Sur|re|a|lịs|mus 〈a. [zyr-] m.; -; unz.; seit Anfang des 20. Jh.〉 Strömung in Kunst u. Literatur, die das Fantastische, das Unbewusste u. Traumhafte u. seine Verschmelzung mit der Wirklichkeit darzustellen sucht [<frz. sur „über“ + Realismus]
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Sur|re|a|lịs|mus , der; - [frz. surréalisme, aus: sur (< lat. super) = über u. réalisme = Realismus]:
(nach dem Ersten Weltkrieg in Paris entstandene) Richtung moderner Kunst u. Literatur, die das Unbewusste, Träume, Visionen u. Ä. als Ausgangsbasis künstlerischer Produktion ansieht.
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Surrealịsmus
[französisch, aus sur »über« und réalisme »Realismus«] der, -, künstlerisch-literarische Avantgardebewegung, die als Reaktion auf den Zusammenbruch traditionell-abendländischer Wertvorstellungen im Ersten Weltkrieg entstand und deren Ziel die Wiederherstellung der ursprünglichen Ganzheit des Menschen durch die Befreiung des Geistes aus inneren und äußeren Zwängen war. Der Surrealismus bezog seine Impulse aus der deutschen Romantik (Novalis) und aus jener Tradition der französischen Literatur, die Unbewusstes, Übersinnliches, Visionäres (G. de Nerval, Lautréamont, die Symbolisten) gestaltete; unter Einbeziehung der zeitgenössischen Wissenschaft (Psychiatrie, Psychoanalyse: P. Janet, S. Freud) wurde Literatur als Medium der Weltveränderung wie der (Selbst-)Erkenntnis neu definiert. In Abgrenzung vom anarchistisch-nihilistischen Tenor des Dadaismus begriff sich der Surrealismus als regelgeleiteten Prozess, als reinen »psychischen Automatismus« (Janet), der Einblicke in die wirkliche Funktionsweise des Denkens unter Ausschaltung jeder rationalen Kontrolle wie aller ästhetischen und moralischen Bedenken gewährt. Im systematischen Selbstexperiment - Traumberichte (»récit de rêve«), »automatisches Schreiben« (Écriture automatique, Janet) - wurde der Zugang zur Welt des Halb-, Vor- und Unbewussten gesucht, zur Wahrheit von Traum, Wahnsinn, Halluzination, zur Realität des Vor- und Irrationalen. Ziel war die harmonische Synthese vermeintlicher Widersprüche in einer Art »absoluter Wirklichkeit«, der »surréalité«, die die Elemente des Traums, des Zufalls, des Wunderbaren in das Alltagsleben integriert. Dies führte auch zur Befreiung der Sprache aus den Fesseln der Logik durch eine Poesie, die dem - unerwarteten, bizarren, überraschenden - Bild (P. Reverdy) Dominanz einräumte, durch systematische Aktivierung kreativ-spielerischer Möglichkeiten unvermutet erhellende Koinzidenzen freilegte und damit weit über den Bereich des Literarischen ausgriff (z. B. in der Theorie vom Objet trouvé). Die zentralen Prosastücke des literarischen Surrealismus (P. Soupault: »Le bon apôtre«, 1923; L. Aragon: »Le paysan de Paris«, 1926; A. Breton: »Nadja«, 1928, und J. Gracq: »Au château d'Argol«, 1938) zeigen ebenso wie die Lyrik (»Les champs magnétiques« von Breton und Soupault, 1920; von Breton »L'amour fou«, 1937; von P. Éluard »Capitale de la douleur«, 1926, und »La vie immédiate«, 1932) Neuerungen der literarischen Techniken auf. V. a. der Protokoll- und Dokumentcharakter, die Collage- und Fragmenttechnik der surrealistischen Prosa sind dem mimetischen Realismus des 19. Jahrhunderts diametral entgegengesetzt und illustrieren darüber hinaus die surrealistische Überzeugung von der Unauflöslichkeit der Trias Revolution-Eros-Poesie. Weitere, den Surrealismus sporadisch, aber nachhaltig prägende Autoren waren u. a. A. Artaud, G. Bataille, J. Delteil, R. Desnos, R. Vitrac, R. Char, R. Crevel, M. Leiris und J. Prévert.
Der Begriff des Surrealismus, 1917 von G. Apollinaire geprägt, wurde 1924 von Breton im 1. »Manifeste du surréalisme« aufgegriffen, worin er das künstlerisch-ideologische Programm der Bewegung formulierte, zu deren Gründungsmitgliedern auch Soupault, Aragon, Éluard und B. Péret gehörten. Zentrum der Bewegung war Paris. Von der produktiven Anfangsphase (1924-29: »Second manifeste du surréalisme«, 1930) bis zu seiner offiziellen Auflösung (1969) war der Surrealismus durch turbulente Debatten, provokante Aktionen, eklatante Ausschlüsse (u. a. 1926: Soupault, 1932: Aragon, 1939: Éluard) und Neueintritte sowie spektakuläre politische Stellungnahmen geprägt (politisches Engagement unter dem Eindruck des Marokkokrieges, problematische Zusammenarbeit mit der KPF 1925-35 infolge der ideologischen Verhärtung in der UdSSR). Die meist von Breton selbst herausgegebenen, einander ablösenden Zeitschriften - »Littérature« (1919, 1922), »La révolution surréaliste« (1924), »Le surréalisme au service de la révolution« (1930), »Minotaure« (1933), »VVV« (1942), »Néon« (1948), »Le surréalisme, même« (1956), »L'Archibras« (1967-69) - sowie die Flugblätter und Pamphlete reflektieren die wechselvolle Geschichte des politischen Surrealismus.
In neuerer Zeit hat sich die junge frankophone Literatur in kreativer Weise eines Surrealismus bemächtigt, der zumindest partiell Parallelen zum originären kulturellen Substrat aufweist (Antillen: A. Césaire, Senegal: L. S. Senghor; Algerien: H. Tengour, Marokko: M. Khaïr-Eddine). Darüber hinaus sind Methoden und Techniken des Surrealismus in der Literatur der Gegenwart in vielfältiger Weise produktiv.
Seinem globalen Anspruch gemäß hat der Surrealismus schon früh bildende Kunst und Film inspiriert.
In der bildenden Kunst steht die Erweiterung des Schaffensprozesses und die damit verbundene Ausklammerung einer logischen Konzeption aus dem künstlerischen Werk (Automatismus) im Mittelpunkt; Bildformen und -techniken wurden neu- oder weiterentwickelt (Collage, Frottage, Grattage). Die Einflüsse moderner Tiefenpsychologie unterscheiden den Surrealismus von der fantastischen Malerei vergangener Jahrhunderte (H. Bosch, G. Arcimboldo, die Symbolisten des 19. Jahrhunderts). In der Malerei gehört die Pittura metafisica mit ihrer verfremdeten Dingwirklichkeit zu den wichtigsten Voraussetzungen; ein weiterer bedeutender Anreger war M. Ernst, selbst ein Hauptvertreter des Surrealismus. 1925 fand in Paris die erste Gruppenausstellung des Surrealismus statt, auf der auch P. Picasso, P. Klee, H. Arp und M. Ray vertreten waren. Es wird zwischen zwei Varianten unterschieden: Maler wie Y. Tanguy und S. Dalí stellten nicht zusammengehörige Dinge oder Formen im perspektiv. Raum naturalistisch dar (»veristischer Surrealismus«); A. Masson, J. Miró, H. Arp u. a. bedienten sich einer abstrakten, symbolhaften Formensprache (»absoluter Surrealismus«). In der Plastik dominierte die Erfindung des »surrealistischen Gegenstands«, der Erfahrungen des Traums konkretisieren sollte (Alberto Giacometti, M. Ray, Meret Oppenheim) oder sich als alltägliches Objekt den Projektionen aus dem Unterbewusstsein öffnet. Ausläufer der surrealistischen Konzeption bestimmten weitgehend die expressiv-totemistische Plastik der 1940er- und 50er-Jahre. Mit M. Ray, R. Ubac und Brassaï erlangte der Surrealismus auch für die Fotografie Bedeutung.
Der Surrealismus war eine weltweite Erscheinung der modernen Kunst, besonders nachdem während des Zweiten Weltkrieges Ernst, Masson und Tanguy in die USA emigriert waren. Dort hatte er u. a. Anhänger in J. Cornell, Dorothea Tanning und dem Fotografen F. Sommer. Weitere bedeutende Vertreter in Europa waren in Belgien R. Magritte und P. Delvaux, in der Tschechoslowakei J. Štyrský und Toyen, in Dänemark W. Freddie, in Schweden M. W. Svanberg. Verglichen mit andern europäischen Ländern wirkte der Surrealismus in Deutschland (R. Oelze, E. Ende, M. Zimmermann) weniger nachhaltig. Nach dem Zweiten Weltkrieg regte der vom Surrealismus propagierte Automatismus den abstrakten Expressionismus an. Tendenzen und Elemente des Surrealismus wurden bis heute immer wieder aufgegriffen (Neo- oder Postsurrealismus).
Auch im Film wurden surrealistische Darstellungsweisen realisiert (R. Clair, M. Ray, L. Buñuel, S. Dalí, J. Cocteau, H. Richter u. a.), die vereinzelt im Experimentalfilm Nachahmung fanden.
Ausgaben: Tracts surréalistes et déclarations collectives: 1922-1969, herausgegeben von J. Pierre, 3 Teile (Paris 1980-83); Als die Surrealisten noch recht hatten. Texte und Dokumente, herausgegeben von G. Metken (21983); Surrealismus in Paris 1919-1939. Ein Lesebuch, herausgegeben von K. Barck u. a. (Leipzig 21990); Anthologie de l'humour noir, herausgegeben von A. Breton (Neuausgabe Paris 1991); A. Breton: Die Manifeste des Surrealismus (aus dem Französischen, 28.-30. Tausend 1996).
J.-C. Michel: Les écrivains noirs et le surréalisme (Sherbrooke 1982);
J. Chenieux-Gendron: Le surréalisme (Paris 1984);
C. Abastado: Introduction au surréalisme (ebd. 21986);
Dictionnaire abrégé du surréalisme (Neuausg. Paris 1991);
M. Nadeau: Gesch. des S. (a. d. Frz., 23.-24. Tsd. 1992);
Les surréalistes, Beitrr. v. J.-L. Rispail u. a. (Neuausg. Paris 1995);
P. Bürger: Der frz. S. Studien zur avantgardist. Lit. (Neuausg. 1996).
R. Short: Dada u. S. (a. d. Engl., 1984);
Explosante-fixe. Photographie & surréalisme, Beitrr. v. R. Krauss u. a. (Paris 1985);
G. Picon: S. 1919-1939 (a. d. Frz., 1988);
A. Vowinckel: S. u. Kunst 1919 bis 1925 (1989);
Y. Duplessis: Der S. (a. d. Frz., Neuausg. 1992);
R. Mundel: Bildspur des Wahnsinns. S. u. Postmoderne (1997).
A. Kyrou: Le surréalisme au cinéma (Paris 1985).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Surrealismus in der bildenden Kunst: Für die Allgewalt des Traums
Surrealismus in der Literatur: Traum, Poesie und Existenz
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Sur|re|a|lịs|mus, der; - [frz. surréalisme, aus: sur (< lat. super) = über u. réalisme = Realismus]: (nach dem Ersten Weltkrieg in Paris entstandene) Richtung moderner Kunst u. Literatur, die das Unbewusste, Träume, Visionen u. Ä. als Ausgangsbasis künstlerischer Produktion ansieht.
Universal-Lexikon. 2012.