelsächsischen Raum wurde das altgermanische Futhark zunächst um vier, später in Nordengland und Schottland um weitere fünf Runenzeichen erweitert. Das idealtypische anglofriesische Futhorc umfasst 31 Zeichen.
Die über 65 angelsächsische Runeninschriften stammen vorwiegend aus der Zeit von etwa 400 bis ins 9. Jahrhundert. Die bisher älteste englische Runeninschrift (um 400) ist ein Sprungbeinknochen eines Rehs (gefunden in Caistor, bei Norwich). Der Großteil der angelsächsischen Inschriften ist jedoch in die Zeit nach der Christianisierung (ab etwa 650) zu datieren, wobei die angelsächsische Kirche - anders als die kontinentale - mit zur Verbreitung der Runenschrift beitrug; ein Beleg dafür ist der Sarg für den heiligen Cuthbert, den Mönche aus Lindisfarne (Holy Island) 698 anfertigten (das Christussymbol sowie die Namen der Evangelisten sind in Runenschrift, andere Namen in lateinischer Schrift geritzt). Das bedeutendste angelsächsische Runendenkmal außerhalb Englands ist das Runenkästchen von Auzon.
Auf altfriesischem Boden wurden bisher 16 Runeninschriften (nur auf losen Gegenständen) entdeckt. Auch hier ist die alte Runenreihe um einige Zeichen erweitert.
Runeninschriften im jüngeren Futhark (ab etwa 800)
Einige der jüngeren Inschriften weisen bereits Veränderungen auf, die mit der Entwicklung vom Ur- zum Altnordischen (7./8. Jahrhundert) und dessen erweitertem Phonembestand verbunden sind. Das skandinavische jüngere Futhark reagierte auf die sich neu entwickelnden Laute, z. B. [ø], [æ], [œ], [y], nicht mit einer Erweiterung des Zeicheninventars, sondern mit einer Reduzierung der 24 Zeichen des älteren Futhark auf 16 Zeichen (im Unterschied zur northumbrischen Runenreihe, die um 800 auf 33 Zeichen erweitert wurde); dieser Prozess war um 800 abgeschlossen. Dem erweiterten Phonembestand des Altnordischen entsprach nun ein reduziertes Inventar an Graphemen, sodass ein Runenzeichen mehrere Phoneme repräsentierte (z. B. die b-Rune b und p, die Þ-Rune Þ und ȓ, die k-Rune k, g und ng). Der Übergangszeit gehören die erwähnten vier Runensteine aus Blekinge (7. Jahrhundert), die Spange von Strand (Landschaft Trøndelag, Norwegen, um 700) und die Inschrift des Steins von Eggjum (um 700) an. Das jüngere Futhark dürfte in Südnorwegen und Südschweden entstanden sein und trat zu Beginn der Wikingerzeit in zwei Ausprägungen auf. Durch Vereinfachung der Seitenzweige und Beschränkung auf einen einzigen senkrechten Stab entstanden die gewöhnlichen nordischen Runen (dänischen Runen), durch eine weitere Verkürzung die schwedisch-norwegischen Runen (Stutzrunen). Auf dem Stein von Sparlösa (Verwaltungsbezirk Skaraborg, um 800) stehen beide Versionen nebeneinander, die Inschrift auf dem Runenstein von Rök (1. Hälfte des 9. Jahrhunderts), die längste Runeninschrift überhaupt, ist vollständig in Stutzrunen (Rökrunen) abgefasst.
Seit dem 10. Jahrhundert kommen bei dänischen Runen Punktierungen (gepunktete Runen) vor, die eine exaktere lautliche Differenzierung ermöglichen sollten; später entstanden in Schweden die stablosen Hälsingerunen (nach der mittelschwedischen Landschaft Hälsingland). Aus Altdänemark sind aus der Wikingerzeit (9./10. Jahrhundert) über 700 Inschriften im jüngeren Futhark bekannt (darunter etwa 240 Runensteine). Die längste dänische Inschrift (etwa 210 Zeichen) trägt der Stein von Glavendrup (Fünen; 10. Jahrhundert). Historisch besonders bedeutsam sind die Steine von Haithabu und Jelling.
Der Großteil der über 3 000 Runeninschriften Schwedens gehört dem 11. Jahrhundert an. Im älteren Futhark sind nur etwa 15 der schwedischen Inschriften geschrieben. Nach der Christianisierung (um 1000) dominierten im 11. Jahrhundert christlich geprägte Runensteine, vielfach in Form von West- und Ostfahrersteinen, aus denen neben Handelsfahrten und -beziehungen auch Weg und Stand der Christianisierung sowie wichtige Glaubensinhalte deutlich werden. Bedeutendstes Runendenkmal ist die Inschrift des Steins von Rök. Eine vollständige Skaldenstrophe (Dróttkvætt-Strophe) trägt der Karlevistein (um 1000).
Die wikingerzeitlichen Runeninschriften Dänemarks und Schwedens sind mit ihren - gegenüber den Inschriften im älteren Futhark - umfangreicheren Texten, v. a. im Bereich des Totengedenkens, wichtige Quellen für die Christianisierung, Politik, Expansion und Sozialgeschichte der Wikingerzeit, aber auch für die Dichtung (Edda, Skaldendichtung), Mythologie (z. B. in der Darstellung von Thors Kampf mit der Midgardschlange auf dem Stein von Altuna, Verwaltungsbezirk Uppsala), Heldensagenüberlieferung (z. B. bei der Sigurdritzung auf dem Ramsundfelsen bei Eskilstuna) und Bildkunst dieser Periode.
In die Frühzeit der Christianisierung Norwegens (unter Olaf I., 995- 1000) gehören der Stein von Kuli (Provinz Møre og Romsdal) und der 1972 gefundene Eikstein (Sokndal, Provinz Rogaland), einer der ältesten christlichen Gedenksteine Norwegens. Aus dem 11. Jahrhundert stammen einige Auslandfahrersteine. Mit den rd. 550 Bryggenfunden in Bergen (meist 13.-14. Jahrhundert), durch die der Beweis erbracht werden konnte, dass die Runenschrift im Mittelalter v. a. als Gebrauchsschrift diente, sind über 1100 norwegische Runeninschriften erhalten.
Auch in den skandinavischen Kolonien im Westen gibt es Runendenkmäler aus der Wikingerzeit und dem Hochmittelalter, z. B. auf Grönland (10.-12. Jahrhunderts), Island (nicht vor 1200) und den Orkneyinseln (12.-13. Jahrhundert). Aus Amerika ist keine echte Runeninschrift bekannt.
Handschriftlich wurden die Runen erst spät und nur aus antiquarischem Interesse verwendet, z. B. im »Codex Runicus« (gegen 1300), der das Landrecht von Schonen (nach einem dänischen Original in Lateinschrift) enthält.
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H. Klingenberg: R.-Schrift - Schriftdenken - R.-Inschriften (Neuausg. 1995).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Germanen: Unterwegs zu höherer Zivilisation
Runen: Geheimnis und Geraune
Wikinger: Schiffsgräber und Runensteine
Universal-Lexikon. 2012.