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Zwingli und Calvin
Zwingli und Calvin
 
Der Südwesten des deutschen Sprachgebiets zeichnete sich vor dem Ursprungsgebiet der Reformation durch eine stärkere Bindung an den Humanismus und einen deutlichen kulturellen Vorsprung aus: Selbstbewusstsein und Mitwirkungsrechte der Laien waren hier Ausdruck einer fortgeschritteneren politisch-sozialen Kultur, die zu einer eigenen Ausprägung der Reformation führte, zu deren wichtigstem Vertreter Huldrych (Ulrich) Zwingli werden sollte. Seit 1518 Leutpriester am Zürcher Großmünster, fühlte er sich durch Luther in seinen ebenfalls auf der Basis des Augustinus entwickelten reformatorischen Positionen bestätigt. 1520 leitete er erste Reformen in Zürich ein; er verzichtete auf Pensionen, die er in früheren Jahren dadurch erworben hatte, dass er Söldner für päpstliche Heere angeworben hatte, und wandte sich bald auch in Predigten gegen die Annahme solcher Pensionen.
 
Erst als 1522 der Fleischgenuss einiger seiner Anhänger in der Fastenzeit öffentlich Anstoß und die Aufmerksamkeit des zuständigen Bischofs von Konstanz erregte und dadurch Zwinglis Predigttätigkeit infrage gestellt wurde, ergriff er die Flucht nach vorn. Selbst bereits heimlich verheiratet, ersuchte er jetzt mit zehn weiteren Priestern den Bischof, er möge Priesterehe und evangelische Predigt freigeben. 1523 kam es in Zürich zu Disputationen, in denen Zwingli seine 67 »Schlussreden« vorstellte, in denen er ein komplettes Reformprogramm umriss. Nichts sollte übrig bleiben, das sich nicht aus der Schrift ableiten ließe; die Durchsetzung der Neuerungen oblag dem Zürcher Rat. Seine Vorstellungen von einer theokratischen Gemeindeordnung unter Leitung eines Geistlichen wurden - was charakteristisch für die Zürcher Bürgerschaft ist - sukzessiv öffentlich beschlossen. Fürbitte der Heiligen, Messopfer, Speisevorschriften, Papsttum, Mönchsorden, Klöster, Zölibat, Firmung und Letzte Ölung wurden ebenso verworfen wie Heiligenbilder, Prozessionen, Orgelspiel und Gemeindegesang.
 
Mehr und mehr traten auch die Unterschiede zu Luther in den Vordergrund: Für Zwingli, dessen Menschenbild noch pessimistischer war als das Luthers, konnte die unendliche Kluft zwischen Gott und Mensch nur durch Christus überwunden werden. Ein starker Hang zur Rationalität prägte sein Verständnis von der Liturgie: Die Messe in ihrer damaligen Form erschien ihm als eine unerhörte Beleidigung Christi; an ihre Stelle sollte eine Feier der Danksagung und des Gedenkens an das Leiden. Christi treten, in der es primär um Belehrung statt Bekehrung ging. Seine Auffassung, Brot und Wein symbolisiere beim Abendmahl nur Fleisch und Blut Christi, stand im Widerspruch zu Luthers Realpräsenz und entfachte eine massive, oft unsachlich geführte Kontroverse zwischen beiden, in deren Verlauf Luther Zwinglis Abendmahlsauffassung als Teufelswerk diskreditierte.
 
Im Unterschied zu Luther und Zwingli gehörte der 1509 im nordfranzösischen Noyon geborene Johannes Calvin zur zweiten Generation der Reformatoren. Dass die durch die Reformation ausgelöste Erneuerung nicht auf Deutschland beschränkt blieb, war zum großen Teil sein Verdienst. Er stand nicht nur mit Reformatoren in ganz Europa in brieflichem Kontakt, sondern systematisierte auch das reformatorische Gedankengut. 1535 widmete er Franz I. von Frankreich seine berühmte Schrift »Religionis christianae institutio« (= Unterricht in der christlichen Religion), in der er - ausgehend von der uneingeschränkten Souveränität Gottes - eine enge Verbindung von Schöpfung und Vorherbestimmung entwickelte: Gott erwählt einige wenige Menschen und bestimmt sie zum Heil, was sie schon in ihrer irdischen Existenz durch Glück und (auch wirtschaftlichen) Erfolg erfahren; alle übrigen sind von Gott verdammt. War der Mönch Gottschalk im 9. Jahrhundert durch diese Vorstellung der doppelten Prädestination noch in den Fatalismus gedrängt worden, so führte sie bei den Kalvinisten zu immensen Anstrengungen im öffentlichen Leben, weil sich jeder vor den anderen Gemeindemitgliedern auch als Erwählter erweisen wollte.
 
Genf wurde zum Musterbeispiel kalvinistischer Kultur: Ämter wie Pastoren, Diakone, Älteste und Lehrer wurden demokratisch durch Wahl vergeben; ein aus Ältesten und Pastoren zusammengesetzter Rat, später Presbyterium genannt, war das wichtigste Entscheidungsgremium, das auch Glaubens- und Sittenleben zu überwachen hatte: Zerstreuungen wie Tanz, Theater, Karten- und Würfelspiele waren untersagt, Privatleben und Kindererziehung bis in Details des Alltags hinein reglementiert. Verstöße ahndete man in geringfügigen Fällen durch Ermahnungen, andernfalls erfolgte eine Bestrafung durch die zivilen Behörden der Stadt. Welche Formen diese Kirchenzucht annahm, lässt sich daran ermessen, dass in den ersten fünf Jahren seit 1541, als diese Kirchenordnung in Kraft trat, 56 Todesurteile und mehr als 70 Verbannungen ausgesprochen wurden.
 
Dieses an Glaube und Schrift ausgerichtete Gemeinwesen fand - nicht zuletzt durch die Einrichtung der Genfer Akademie 1559, die der Ausbildung und Propagierung der reformatorischen Anliegen diente - überall in Westeuropa Anhänger. Genf wurde zum Zentrum der protestantischen Welt; der Kalvinismus ließ darüber hinaus zahlreiche reformierte Kirchen entstehen und beeinflusste durch die aus England ausgewanderten Puritaner die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Nordamerika bis heute. Letztlich bildete sein Ideal eines sparsamen, fleißigen Arbeiters sogar die Basis einer neuen (kapitalistisch orientierten) Wirtschaftsethik.
 
Dr. Ulrich Rudnick
 
Literatur:
 
Aland, Kurt: Die Reformatoren. Luther, Melanchthon, Zwingli, Calvin. Mit einem Nachwort zur Reformationsgeschichte. Gütersloh 41986.

Universal-Lexikon. 2012.