im Individualismus wurzelnde Denkrichtung und Lebensform, die eine freie Entfaltung der Persönlichkeit vertritt und staatliche Eingriffe auf ein Minimum beschränkt sehen will.
Zus.: Frühliberalismus, Neoliberalismus, Sozialliberalismus, Wirtschaftsliberalismus.
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Li|be|ra|lịs|mus 〈m.; -; unz.〉 in der Aufklärung entstandene Welt-, Staats- u. Wirtschaftsauffassung, nach der dem Einzelnen größtmögliche Freiheit gegeben werden soll [→ liberal]
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Li|be|ra|lịs|mus, der; - [engl. liberalism, frz. libéralisme]:
1. im 19. Jh. entstandene, im Individualismus wurzelnde Weltanschauung, die in gesellschaftlicher u. politischer Hinsicht die freie Entfaltung u. Autonomie des Individuums fordert u. staatliche Eingriffe auf ein Minimum beschränkt sehen will.
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Liberalịsmus
der, -, Bezeichnung für eine Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsauffassung, die die Freiheit des Individuums als grundlegende, naturgemäße Norm menschlichen Zusammenlebens ansieht und den Fortschritt in Kultur, Recht, Wirtschaft und Sozialordnung als den Inhalt geschichtlicher Entwicklung annimmt.
Der Liberalismus kann als erste im heutigen Sinn »moderne« Ideologie gelten, die den ersten systematischen und nicht religiös motivierten Ordnungsentwurf begründete und dabei nicht nur bestehende Machtstrukturen analysierte, sondern ein bestimmtes Gesellschaftssystem empfahl. Die Qualität dieser Gesellschaft sollte davon abhängig gemacht werden, inwiefern »berechenbares Recht« (M. Weber) geschaffen werden könne. Basis dieser Geisteshaltung ist ein Menschenbild, das dem einzelnen Menschen die Fähigkeit und den Willen zu fortschreitender Mündigkeit zuschreibt.
Epochal gesehen ist der Liberalismus als Ordnungsentwurf oft an die Begriffe Verfassungsstaat, Bürgertum und Kapitalismus geknüpft; er wandte sich sowohl gegen feudale Gesellschafts- und Machtstrukturen als auch gegen Bedrohungen der bürgerlichen Eigentumsordnung durch frühsozialistische Kräfte; er bekannte sich zu einem konstitutionellen System, das die bürgerlichen Freiheiten sicherte. Er erscheint heute - von seiner historischen Wirkung aus betrachtet - als faktisch abgeschlossen, aber in Grundwerten von Staat und Gesellschaft präsent. Mit dem Entstehen moderner Massenbewegungen erfuhr der parteipolitisch organisierte Liberalismus (liberale Parteien) im 20. Jahrhundert einen starken Bedeutungsverlust.
Grundforderungen
Auf politischem Gebiet fordert der Liberalismus die Errichtung und den Ausbau eines Verfassungs- und Rechtsstaates, der die staatliche Macht begrenzt (nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung), d. h. die Willkür des Staates ausschließt und damit die Rechtssicherheit, die Voraussetzung individueller Freiheit, schafft. Die Gewährleistung von Grundrechten soll die freie Entfaltung der Persönlichkeit sichern. Der Liberalismus wendet sich gegen Privilegien in der Gesellschaft und fordert die Gleichheit vor dem Gesetz. Alle Bürger des staatlichen Gemeinwesens haben Anteil an der Ausübung der Staatsgewalt (Prinzip der Volkssouveränität). Der Liberalismus tritt für die parlamentarische Demokratie als Regierungsform ein, in der die Bürger im Rahmen des allgemeinen, gleichen, geheimen und freien Wahlrechts ein Parlament wählen, das in ihrer Vertretung politische Entscheidungen fällt (repräsentative Demokratie), die am Gemeinwohl orientiert sein sollen. - Im wirtschaftlichen Bereich tritt der Liberalismus in seinen verschiedenen historischen und politischen Ausprägungen für die Marktwirtschaft ein, in der die Wirtschaftssubjekte auf der Grundlage des Privateigentums an den Produktionsmitteln im freien Wettbewerb von Angebot und Nachfrage den Wirtschaftsprozess bestimmen und nicht der Staat. - Im gesellschaftlichen Bereich soll der Mensch in Ausübung seiner Menschen- und Bürgerrechte sein Leben im Rahmen selbst gewählter ethischer Normen oder religiöser Anschauungen führen können. Der Liberalismus vertritt das Prinzip der von Toleranz geprägten »offenen Gesellschaft«. Der Gedanke der freien Entfaltung der Persönlichkeit wird heute ergänzt durch die Forderung nach der Chancengleichheit.
Geschichtliche Grundlagen
Geschichtlicher Voraussetzungen des Liberalismus waren die rationalistischen Ideen der Aufklärung, die an Gedanken der Spätantike anknüpften und sich mit dem Individualismus der Romantik verbanden. Ausgehend vom Prinzip der Vernunft bestimmten Fortschritts-, Wissenschafts- und Harmoniegedanke die Entstehung des Liberalismus. Vom »freien Spiel der Kräfte« erwartete man eine harmonische Entwicklung des gesellschaftlichen Ganzen, die individuelle Freiheit galt als Garant der bestmöglichen Entfaltung des Menschen. Im Mittelpunkt liberaler Anschauungen stand die Idee vom Eigenrecht und Vorrang des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft. Der Liberalismus stellte die Freiheit an die Spitze seiner Grundwerte.
Im Kampf gegen den absolutistischen Obrigkeitsstaat, ständische Traditionen, Legitimismus und kirchliche Orthodoxie wurden die liberalen Leitvorstellungen seit der Französischen Revolution erweitert und präzisiert. Die wichtigsten Mittel für eine Entwicklung der Gesellschaft sah der Liberalismus in der Anerkennung allgemeiner Menschenrechte und in einer geschriebenen Verfassung, die die Grenzen der Staatsgewalt und die Kontrolle der Regierungsorgane festlegen sollte.
Das äußerste Stadium des absolutistischen Fürstenstaates, der in der politischen Theorie als ein Gesamtkörper dargestellt wurde (T. Hobbes), der im Sinne des allgemeinen Wohls vom unbeschränkten Herrscherwillen gelenkt wird, rief eine Wendung innerhalb des naturrechtlichen Denkens hervor, das sich der empirisch erfassbaren und rational darstellbaren Natur des Menschen anzunähern suchte. Der in rigoristischen Richtungen des Protestantismus (Kalvinismus, Puritanismus) kirchlich-institutionell verwirklichte Gleichheitsgrundsatz setzte sich insoweit auch unabhängig von kirchlichen und religiösen Vorstellungen durch, als die bürgerliche Gleichberechtigung in der Rechts- und Staatspraxis allgemeine Anerkennung fand. Die Erklärung allgemeiner Menschenrechte war keine bloße Erneuerung der in den Stadtstaaten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit bestehenden Bürgerfreiheiten; die hier postulierte Freiheit stand vielmehr dem Menschen aufgrund seiner Natur zu (Naturrecht).
Die ursprünglich liberalen Doktrinen, zu denen die englischen und schottischen Schulen des Empirismus, Sensualismus und Utilitarismus (J. Locke, F. Hutcheson, A. Ferguson, J. Bentham, J. S. Mill), in Frankreich neben Montesquieu und später E. J. Sieyès v. a. die mit der Encyclopédie verbundene politische Spätaufklärung (D. Diderot, J. Le Rond d'Alembert, J.-J. Rousseau, A. R. Turgot, P. H. T. d'Holbach, A. Condorcet), in Deutschland v. a. I. Kant beigetragen haben, verweisen auf eine optomistische politische Grundhaltung. Als anthropologische Voraussetzung galt, dass das Individuum in seinem wahren Wesen gut und zu fortgesetzter Emanzipation aufgerufen sei. Die aus rationalen Folgerungen entwickelte Geschichtsauffassung führte den Nachweis des historischen Fortschritts der Menschheit, der sich empirisch als Verwirklichung des größtmöglichen Glücks darstellt (»das größte Glück der größten Zahl«). Diese Denkungsart entsprach den Interessen der aufsteigenden bürgerlichen Schichten.
Als erste Verwirklichung des Liberalismus gelten die Bill of Rights in England (1689), dann die Verfassung der USA von 1787 und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (Déclaration des droits de l'homme et du citoyen) in der Französischen Revolution von 1789. Die Ideen von 1789 gewannen auch in Deutschland starken Einfluss, setzten sich aber lange weniger in politisch-institutionellen als in kulturellen Bereichen durch. Auf der Grundlage des v. a. von Kant, Schiller und W. von Humboldt entwickelten ethischen Freiheitsprinzips entfaltete sich der Gedanke der freien Persönlichkeitsbildung, der besonders auf Lehre und Wissenschaft bestimmend einwirkte. Der Liberalismus wurde aber auch in Deutschland immer mehr die Grundlage der bürgerlichen Verfassungsbewegung, des nationalen Einheitsstrebens, der Entwicklung des Rechtsstaats, des wirtschaftlichen Aufschwungs, der neuen Sozialethik, der modernen Pädagogik, der von kirchlich-dogmatischen Bindungen gelösten Kulturpolitik und der autonomen Wissenschaftshaltung. Im religiösen Bereich führte er besonders zur Forderung der Trennung von Staat und Kirche (»freie Kirche im freien Staat«).
Politischer Liberalismus
Hauptziel des politischen Liberalismus war die Überwindung des Absolutismus durch den Verfassungsstaat, der durch eine Verfassungs-Urkunde Rechte und Besitz des Einzelnen sichert (»Life, Liberty and Property«). Dies sollte geschehen einmal durch Wahl einer Volksvertretung als Repräsentativkörper, in der sich die staatliche Willensbildung (besonders Gesetzgebung und Budgetgestaltung) vollzieht und die die ständige Kontrolle der Regierung ausübt (Ministerverantwortlichkeit), zum andern durch Gewährleistung der Rechte des Einzelnen (Entwicklung eines Grundrechtekatalogs), Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Gleichheit vor dem Gesetz und geordneten Rechtsschutz. Während das liberale System in Großbritannien und Frankreich im Laufe des 19. Jahrhunderts in der Form des Repräsentativsystems verwirklicht wurde, konnte der Liberalismus in Deutschland bis 1918 nur das konstitutionelle System durchsetzen (Konstitutionalismus); erst bei den Verfassungs-Beratungen 1919/20 hat er in Deutschland das Verfassungsrecht wesentlich beeinflusst. Hinsichtlich des Wahlsystems vertrat der Liberalismus anfänglich überwiegend ein Wahlrecht, das den gebildeten und besitzenden Schichten Vorrechte einräumte (Zensuswahlrecht); ein radikaler demokratischer Flügel verfocht von Beginn an das allgemeine und gleiche Wahlrecht, das für den Reichstag des Norddeutschen Bundes 1867, in Preußen erst im Dezember 1918 eingeführt wurde. Einigkeit herrschte in allen liberalen Richtungen darüber, dass die fundamentalen Freiheitsrechte Grundlage der Staatsverfassung sein müssten. Zu den Hauptforderungen des Liberalismus gehörten ferner: Selbstverwaltung der Gemeinden, Bauernbefreiung, Beseitigung des Zunftwesens, Freizügigkeit, freier Zugang zu Berufen und Ämtern, Beseitigung ständische Vorrechte, Aufhebung religiöser und rassischer Diskriminierungen und Judenemanzipation.
Je mehr der Liberalismus im 19. Jahrhundert als Träger der »bürgerlichen Revolution«, der gesellschaftlichen Reformen und der nationalen Einigungsbewegungen (Italien, Deutschland) an der Ausübung der Staatsgewalt teilzunehmen vermochte und in führende Schichten der Gesellschaft und Institutionen des Staates (Offizierskorps, Beamtentum, Parlament) Eingang fand, desto stärker betrachtete er den Staat als Hüter der Freiheit und als Instanz, die die liberalen Ideen durch Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung verwirklichen soll. Nach dem politischen Ordnungsprinzip des Liberalismus soll die Freiheit jedes Einzelnen mit der Freiheit jedes anderen vereinbar bleiben; also beschränken sich die Einzelnen gerade durch allgemeine Freiheit gegenseitig.
Historisch wurde für die Verbindung des Liberalismus mit dem Staat der Nationalstaatsgedanke bedeutsam. Seitdem die Französische Revolution im Zeichen der Volkssouveränität Nation und Staat gleichgesetzt hatte, wurde der Liberalismus immer mehr vor die Möglichkeit gestellt, mit dem Freiheitsprinzip das grundsätzlich mit ihm unvereinbare Machtprinzip in der Form zu verschmelzen, dass er die Freiheit als innenpolitische, die Macht als außenpolitisches Prinzip vertreten konnte. Während im Liberalismus des Vormärz die Institution der stehenden Heere bekämpft und der Milizgedanke verfochten wurde (C. von Rotteck), trat der nationale Liberalismus für Machtentfaltung nach außen ein (Kolonialismus); in allen Staaten wurde diese machtpolitische Richtung zum Verfechter imperialer Ideen (Imperialismus). In Auseinandersetzung mit der sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts vollziehenden Annäherung v. a. des national orientierten Liberalismus an den Konservativismus bildete sich ein entschiedener Linksliberalismus, der die demokratischen Ideen weiterentwickelte.
Der wirtschaftliche Liberalismus geht theoretisch auf die Physiokraten des 18. Jahrhunderts zurück und erhielt seine entscheidende Prägung in der klassischen Nationalökonomie (A. Smith, D. Ricardo, J. Mill), die um die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Freihandelsbewegung (Freihandel), namentlich im Manchestertum (R. Cobden) sowie in der Gesellschaftsphilosophie von J. Bentham und J. S. Mill gipfelte. Die stärkste Antriebskraft für das wirtschaftliche Handeln sahen die klassischen Nationalökonomen im Eigeninteresse der Einzelnen, die sich im freien Wettbewerb begegnen, ungehindert durch staatliche Wirtschaftslenkung, ausschließlich gesteuert durch den Preismechanismus. Der Freihandel soll dieses wirtschaftliche Kräftespiel auch in den weltwirtschaftlichen Beziehungen herstellen. Dem wirtschaftlichen Interventionismus wird das Motto »laissez faire, laissez aller« entgegengestellt. Es wird geltend gemacht, dass gerade der freie Wettbewerb zu einer gerechten Verteilung der Wirtschaftsgüter und zu einer Lösung der sozialen Frage führe, da er dem Einzelnen den sozialen Aufstieg nach seinen Leistungen und Kräften möglich mache. Die Voraussetzung eines solchen Gleichgewichtssystems ist die vollständige Konkurrenz, ein System, in dem sich eine unbeschränkte Vielzahl unabhängiger Unternehmer in störungsfreiem Leistungswettbewerb begegnen. Wo die vollständige Konkurrenz z. B. durch Bildung wirtschaftlicher Machtansammlung (Monopole, Oligopole, Trusts, Konzerne, Kartelle) gestört ist, werden »marktkonforme« staatliche Interventionen gefordert.
Schon J. S. Mill erkannte neben dem Grundsatz der freien Konkurrenz unter gewissen Voraussetzungen eine Notwendigkeit staatlichen Eingreifens an, verteidigte die Interessen auch der wirtschaftlich Schwächeren und hielt die herrschende Eigentumsorganisation für reformbedürftig. In Deutschland und Österreich-Ungarn bemühte sich v. a. L. von Stein um eine Verknüpfung liberaler Doktrinen mit sozialistischen Gedanken in einer staatskonservativen Konzeption, während F. List die liberale Wirtschaftsweise für Deutschland mittels Schutzzöllen auf ein nationales System begrenzen wollte.
Auf der Grundlage der Wirtschaftslehre des Liberalismus entwickelte sich im 19. Jahrhundert der Hoch- oder Industriekapitalismus, zugleich aber auch der Gegensatz zwischen Unternehmertum und Arbeiterschaft (Klasse, Klassenkampf). Die Versuche, die damit entstandene soziale Frage durch Sozialreformen zu lösen, hatten nur einen Teilerfolg. Der wirtschaftliche Liberalismus war durch diese Entwicklung gezwungen, sich vom reinen Manchestertum zu lösen. In Auseinandersetzung mit dem Sozialismus entwickelten v. a. linksliberale Kräfte die Idee der genossenschatlichen Selbsthilfe (H. Schulze-Delitzsch). Obwohl sich die sozialreformerisch eingestellten Kräfte des Liberalismus engagiert der Lösung der sozialen Frage widmeten, konnten sie nicht verhindern, dass sich die Arbeiterbewegung, die in ihren Anfängen überwiegend im Lager der demokratisch-liberalen Parteien stand, bald vom Liberalismus abwandte.
Kulturpolitische Impulse des Liberalismus
Auf kulturpolitischem Gebiet forderte der Liberalismus, ausgehend von seinem Grundgedanken der Toleranz, die staatliche Schulaufsicht, die Einrichtung der Simultanschule, die Zivilehe, die Freiheit von Forschung und Lehre an den Universitäten, die Pressefreiheit sowie, in Ablehnung des kirchlichen oder staatlichen Gewissenszwangs, die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, damit verbunden die Trennung von Staat und Kirche (Laizismus, Kulturkampf). So verallgemeinerte der Liberalismus jene Abkehr von traditionellen Autoritäten, die sich auf religiösem Gebiet in der Reformation angebahnt hatte.
Die Krise des Liberalismus und ihre Folgen
War die nationale Frage bis in die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein in vielen Staaten Europas Ausdruck bürgerlicher Emanzipationsbestrebungen, so wurde sie seit den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts oft ein Element konservativer und nationalistischer Ideologien. Die mit wirtschaftlichen Depressionen und schweren sozialen Missständen verbundene Entwicklung der industriellen Gesellschaft erschütterte in ganz Europa langfristig den optomistischen Glauben an die selbsttätige Wirtschaftsregulierung durch die »unsichtbare Hand des Marktes« (Smith), eine Grundprämisse des Wirtschaftsliberalismus. Hinzu kam nach dem Ersten Weltkrieg die Verarmung bürgerlicher Besitz- und Bildungsschichten, die bis dahin in starkem Maße den Liberalismus getragen hatten. Seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts sah sich der Liberalismus in seiner Wirtschaftskonzeption v. a. von konservativer Seite mit Maßnahmen des Staatsinterventionismus, von sozialistischer und christlich-sozialer Seite mit dem Vorwurf konfrontiert, einer Klassengesellschaft zum Nachteil der sozial Schwachen Vorschub zu leisten. Die liberalen Parteien verloren an Rückhalt in der Bevölkerung; die Arbeiterschaft wandte sich schon früh dem Sozialismus (mit Verzögerung in Großbritannien) und den von ihm bestimmten Parteien der Arbeiterbewegung zu. Nach dem Ersten Weltkrieg erlebte der liberale Gedanke in Europa schwere Rückschläge, besonders in Deutschland; wo totalitäre Ideologien zur Macht gelangten, wurde der Liberalismus als eine Erscheinung der »atomistischen« Zersetzung des Volkes oder als Ideologie des Klassenfeindes scharf bekämpft und in seinen institutionellen Grundformen ausgeschaltet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war v. a. der Neoliberalismus um eine theoretische Erneuerung des Liberalismus - besonders auf wirtschaftlichem Gebiet - bemüht. Er lehnt im Besonderen die vom klassischen Wirtschaftsliberalismus geforderte Beschränkung des Staates auf die reine Sicherung von Freiheit und Eigentum ab und schließt staatliche Eingriffe sowie soziale Regelungen nicht mehr grundsätzlich aus. Der Staat soll vielmehr marktkonforme Rahmenbedingungen für den unbeschränkten Wettbewerb schaffen, jede monopolistische Machtentfaltung verhindern und zur Verstetigung und Stabilisierung der wirtschaftlichen Entwicklung beitragen. Innerhalb verschiedentlich modifizierter Formen und Einschränkungen hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch der Gedanke des Freihandels wieder durchsetzen und dem Welthandelssystem neue Impulse vermitteln können. Neoliberale Konzeptionen bildeten die Grundlage für die Entwicklung der sozialen Marktwirtschaft. Zahlreiche Grundprinzipien des Liberalismus, z. B. die Beachtung der Grundrechte sowie der Rechtsstaat und die repräsentative Demokratie als staatliche Organisationsprinzipien, wurden z. B. von den Gruppierungen der Sozialdemokratie und der christlichen Demokratie übernommen.
Der Liberalismus im ausgehenden 20. Jahrhundert
Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaftssysteme in Europa hat der Sozialismus als Alternativmodell zum Liberalismus an Einfluss und Attraktivität verloren. Die (unterschiedlich ausgeprägte) Öffnung zu Marktwirtschaft und parlamentarischen Demokratie bedeutet eine Hinwendung zu den wirtschaftlichen und politischen Prinzipien des Liberalismus; aufgrund der mit dem Transformationsprozess oft verbundenen wirtschaftlichen und politischen Instabilität kann von einer Renaissance des Liberalismus als Ideologie aber nicht die Rede sein. Auch in den traditionellen demokratischen Verfassungsstaaten, in denen der Liberalismus seine politische Hauptanliegen weitgehend verwirklichen konnte, sind die ökonomischen Leitbilder des Liberalismus angesichts der wirtschaftlichen Probleme umstritten. Den Chancen einer dem liberalen Freihandelspostulat entsprechenden weltwirtschaftlichen Verflechtung stehen destabilisierende Wirkungen der Globalisierung gegenüber. Hatte der Liberalismus schon durch den Sozialstaatsgedanken Modifikationen erfahren, so werden liberale Grundsätze heute u. a. auch unter ökologischen Gesichtspunkten (»ökosoziale Marktwirtschaft«) diskutiert.
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
Chancengleichheit · Demokratie · Freiheit · Gewaltenteilung · Konstitutionalismus · Kulturkampf · Laizismus · Liberale Internationale · liberale Parteien · Menschenrechte · Rechtsstaat
W. Röpke: Jenseits von Angebot u. Nachfrage (Bern 51979);
H. A. Winkler: L. u. Anti-L. (1979);
Polit. L. in der Bundesrep. Dtl., hg. v. L. Albertin (1980);
R. Dahrendorf: Der L. u. Europa (1980);
Z. Batscha: Studien zur polit. Theorie des dt. Früh-L. (1981);
Wie tot ist der L.? Nachdenken über ein Grundprinzip, hg. v. M. J. Lasky u. a. (1983);
G. Dietze: Reiner L. (1985);
L., hg. v. L. Gall (31985);
G. Watson: The idea of liberalism. Studies for a new map of politics (London 1985);
L. im Kreuzfeuer. Thesen u. Gegenthesen zu den Grundlagen der Wirtschaftspolitik, hg. v. H. G. Nutzinger (1986);
L. u. Sozialismus, hg. v. Thomas Meyer u. a. (1987);
L. im 19. Jh., hg. v. D. Langewiesche (1988);
D. Langewiesche: Liberalism and recent legal and social philosophy, hg. v. R. Bellamy (Wiesbaden 1989);
J. Rawls: Die Idee des polit. L. (1991);
J. Rawls: L. in Dtl. (41995);
I. Pies: Normative Institutionenökonomatik. Zur Rationalisierung des polit. L. (1993);
L. u. Region. Zur Gesch. des dt. L. im 19. Jh., hg. v. L. Gall u. a. (1995);
L. Interpretationen u. Perspektiven, hg. v. E. Brix u. a. (Wien u. a. 1996).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Volkswirtschaft: Ökonomische Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
Ideologien des 19. Jahrhunderts: Liberalismus, Konservativismus, Nationalismus
Europa im Vormärz: Um Verfassung und Nation
Liberalismus: Wirtschaftsliberalismus
Aufklärung in England: Freidenker, Deisten und Liberale
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Li|be|ra|lịs|mus, der; - [engl. liberalism, frz. libéralisme]: 1. im 19. Jh. entstandene, im Individualismus wurzelnde Weltanschauung, die in gesellschaftlicher u. politischer Hinsicht die freie Entfaltung u. Autonomie des Individuums fordert u. staatliche Eingriffe auf ein Minimum beschränkt sehen will. 2. liberales (1) Wesen; liberaler Zustand: während eine Verminderung der Gefahr das Bedürfnis nach L. und mehr Freiheit weckt (Dönhoff, Ära 132).
Universal-Lexikon. 2012.