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Jesus Christus: Eine außergewöhnliche Wirkungsgeschichte
Jesus Christus: Eine außergewöhnliche Wirkungsgeschichte
 
Das Leben Jesu von Nazareth setzte eine außergewöhnliche Wirkungsgeschichte in Gang. Das auf ihn zurückzuführende Christentum breitete sich in der Antike im Mittelmeerraum aus, danach in ganz Europa, zur Zeit schließlich gibt es eine weltweite Mission, sodass schon mehr als zwei Drittel aller Christen in Afrika, Asien und Lateinamerika leben. Diese Tatsache ist um so erstaunlicher, als sich Jesu nur kurzes Wirken von einem bis drei Jahren unbeachtet in einer abgelegenen Provinz des damaligen Römischen Reiches abspielte, er als Verbrecher hingerichtet wurde und sich seine frühen Anhänger meist aus den unteren Bevölkerungsschichten rekrutierten. Dennoch fand er - und findet bis heute zunehmend - Anhänger, die sich an ihm orientieren, seine ethischen Impulse zu verwirklichen suchen und ihm, der die großen religiösen und humanen Traditionen der jüdischen Religion, der er bis zu seinem Tod zugehörte, auf einfache Weise zur Sprache brachte, »nachfolgen«.
 
Wie bei vielen Großen vergangener Zeiten ist auch die Biographie Jesu nur ungenau bekannt. Es gibt zwar einige außerbiblische Zeugnisse, die aber nur wenige Angaben bieten. Hauptquelle ist das Neue Testament, vor allem die etwa zwischen 70 und 90 von uns nicht bekannten Judenchristen abgefassten vier Evangelien, die alle über das öffentliche Wirken Jesu von der Taufe durch Johannes bis zum Tod berichten; das Matthäus- und das Lukasevangelium stellen ihren Ausführungen noch die Kindheitsgeschichten voran, die vor allem um die Geburt Jesu kreisen, und fügen sie noch Erscheinungsberichte des Auferstandenen hinzu.
 
Weil die Evangelien Jesus als Heilsmittler verkünden, wählten sie unter den ihnen vorliegenden Jesustraditionen nur die Stoffe aus, die für ihre Absicht zweckmäßig schienen; alles Biographische, das uns heute interessieren würde, war ihnen nicht berichtenswert, und nicht selten werden auch scheinbar biographische Notizen geboten, die aber in Wirklichkeit eine theologische Aussage beinhalten - wie etwa der Hinweis auf die Geburt Jesu in Bethlehem, der »Stadt Davids«, der ihn als »Davidssohn«, also als »Messias«, kennzeichnen soll; wahrscheinlich aber ist Jesus in Nazareth geboren. Auch gibt es Abweichungen in der Schilderung der Abfolge der Ereignisse vor allem zwischen Matthäus, Markus, Lukas auf der einen und Johannes auf der anderen Seite: Während die ersteren zum Beispiel den Eindruck erwecken, Jesus habe etwa ein Jahr lang öffentlich gewirkt, sind es nach Johannes rund zwei bis drei Jahre gewesen. Die Tempelreinigung verlegt Johannes an den Beginn, die drei anderen ans Ende des Wirkens Jesu, und auch der Todestag wird nicht übereinstimmend referiert. So kann zwar der Rahmen des Lebens Jesu in einigen wesentlichen Stücken als gesichert gelten, während viele Einzelheiten offen bleiben müssen.
 
Anders sieht es aus in Bezug auf die »Sache Jesu«. Vor allem in den Evangelien des Matthäus, Markus und Lukas finden sich viele Überlieferungen, die in Sprache, Theologie und Ethik in die Jesuszeit zurückreichen und ein hinreichend zuverlässiges Bild von dem liefern, was Jesus gesagt und getan hat, worum es ihm also ging; demgegenüber zeichnet das Johannesevangelium einen Jesus, der dem Stadium einer viel späteren Gemeindetheologie entspricht.
 
Wahrscheinlich wurde Jesus zwischen den Jahren sieben und vier vor Beginn unserer Zeitrechnung zur Zeit des Königs Herodes in Nazareth als Sohn des Zimmermanns Joseph und seiner Frau Maria geboren, wuchs mit seinen Geschwistern in seiner Heimatstadt auf, sprach als Muttersprache Aramäisch, verstand wohl auch die hebräische Sprache der Bibel, vielleicht auch ein wenig Griechisch, die damalige Umgangssprache im Römischen Reich.
 
Um das Jahr 28 n. Chr. fing Johannes, ein Mann, der in vielem dem Gedankengut nahe stand, wie es in dem jüdischen Kloster Qumran am Toten Meer vertreten wurde, zu predigen an. Er forderte eine radikale Umkehr, weil seiner Meinung nach das Ende dieser Geschichte, das strenge Gericht und die Königsherrschaft Gottes unmittelbar bevorstanden; nur wer sich bekehre, könne dem Gericht entgehen. Diese Predigt war wohl der historische Anlass, der Jesus aus seinem bisherigen Leben in Nazareth und im Beruf seines Vaters herausriss. Jesus wurde Schüler des Johannes und ließ sich taufen.
 
Bald aber scheint er sich vom Täufer wieder getrennt zu haben. Der Grund ist wohl darin zu sehen, dass er anderer Meinung war über die Rolle von Umkehr und Königsherrschaft Gottes. Zwar predigt auch Jesus seinen Zuhörern, sie sollten umkehren; dies wurde aber bei ihm nicht als Bedingung für die Zugehörigkeit zum Reich Gottes angesehen, die vielmehr ohne jede Vorbedingung von dem Sünder liebenden Gott geschenkt war; die Umkehr erscheint jetzt als Folge einer neuen Existenz, nicht als deren Voraussetzung. Auch fasst Jesus die Königsherrschaft Gottes nicht, wie der Täufer, als eine rein futurische, wenn auch nahe, sondern als gegenwärtige Größe auf; mit seinem Auftreten hat sie schon begonnen.
 
So fängt er selbst an, die Sünderliebe Gottes zu verkünden. Er sammelt Jünger um sich, die nicht, wie bei einem Rabbi, dem Gesetz, oder, wie bei dem Täufer, der Umkehrpredigt verpflichtet sind; er fordert vielmehr persönliche Nachfolge, weil im Gericht das Verhalten zu Jesus selbst entscheidend ist (Lukas 12,8) - ein weit reichender Anspruch, in dem die Trennung der Christen nach Jesu Tod von der jüdischen Mutterreligion angelegt war. Auch in seinem Verhalten setzte er sich über manche Regelungen des Gesetzes hinweg und feierte mit »Sündern« an einem Tisch.
 
Meist zog Jesus als Wanderprediger, vorwiegend in Galiläa, umher und lehrte in Synagogen, Privathäusern oder unter freiem Himmel; Adressaten waren alle Juden, nicht aber »Heiden«. Wie oft er in Jerusalem war, muss offen bleiben. Eine oder auch die einzige Reise führte schließlich zum Konflikt. Er wurde im Auftrag jüdischer offizieller Kreise verhaftet und am folgenden Tag von dem römischen Präfekten Pontius Pilatus zum Tod verurteilt, von dessen Soldaten gefoltert und am Kreuz hingerichtet. Pilatus wird Jesus wohl aus politischen Gründen, wegen eines befürchteten Aufruhrs, hingerichtet haben. Wieweit auch die jüdischen Kreise, die ein Eingreifen gegen Jesus betrieben hatten, vor allem politische Wirren befürchteten oder - wofür manches spricht - auch religiöse Gründe hatten, lässt sich nicht mit Sicherheit entscheiden. Wahrscheinlich starb Jesus am Freitag, dem 7. April des Jahres 30.
 
Es gehört zu den erstaunlichen Phänomenen der Religionsgeschichte, dass die Hinrichtung dieses Wanderpredigers, der nur kurze Zeit aufgetreten war, nicht die Jesusbewegung beendete. Nach einem anfänglichen Schock fingen seine Anhänger an, weiterhin seine Sache zu verkünden; sie sahen sie nicht mit dem Tod Jesu als gescheitert an und predigten ihren Rabbi so als den weiterhin Gültigen und Lebendigen, als den »Auferstandenen«, und seinen Tod nicht als Katastrophe, sondern als »Opfer«. Bald schlossen sich auch Juden aus der Diaspora an und »Heiden« wurden aufgenommen; der Keim für die Entstehung der universalen Kirche war gelegt.
 
Prof. Dr. Karl-Heinz Ohlig
 
Literatur:
 
Christologie, bearbeitet von Karl-Heinz Ohlig. Band 1: Von den Anfängen bis zur Spätantike. Graz u. a. 1989.
 Ohlig, Karl-Heinz: Fundamentalchristologie. Im Spannungsfeld von Christentum und Kultur. München 1986.
 Theissen, Gerd und Merz, Annette: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch. Göttingen 1996.

Universal-Lexikon. 2012.