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jüdische Kunst
jüdische Kunst,
 
die Bauten, Bildwerke (Malerei, Grafik, Buch- und Schriftkunst, Plastik) und kunsthandwerkliche Geräte, die für den jüdischen Kultus geschaffen wurden und solche, in denen Künstler das Judentum und seine Traditionen, jüdische Existenzfragen, die Lebenswelten von Juden und damit im Zusammenhang stehende historische Ereignisse, soziale, politische, religiöse Zeitströmungen und Probleme thematisieren. Sie umfasst die in Gettos, Konzentrations- und Vernichtungslagern 1933-45 entstandene sowie die nach 1945 aus der Erfahrung mit nationalsozialistischer Verfolgung hervorgegangene Kunst.
 
Die bildende Kunst stand bis in die Neuzeit im Dienst der Erfüllung religiöser Pflichten. Das Gebot der Gottesverehrung beinhaltet das Prinzip von »Hiddur mizwa«, was «Glanz und Ehre der Pflicht« bedeutet und dazu auffordert, die religiösen Einrichtungen und Geräte »schön zu gestalten«. Dem Gebot steht ein Verbot gegenüber. Nach 2. Mose 20, 4-5 und 5. Mose 5, 8-9 dürfen keine Bilder und Plastiken hergestellt werden, die der Gottesanbetung und kultischen Handlungen dienen. Dieses Bilderverbot war wesentlich für die Durchsetzung des Monotheismus und verhinderte den Götzenkult im Judentum, schuf aber auch die Voraussetzung für die ikonoklastischen Phasen der jüdischen Geschichte, die der Kunst und den Bildern abträglich waren.
 
Das erste bedeutende Werk der jüdischen Baukunst ist der unter König Salomo im 10. Jahrhundert v. Chr. errichtete 1. Tempel in Jerusalem (587 v. Chr. zerstört). An der Stelle des nachexilischen 2. Tempels in Jerusalem ließ Herodes der Große auf einer durch Aufschüttung und Stützmauern (ein Teil von ihnen ist die Klagemauer) verdoppelten Grundfläche ab 23 v. Chr. einen Neubau errichten. Architektur und Dekoration sind von mesopotamischen und römisch-hellenistischen Vorbildern beeinflusst. Mit seiner Zerstörung 70 n. Chr. durch die Römer ging er als das zentrale Heiligtum im religiösen und nationalen Leben der Juden in die religiöse Tradition ein, die ihn mystisch-mythologisch verklärte. Verstanden als Idealentwurf eines göttlich inspirierten Bauwerkes, fand der Tempel in der jüdischen, christlichen und islamischen Kunst seinen Niederschlag. Die Tempelrekonstruktionen sind ein eigenständiger Zweig der Architektur- und Kunstgeschichte. Von den Synagogen Israels des 3.-4. Jahrhunderts gibt es archäologische Funde, die eine reiche Kunst am Bau, z. B. Mosaikfußböden, Portal- und Säulenschmuck, Friese (Beth-Alpha, Hammat, Bar'am), plastische Bildreliefs in der Sepulkralkunst (Bet Shean), Wandmalerei im Stil byzantinischer Bildzyklen (Dura-Europos) dokumentieren. Zu den bedeutendsten europäischen Synagogen des Mittelalters gehören die von Worms (1. Bau 1034, 1096 zerstört, Männerschul 1174/75, Frauenschul 1213; nach Zerstörung von 1938 wieder aufgebaut), wo auch ein romanisches Bad erhalten ist, Prag (Altneuschul, um 1275) sowie die spanischen Synagogen im Mudéjarstil des 13. und 14. Jahrhunderts (Toledo, Córdoba). Eine spezielle Bauform entstand im 16. Jahrhundert in Polen mit den aus Holz errichteten Festungssynagogen, in denen sich die jüdische Bevölkerung bei Pogromen verschanzen konnte, und die häufig mit volkskundlicher Malerei und Schnitzwerk geschmückt waren. Der Barock im 17./18. Jahrhundert, v. a. aber der Historismus des 19. Jahrhunderts, fand im Synagogenbau seinen Niederschlag. Ins 19. Jahrhundert fallen auch die Versuche, eine Theorie und einen eigenen Stil für die Baugattung Synagoge zu entwickeln. Neben der Synagoge gehören das Ritualbad (Mikwe) und die Friedhöfe zu den religiösen Bauwerken des Judentums.
 
Nach den Wandmalereien der Synagoge von Dura-Europos sind die illuminierten hebräischen Handschriften, die um 1200 in Spanien aus der maurischen Ornamentalkunst hervorgingen, die ältesten Beispiele der Malerei im Judentum. Der um 1272 datierte Wormser Machsor (heute Jerusalem, Israel-Museum) ist die erste bekannte hebräische Handschrift, die auf deutschem Boden entstand. Prachtvoll illuminiert ist auch die Darmstädter Passah-Haggada (um 1430; Darmstadt, Hessische Landes- und Hochschulbibliothek). Mit der Erfindung der Buchdruckerei traten Holzschnitte und Kupferstiche an die Stelle der illuminierten Inkunabeln. Die hebräische Buchdruckkunst wurde ein Teilbereich der religiösen jüdischen Kunst, mit Zentren seit dem 15. Jahrhundert in Venedig, Soncino (bei Cremona), Istanbul, Prag, Lemberg, Warschau, Wilna, Amsterdam. Eine besonders Form der Buchmalerei ist die seit dem 9. Jh (Moshe ben Asher-Codex, Tiberias, 895) nachgewiesene Mikrographie, die mit kleiner Schrift hebräischer Bücher illustriert, indem die Kleinschrifttexte zur Füllung von Marginalien, Textspalten und Folioseiten als schmückende Umrahmungen oder als Ornamente und Figuren genutzt werden, wobei in der dekorativen Figuration besonders die Tiere und Bestiarien auffallen. Die Mikrographie ist eine Kunstform des Judentums, die weder im Christentum noch im Islam einen vergleichbaren Stellenwert hat. Ein weiteres Spezialgebiet der Buch- und Schriftkunst sind die Landkarten und Ansichten des Heiligen Landes und Jerusalems, die mit der Buchdruckerei aufkamen und mit der christlichen Palästina-Sehnsucht und der jüdischen Heimkehr nach Zion im 19. Jahrhundert in die Massenproduktion nostalg. Palästina-Druckwerke für Pilger und Reisende übergingen.
 
Die Zeremonialkunst der Synagoge umfasst den holzgeschnitzten Thoraschrein (Aron ha-Kodesch), holzgeschnitzte und steinerne Estraden, bemalte Wandtäfelungen, geschnitzte Beschneidungsbänke, Textilien (Thoravorhänge, Mäntelchen, Beschneidungswimpel), Thoraschmuck, wie Kronen, Rimmonim (Verzierung der Rollstäbe), Thoraschilde, Zeiger, sowie Lampen aus Silber, Messing, Gelbguss, Eisen, Blech, dazu auch Chanukkaleuchter und das ewige Licht. Zur häuslichen Kleinkunst gehört die Mesusa (Kapsel mit Bibeltext am Türpfosten des jüdischen Hauses), Sabbat- und Chanukkalampe, Seder- und Purimteller. In der jüdischen Zeremonialkunst vereinigen sich Elemente aus religiöser Architektur und religiöser Schriftkunst mit kunsthandwerklichem Stil und künstlerische Ästhetik der christlichen und islamischen Umwelt, je nach der Vorliebe des jüdischen Auftraggebers und unabhängig davon, ob die Künstler jüdisch, christlich oder islamisch waren.
 
Die Emanzipation der Juden Ende des 18. Jahrhunderts und besonders im 19. Jahrhundert brachte ihnen das Recht der Berufswahl. Der Maler M. D. Oppenheim ging als erster Jude, der in seinem Werk jüdischen Religionsbrauch thematisierte, in die Emanzipationsgeschichte ein. Andere Maler des 19. Jahrhunderts konvertierten zum Christentum, um als Künstler Anerkennung zu finden.
 
Im Zionismus wurde von 1890 an die Idee der kulturellen Renaissance mit dem Ideal einer Kunst von Juden und für Juden verknüpft. Die wichtigsten Vertreter dieses Kulturzionismus waren M. Buber und Ephraim Mose Lilien (* 1874, ✝ 1924), die für den 5. Zionistenkongress 1901 in Basel eine bahnbrechende Ausstellung jüdischer Künstler einrichteten, die einem neuen hebräischen Mythos und der programmatischen Erneuerung der hebräischen Kultur verpflichtet war. Die Erneuerung, auch die Neuinterpretation älterer Werke, bezog sich auf bildende und darstellende Kunst, auf Literatur, Sprache, Musik, Kunsttheorie, Stil und Ästhetik, Kunstgeschichte, wie auf das Hebräische und Jiddische. Biblische Themen, jüdische Volkskunst und traditionelles Kunstgewerbe erfuhren eine »Neuauflage«. Insbesondere die 1906 in Jerusalem von Boris Schatz (* 1866, ✝ 1929) gegründete Bezalel-Kunstschule übernahm die Bewahrung alter Traditionen des Judentums in neuen Stil- und Gestaltungsformen, um im Sinne einer jüdischen Moderne zu wirken.
 
M. Liebermann, der Kopf der Berliner Sezession und einer der wichtigsten Vertreter des deutschen Impressionismus, der zeitlebens nicht als »jüdischer Maler« gelten wollte und sich selbst als Preuße und Jude sah, war der letzte Maler der Emanzipationsepoche. Zum Ende seines Lebens musste der in der Weimarer Republik hoch geachtete Künstler 1933-35 noch eine für ihn unerwartete gesellschaftliche Ausgrenzung erleben.
 
 Jüdische Kunst unter nationalsozialistischer Herrschaft
 
Aufgrund der Rassenpolitik des Nationalsozialismus und der nationalsozialistischen Judenverfolgung (Holocaust) galt jeglichen Kunstschaffen eines Juden oder einer Jüdin als »jüdisch« und damit als »volksfremd« und »entartet«. Künstler verloren ihren Beruf, ihre Existenz, ihren Namen und ihre Ehre. Sie mussten emigrieren und flüchten. Ihre Werke wurden entehrt, verfemt und vernichtet. Viele Künstler und im Kunstbetrieb tätige Juden starben zusammen mit ihren Familienangehörigen in den KZ und Vernichtungslagern.
 
Innerhalb der Zwangsarbeit in den KZ waren einige Künstler gezwungen, im Dienst der SS und der Lagerverwaltung in ihrem Beruf tätig zu sein. In Theresienstadt z. B. waren Maler gezwungen, Porträts, Landschaften und Gemäldekopien sowie Kulissen für propagandistische Zwecke herzustellen, während andere im KZ Sachsenhausen britische und amerikanische Banknoten zur Verbreitung von Falschgeld zeichnen mussten. Auch antisemitisches Propagandamaterial wurde in den KZ produziert.
 
In dieser Situation gelang es einigen wenigen Künstlern heimlich Mal- und Zeichenutensilien beiseite zu schaffen und alltägliches Lagerleben im Bild festzuhalten. Erhalten blieben die Zeichnungen von Fritta (eigentlich Fritz Taussig, * 1909, ✝ Auschwitz 1944), der die technische Abteilung des KZ Theresienstadt leitete. Bekannt geworden sind auch die Zeichnungen der inhaftierten Kinder und Jugendlichen von Theresienstadt. Nur wenig von der in Lagern entstandenen Kunst blieb erhalten, versteckt und vergraben auf dem Lagergelände. Das meiste befindet sich heute in Yad Vashem in Jerusalem, im Museum des ehemaligen KZ Theresienstadt, im Jüdisch-Historischen Institut in Warschau. Kunstwerke, die 1933-45 aus kulturellen Einrichtungen jüdischer Gemeinden, einschließlich Museen, konfisziert wurden und in Sammeldepots der Gestapo gelangten, kamen nach 1945 aufgrund der Restitutionsgesetze vorwiegend an das Bezalel-Museum (heute Israel-Museum), Jerusalem.
 
 Jüdische Kunst nach 1945
 
Nach 1945 haben sich unzählige Künstler der unterschiedlichsten Nationalität mit dem Unfassbaren der nationalsozialistischen Judenverfolgung und dem Völkermord an den Juden beschäftigt. Die kunstgeschichtliche Frage, ob in der bildenden Kunst die jüdische Kunst die von Juden geschaffene Kunst ist, oder die von Juden für religiöse Zwecke benutzte, oder aber die themenspezifische Darstellung all dessen, was in der individuellen wie der gesellschaftlichen Betrachtung mit »jüdisch« umschrieben werden könnte, hat besonders in Deutschland die kunstgeschichtliche Beschäftigung mit jüdischer Kunst und der so genannten »Art after Auschwitz« (Kunst nach Auschwitz) verhindert. Die Ansätze einer auf jüdische Kunst bezogenen kunsthistorischen Disziplin wurden in Deutschland entwickelt, aber mit dem Jahr 1933 zunichte gemacht. Das Fach ging mit seinen wissenschaftlichen Vertretern in die Emigration (Rachel Wischnitzer, * 1885, ✝ 1989, Columbia University, New York; Karl Schwarz, * 1885, ✝ 1962, Tel Aviv Museum, Tel Aviv). In den USA wurde nicht nur die Disziplin jüdische Kunst sondern das Fach Kunstgeschichte maßgeblich von Kunsthistorikern etabliert, die ab 1933 aus den Hochschulen Deutschlands vertrieben wurden und emigrieren mussten (u. a. Franz Landsberger, * 1883, ✝ 1964; E. Panofsky).
 
 Jüdische Kunst in Israel
 
In Israel war und ist die jüdische Kunst gemäß dem zionistischen Programm ein selbstvertändliches, nationales Anliegen. In Forschung und Lehre wird das Fach heute maßgeblich vom Center for Jewish Art in Jerusalem vertreten. israelische Kunst
 
Literatur:
 
Die Kunst der Juden, hg. v. B. C. Roth, 2 Bde. (a. d. Hebr., 1963-64);
 
Hebrew illuminated manuscripts, hg. v. B. Narkiss (New York 1969);
 
Ceremonial art in the Judaic tradition, bearb. v. A. Kanof u. a., Ausst.-Kat. (Raleigh, N. C., 1975);
 
Jüd. Brauchtums- u. Kultgeräte, bearb. v. G. Eimer, Ausst.-Kat. (1977);
 J. Gutmann: Buchmalerei in hebr. Hss. (a. d. Engl., 1978);
 H. Hammer-Schenk, Synagogen in Dtl., Gesch. einer Baugattung im 19. u. 20. Jh. (l981);
 S. Milton u. J. Blatter: Art of the Holocaust (New York 1981);
 A. Rubens, A Jewish Iconography (Neuaufl. London 1981);
 M. S. Costanza: Bilder der Apokalypse. Kunst in Konzentrationslagern u. Ghettos (a. d. Amerikan., 1982);
 U. u. K. Schubert: Jüd. Buchkunst, 2 Bde. (Graz 1983-92);
 N. Shilo-Cohen: Bezalel 1906-1929, Israel-Museum Jerusalem (Jerusalem 1983);
 A. Kampf: Jüd. Erleben in der Kunst des 20. Jh. (a. d. Amerikan., 1987);
 
Die Architektur der Synagoge, hg. v. H.-P. Schwarz (1988);
 C. H. Krinsky: Europas Synagogen (a. d. Engl., 1988);
 V. Bendt: Judaica, Ausst.-Kat. Jüd. Museum (1989);
 H. Künzl: J. K. Von der bibl. Zeit bis in die Gegenwart (1992);
 
After Auschwitz. Responses to the Holocaust in Contemporary Art, hg. v. M. Bohm-Duchen (London 1995);
 E. Cohn-Wiener: Die j. K. Ihre Gesch. von den Anfängen bis zur Gegenwart (Neuausg. 1995);
 
Judentum in Lit. u. Kunst, hg. v. S. R. Keller (a. d. Engl., 1995).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Synagogenbau und liturgisches Gerät
 

Universal-Lexikon. 2012.