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Kulturkampf
Kul|tur|kampf 〈m. 1u; unz.〉
1. Auseinandersetzung zwischen den Vertretern unterschiedlicher kultureller od. religiöser Ansichten
2. 〈Gesch.; 1871-1887〉 Auseinandersetzung zw. dem protestantischen preußischen Staat u. der katholischen Kirche
● die beiden Staaten sind in einen Kulturkampf miteinander verwickelt

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Kul|tur|kampf, der:
1. <o. Pl.> [1873 von dem dt. Mediziner u. Politiker R. Virchow (1821–1902) gepr. polit. Schlagwort] (Geschichte) Auseinandersetzungen zwischen dem (protestantischen) preußischen Staat u. der katholischen Kirche von etwa 1871 bis 1887.
2.
a) Kampf bestimmter ↑ Kulturkreise (b) gegeneinander;
b) Auseinandersetzung über kulturelle, ethische, soziale u. a. Fragen innerhalb einer Gesellschaft, einer Gruppe o. Ä.

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I
Kulturkampf
 
Bald nach der Gründung des Deutschen Reiches kam es zum Zusammenstoß mit der katholischen Kirche, genauer mit dem politischen Katholizismus. Eine katholische Parteigruppierung hatte es bereits 1848 in der Frankfurter Nationalversammlung gegeben. 1870 entstand im preußischen Abgeordnetenhaus aus der katholischen Fraktion das Zentrum, das 1871 als zweitstärkste Fraktion in den Reichstag einzog.
 
Bismarck stand der neuen konfessionellen Partei mit großem Misstrauen gegenüber. Für ihn stand sie als katholische Gruppierung von vornherein in Opposition zu dem neuen Staat und seinem evangelischen Kaisertum. In ihr sammelten sich nach seiner Meinung die »Besiegten von 1866«, die Gegner der kleindeutschen Reichsbildung, die hannoverschen Welfen, die Polen aus den östlichen preußischen Provinzen, später auch die Elsässer. Bismarck befürchtete immer eine Verbindung der katholischen Zentrumspartei zu den katholischen Mächten Frankreich und Österreich. Im Juli 1871 wurde als erste Maßnahme die katholische Abteilung im preußischen Kultusministerium geschlossen. In dem sich allmählich verschärfenden »Kulturkampf« - diesen Begriff prägte der Führer der Fortschrittsparte, Rudolf Virchow, in einem Wahlaufruf - wurde im Dezember 1871 der »Kanzelparagraph« als Reichsgesetz eingeführt. Danach waren Geistliche, die bei der Ausübung ihres Amtes von der Kanzel herab staatliche Angelegenheiten »in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise« kommentierten, mit Amtsentlassung und Gefängnis bedroht. Mit dem Schulaufsichtsgesetz vom März 1872 wurde der Kirche die geistliche Aufsicht über die Schulen entzogen und in Preußen durch die staatliche Schulaufsicht ersetzt.
 
Bundesrat und Reichstag beschlossen 1872 das Verbot des Jesuitenordens innerhalb des Reichsgebiets. Weitere Maßnahmen dehnten das staatliche Aufsichtsrecht aus und schränkten die kirchliche Disziplinargewalt ein. Der Staat behielt sich ein Einspruchsrecht bei der Anstellung von Geistlichen vor (1873); so mussten Geistliche vor Amtsantritt z. B. ein »Kulturexamen« ablegen, das ein Studium an einer deutschen Universität voraussetzte. 1875 wurde die Zivilehe als allein gültige Ehe eingeführt und alle geistlichen Orden mit Ausnahme reiner Krankenpflegeorden verboten. Weitere Gesetze sperrten die staatlichen Geldzuwendungen an die katholische Kirche und beteiligten die Altkatholiken am kirchlichen Vermögen. Zeitweise waren 1/4 der Pfarreien und alle Bistümer nicht besetzt, da viele Priester ihrer Ämter enthoben, verhaftet oder ins Ausland geflohen waren.
 
Die Absicht Bismarcks, mit diesen kirchenpolitischen Maßnahmen das Zentrum zu zerschlagen, schlug fehl. Der Kulturkampf führte im Gegenteil zu einem stärkeren Zusammenschluss der katholischen Bevölkerung mit ihrer in Not geratenen Geistlichkeit. Bei den Reichstagswahlen 1874 konnte die Zentrumspartei ihre Stimmenzahl mehr als verdoppeln. So führte der Kulturkampf zu einer schweren innenpolitischen Niederlage Bismarcks und der liberalen Bewegung. Er strebte deshalb, als 1878 Papst Pius IX. starb und sein Nachfolger Leo XIII. Anzeichen von Kompromissbereitschaft erkennen ließ, die Beendigung des Kulturkampfes an. Die meisten Maßnahmen wurden wieder aufgehoben, bestehen blieben der Kanzelparagraph (bis zu seiner Aufhebung durch den Deutschen Bundestag 1953), die Zivilehe, die staatliche Schulaufsicht und bis 1917 die Jesuitengesetze.
 
II
Kulturkampf,
 
auf R. Virchows antikirchlichen Wahlaufruf von 1873 zurückgehende Bezeichnungen für die Gesamtheit von rechtsstaatlich zum Teil umstrittenen Maßnahmen, mit denen das Deutsche Reich, v. a. aber einzelne Länder, besonders Preußen, Bayern, Baden und Hessen, Vorstöße seitens der katholischen Kirche unter Papst Pius IX. abzuwehren suchten, die darauf zielten, die päpstliche Autorität in Glaubensfragen und die Bindung der nationalen Kirchen an Rom auszubauen. Die Ablehnung des Liberalismus schlechthin (1864 im Syllabus Pius' IX.) sowie die Verkündung des Dogmas der päpstlichen Unfehlbarkeit (1870) wurden sowohl als Herausforderung an den politischen Protestantismus als auch als Kampfansage an die mit diesem eng verbundene kleindeutsche Einigungsbewegung empfunden. In Preußen führten der Kultusminister A. Falk und Bismarck, gestützt auf die Liberalen, 1871-87 den Kampf mit der katholischen Kirche, wobei Bismarcks Bestreben einer Ausgrenzung des ursprünglich großdeutsch und weithin föderalistisch orientierten politischen Katholizismus, als dessen Sprachrohr er die 1870 gegründete Zentrumspartei mit ihren Verbindungen zu »Reichsfeinden« (Polen, Elsässer, Welfen) betrachtete, auf eine schärfere Trennung von Staat und Kirche im Deutschen Reich zielte.
 
Die ersten staatlichen Kampfmaßnahmen waren als Reichsgesetze der Kanzelparagraph (1871), der Geistlichen in Ausübung ihres Amtes die Behandlung staatlicher Angelegenheiten »in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise« unter Strafandrohung untersagte, und das Jesuitengesetz (1872), das neue Niederlassungen der Jesuiten verbot, die Auflösung bestehender bestimmte und den Ordensmitgliedern Aufenthaltsbeschränkungen auferlegte, sowie das preußische Gesetz von 1872, das die Schulaufsicht dem Staat übertrug. 1873 brachte Falk im preußischen Landtag die »Maigesetze« durch, die u. a. die wissenschaftliche Vorbildung der Geistlichen regelten und ein staatliches »Kulturexamen« vorschrieben, das staatliche Aufsichtsrecht über die Kirche verstärkten, den Gebrauch der kirchlichen Disziplinargewalt einengten und für die Anstellung von Geistlichen ein Einspruchsrecht der Oberpräsidenten festsetzten. Die Katholiken verweigerten den »Maigesetzen« ihre Anerkennung. Darauf wurden viele Bischöfe und Geistliche abgesetzt, zu Geld- oder Gefängnisstrafen verurteilt. Zeitweilig waren alle preußischen Bistümer verwaist. 1875 folgten das Brotkorbgesetz, das die Einstellung aller staatlicher Leistungen an die katholische Kirche verfügte, und das Klostergesetz, das die Auflösung aller Klostergenossenschaften außer den krankenpflegenden in Preußen bestimmte, sowie die Einführung der Zivilehe.
 
Die Erbitterung der katholischen Bevölkerung führte zu einem starken Stimmenzuwachs der Zentrumspartei. Die Einsicht, dass der Kulturkampf sich zu einer Niederlage entwickelte, und die veränderte innenpolitische Konstellation (Bruch mit den Nationalliberalen) veranlassten Bismarck, mit Papst Leo XIII. (seit 1878) Ausgleichsverhandlungen einzuleiten. 1880 begann der schrittweise Abbau der Maigesetze. Die beiden Friedensgesetze von 1886 und 1887 hoben die meisten Bestimmungen der Kampfzeit auf. Das Jesuitengesetz wurde jedoch erst 1904 und 1917 in zwei Stufen aufgehoben. Zivilehe und Staatsschule blieben erhalten.
 
In Baden, Bayern und Hessen zogen liberale, den kirchlichen Einfluss v. a. im Schulwesen einschränkende Maßnahmen bereits in den 1860er-Jahren einen Kulturkampf nach sich.
 
In der Schweiz kam es zwischen 1873 und 1883 zu ähnlichen Gegensätzen, besonders in Genf, Solothurn und im Kanton Bern. 1874 brach der Bundesrat die Beziehungen zum Vatikan ab (1920 wieder aufgenommen). Aus dem Kulturkampf heraus sind die konfessionellen Ausnahmeartikel in der Verfassung von 1874 zu verstehen.
 
Literatur:
 
Vatikan. Akten zur Gesch. des dt. K. Leo XIII., Tl. 1: 1878-80, bearb. v. R. Lill (1970);
 M. Scholle: Die preuß. Strafjustiz im K.: 1873-1880 (1974);
 
Staat u. Kirche im 19. u. 20. Jh., hg. v. E. R. u. W. Huber, Bd. 2: Staat u. Kirche im Zeitalter des Hochkonstitutionalismus u. des K. 1848-1890 (1976);
 P. Stadler: Der K. in der Schweiz (Frauenfeld 1984);
 
Der K. in Italien u. in den deutschsprachigen Ländern, hg. v. R. Lill u. F. Traniello (1993);
 J. Scholtyseck: Alliierter oder Vasall? Italien u. Dtl. in der Zeit des K. u. der »Krieg-in-Sicht«-Krise 1875 (1994);
 
Der K., hg. v. R. Lill (1997).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
 
Kulturkampf und Sozialenzyklika: Kirche und Welt
 

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Kul|tur|kampf, der <o. Pl.> [1873 von dem dt. Mediziner u. Politiker R. Virchow (1821-1902) gepr. polit. Schlagwort] (hist.): Auseinandersetzungen zwischen dem (protestantischen) preußischen Staat u. der katholischen Kirche von etwa 1871-1887: Ü Es ist ein K. (eine kulturelle Auseinandersetzung) um Frisuren, Mode und Musik (Woche 19. 12. 97, 7); Der Konflikt wurde insofern globalisiert, als er zu einem K. zwischen dem Islam und dem Westen (zu einer Auseinandersetzung zwischen den Kulturen des Islams u. des Westens) auszuarten drohte (Haarmann, Geschichte 601).

Universal-Lexikon. 2012.