Leis|tungs|ge|sell|schaft 〈f. 20; unz.〉 vom Leistungsprinzip geprägte Gesellschaft
* * *
Leis|tungs|ge|sell|schaft, die:
↑ Gesellschaft (1), in der vor allem die persönlichen ↑ Leistungen (2 a) des Einzelnen für seine soziale Stellung, sein Ansehen, seinen Erfolg usw. ausschlaggebend sind.
* * *
I Leistungsgesellschaft,
häufig genutzter Begriff für moderne Industriegesellschaften. In einer Leistungsgesellschaft werden die materiellen und sozialen Chancen jedes Individuums und jeder gesellschaftlichen Gruppe sowie die soziale Anerkennung und die Stellung im System der Über- und Unterordnung nach »Leistung« vergeben.
Gegen das in den Industriegesellschaften geltende Leistungsprinzip lassen sich v. a. folgende Einwände erheben: In einer Gesellschaft mit einseitig ökonomischen Wertvorstellungen werden die humanen Werte leicht verdrängt; auch erhebt sich die Frage nach gerechten Maßstäben für die Leistungsbemessung. Die Neigung zur individualistisch-konkurrenzbetonten Lebenseinstellung, verbunden mit individuellem Stress und sozialer Entfremdung, ist Anlass zu weiterer Kritik.
Leistungsgesellschaft,
eine Industriegesellschaft, in der die materiellen und sozialen Chancen, die soziale Anerkennung und Bewertung sowie die sozialen Positionen nach der erbrachten individuellen Leistung vergeben werden.
Die Entwicklung zur bürgerlichen Gesellschaft ist gekennzeichnet durch die Auflösung der starren ständischen Gesellschaftsordnung und die dadurch bewirkte soziale Mobilität: Der Status des Einzelnen ist nicht mehr von Geburt an und für die Dauer des gesamten Lebens festgelegt; die vom Einzelnen erbrachte Leistung wird zu einem wesentlichen Kriterium für seine Stellung in der Gesellschaft. Sowohl die kapitalistisch-marktwirtschaftlich wie auch die kommunistisch-planwirtschaftlich organisierten Gesellschaften sind beziehungsweise waren Leistungsgesellschaften. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der Bewertungsmaßstäbe von Leistung (der Markt beziehungsweise die durch politische Instanzen formulierten [zentralen] Planvorgaben) sowie des Ausmaßes der Belohnung durch Erreichen von Sozialstatus beziehungsweise bestimmter Positionen innerhalb des sozialen Systems. Die Doppelfunktion dieses Leistungsprinzips ist schon in seinen Ursprüngen angelegt: einerseits in seiner Bedeutung für die Emanzipation des Bürgertums als gegen die Vorrechte des Adels vorgebrachtes Gleichheitsprinzip, andererseits in seiner Legitimierung bestehender sozialer Ungleichheit (bei gleichzeitiger rechtlicher Gleichheit), für die der Einzelne dann selbst als verantwortlich gilt.
Nach M. Weber ist die protestantische Ethik der Ausgangspunkt für die Entstehung einer Leistungsethik, die die Grundlage für die Entwicklung des Kapitalismus darstellte. Aus der zuvor religiös motivierten Askese wurde die innerweltliche Askese, die in Gestalt der Berufe (im Sinne »göttlicher Berufung«) in die Welt hineinwirkt. Der Übergang zur Leistungsgesellschaft des entwickelten Kapitalismus ist dadurch gekennzeichnet, dass überindividuelle sinngebende Werte, die vormals durch den Beruf vermittelt wurden, einem neuen Kriterium weichen müssen: dem der messbaren Leistung bei gleichzeitiger Vernachlässigung des Leistungsinhaltes. Die Leistung scheint damit zur einzig verbindlichen Kategorie der Industriegesellschaft geworden zu sein (Heinz Kluth [* 1921]), die Schritt für Schritt alle Bereiche der Gesellschaft erfasst.
Den Begriff Leistungsgesellschaft (»achieving society«) prägte der amerikanische Psychologe David Clarence MacClelland, der im Anschluss an M. Weber den Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung und der Entfaltung des Leistungsmotivs untersucht hat. Moderne Industriegesellschaften kann man insofern als Leistungsgesellschaft bezeichnen, als sowohl ihre Entstehung wie auch ihre Entwicklung auf den Eigenschaften der stark leistungsmotivierten Persönlichkeit beruhen.
Mit der Diskussion über die Industriegesellschaft als Leistungsgesellschaft rückt der Begriff des Leistungsprinzips ins Zentrum der wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzung. Als Funktionen, die das Leistungsprinzip als gesellschaftliche Ordnungsprinzip erfüllt, gelten 1) die Produktions- und Fortschrittsfunktion, d. h., die natürlichen und menschlichen Ressourcen einer Gesellschaft werden optimal ausnutzbar; 2) der Grundsatz der Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung; 3) die Funktion der Statuszuweisung und der sozialen Auslese; 4) die Allokationsfunktion, d. h. die Zuweisung finanzieller Mittel durch das Leistungslohnsystem. Die Akzeptanz des Leistungsprinzips beruht auf diesen Funktionen, die als formale und wertübergreifende Normen bestimmten Gerechtigkeits- und Rationalitätsansprüchen der pluralistischen Gesellschaft genügen. Problem jeder Einschätzung der Leistungsgesellschaft bleibt die Frage, was als Leistung gelten soll, ob und wie sie sich messen lässt und nach welchen Kriterien das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung bestimmt werden soll.
Die zum Teil stark standardisierten Arbeitstätigkeiten in der Industrie rückten v. a. den quantitativen Aspekt der Leistung in den Vordergrund. Versuche, die menschliche Arbeitsleistung so kalkulierbar zu machen wie die maschinelle Arbeit (F. W. Taylor), schlugen fehl, weil sie von einer stark verkürzten Vorstellung von der Leistungsmotivation der Menschen ausgingen. Leistungsorientierte Entlohnungssysteme allein wurden den Bedürfnissen der Arbeitenden nach sinnerfüllter Arbeit, sozialer Anerkennung und Integration sowie Mitbestimmung nicht gerecht und führten nicht zu dem erwarteten Ergebnis einer stabilen und kalkulierbaren Leistungsmotivation. Heute geht man daher von einem »mehrdimensionalen Arbeitsfeld« (F. Fürstenberg) aus. Die Leistungsmotivation hängt wesentlich von der Zustimmung der Betroffenen und der Legitimation des Leistungsanspruchs, der Transparenz seiner Bedingungen und Folgen ab. Das Leistungsprinzip erscheint als Fortschrittsprinzip insofern, als es die Dynamik von permanenter Leistungssteigerung und die Angleichung der Allgemeinheit an das neue, höhere Leistungsniveau fördert und so auf optimale Produktivität zielt. Die Kontroverse über den Nutzen, die Notwendigkeit und die Gültigkeit des Leistungsprinzips beziehungsweise die Ablehnung des Begriffs der Leistungsgesellschaft sowie die Entwicklung von Gegenmodellen wurde in den Sozial- und Politikwissenschaften zum Teil scharf geführt. Die Diskussionen basieren auf oft stark voneinander abweichenden Begriffen von Leistung. So argumentieren Vertreter konservativer Auffassungen häufig mit dem Willen zur Leistung als einem menschlichen Grundbedürfnis, der sich in schöpferischem, der Selbstverwirklichung dienendem Handeln realisiert. Der Mensch sei auf Leistung programmiert, so H. Schoeck und A. Gehlen, die den kulturschaffenden Aspekt der großen Leistungen betonen, der durch »Mitleids- und Fürsorgeethik« nur zerstört werde. Im Gegensatz dazu sehen die Kritiker in der geforderten Leistung eine vorgegebene, der Anpassung an Herrschaftsverhältnisse dienende Norm, die kreativer Selbstverwirklichung gerade entgegensteht. Verfechter funktionalistischer und liberaler Theorien (T. Parsons, Kingsley Davis, Wilbert Ellis Moore, R. Dahrendorf) verweisen darauf, dass durch die ungleiche Verteilung von Einkommen und Besitz, Macht und Einfluss sowie Sozialprestige ein Anreiz zur Aktivierung knapper Fähigkeiten für funktional wichtige Rollen in der Gesellschaft bestünde. Kritiker (z. B. M. M. Tumin) hielten dieser Auffassung entgegen, sie legitimiere die bestehende, auf Privilegierung beziehungsweise Unterprivilegierung beruhende Sozialstruktur. Verteidiger der Leistungsgesellschaft argumentieren häufig mit der ungeheuren Produktivität der durch Leistung ermöglichten Wohlstandsgesellschaft, während deren Kritiker den Leistungszwang als »Leistungsterror« bezeichnen und die psychischen und sozialen Konsequenzen dieses Wohlstandes sowie das bewusste Verzichtleisten (z. B. Konsumverzicht) thematisieren. Selbst bei prinzipieller Anerkennung der mit dem Leistungsprinzip verbundenen Normen wird häufig kritisiert, dass die eigentliche Grundlage des Leistungsprinzips, die Chancengleichheit, nicht gegeben sei. Das Leistungsprinzip im Sinne eines individuellen Zurechnungskriteriums verschleiere den gesellschaftlichen Charakter produktiver Leistungen. Auch bei der Vergabe beruflicher Positionen lassen sich viele andere Kriterien als die eigentliche Leistung nachweisen (z. B. Durchsetzungsvermögen, Geschlecht). Häufig wird auch die »Unmenschlichkeit« einer reinen Leistungsgesellschaft betont. Aus christlicher Sicht ergeben sich für viele eine gewisse Distanz zum Leistungsprinzip und die Forderung nach einer »Korrektur des Leistungsgedankens« durch Solidarität und Unterstützung der Schwachen, Humanisierung der Arbeitswelt, aber auch die stärkere Betonung von charakterlichen Leistungen. Der Politologe Claus Offe (* 1940) stellte die These auf, dass das Leistungsprinzip unter den heutigen Bedingungen fortgeschrittener Formen industrieller Arbeit und komplexer Arbeitsorganisation sinnlos geworden sei und nur noch als Disziplinierung wirke. An die Stelle der Konkurrenz individuell unterschiedlicher Leistungsvermögen müssten neue, kreative Strategien treten, die der gewandelten gesellschaftlichen Situation gerecht werden. Als überwiegend von Männern geprägt werden die heutigen gesellschaftlichen Leistungs- und Erfolgskriterien auch von der feministischen Forschung infrage gestellt. Der französischer Politologe André Gorz (* 1924) entwirft die Utopie einer »dualistischen Gesellschaft«, einer Befreiung nicht mehr innerhalb, sondern von der Arbeit. Er schlägt also eine Zweiteilung vor, einerseits einen hoch automatisierten Arbeitsbereich, der immer weniger Zeit in Anspruch nimmt, andererseits den dadurch geschaffenen Bereich freier Zeit, die ein »anderweitig aktives Leben in schöpferischer Arbeitslosigkeit« (I. Illich) ermöglicht. Dieser Ausstieg aus der Arbeitsgesellschaft erfordert natürlich auch ein Umdenken bezüglich des Leistungsbegriffs: die Ablösung der Auffassung von beruflicher Leistung als Zentrum der Persönlichkeit, der individuellen Entfaltung und Sinngebung zugunsten einer Umorientierung auf neue Werte, die den sinnvollen Umgang mit der nun freien Zeit erst ermöglichen. Entsprechende Tendenzen innerhalb der Gesellschaft sind bereits zu erkennen: Eine neue, ökologisch geprägte Ethik, die unkontrolliertes Wachstum und damit auch das Leistungsprinzip und die Leistungsgesellschaft kritisiert, gewinnt zunehmend an Einfluss. Die von Gorz vorgeschlagene Befreiung von der Arbeit erscheint angesichts der technologischen Entwicklung und der Notwendigkeit einer Flexibilisierung beziehungsweise Verkürzung der Arbeitszeit einerseits und der Rekordarbeitslosigkeit Ende der 1990er-Jahre in Deutschland andererseits durchaus plausibel. Die demographischen Tendenzen in den entwickelten Industrieländern untermauern diese These: Infolge der in den letzten Jahren stetig gestiegenen Lebenserwartung und des zunehmend früheren Eintritts in den Lebensabschnitt als Rentner und Pensionär nimmt auch der Anteil der »jungen Alten« und der alten Menschen mit viel freier Zeit zu. Nicht zuletzt in diesem Kontext werden eine neue Arbeitsethik und die Umorientierung der Gesellschaft auf den Freizeit- sowie den sozialen Bereich auf breiter Ebene diskutiert. Fraglich bleibt allerdings, ob die in diesem Sinne »arbeitslose Gesellschaft« in den von der Leistungsethik am meisten geprägten, technologisch hoch entwickelten Ländern eine realistische gesellschaftspolitische Perspektive darstellt, da gerade dort das Selbstverständnis der Menschen sowie ihr Bedürfnis, sich in der Arbeit auszudrücken, am stärksten ausgeprägt ist. Zu bezweifeln ist auch, ob »schöpferische Arbeitslosigkeit« gesamtgesellschaftlich angesichts des von vielen Menschen beklagten Gefühls der »Langeweile« (trotz der Angebote der Freizeitindustrie) überhaupt gelebt werden kann.
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
Alternativkultur · Arbeit · Arbeitslosigkeit · Arbeitsstudie · Ausbeutung · Beruf · Ethik · Freizeit · Gerechtigkeit · Kapitalismus · Konsum · Lebensqualität · Lernen · Management · Motivation · Sozialpolitik · Wertewandel · Wettbewerb
M. Weber: Die prot. Ethik u. der Geist des Kapitalismus (1920);
D. C. MacClelland: Die L. (a. d. Engl., 1966);
H. Heckhausen: Leistung u. Chancengleichheit (1974);
Sinn u. Unsinn des Leistungsprinzips, Beitrr. v. A. Gehlen u. a. (41976);
Das Leistungsprinzip, hg. v. G. Hartfiel (1977);
C. Offe: Leistungsprinzip u. industrielle Arbeit (51977);
K. M. Bolte: Leistung u. Leistungsprinzip (1979);
Krise der L.?, hg. v. K. O. Hondrich u. a. (1988);
H. Schoeck: Ist Leistung unanständig? (Neuausg. 1988);
Soziale Gerechtigkeit. Lebensbewältigung in der Konkurrenzgesellschaft. Verhandlungen des 1. Bundeskongresses Soziale Arbeit (1994).
* * *
Leis|tungs|ge|sell|schaft, die: ↑Gesellschaft (1), in der vor allem die persönlichen Leistungen des Einzelnen für dessen soziale Stellung, Ansehen, Erfolg usw. ausschlaggebend sind: Dazu kommt, dass sie (= Kinder) in einer L. aufwachsen, deren Leitbilder Schönheit, Gesundheit und Power sind (FR 9. 1. 99, 10); Mit ihrer Spezialisierung auf die Ansprüche einer profitorientierten L. geriet aber die Familie in eine Sackgasse (Wohngruppe 8); Nie zuvor bedeutete Altsein einen derartigen sozialen Makel wie in der gegenwärtigen L. (Hörzu 25, 1980, 24).
Universal-Lexikon. 2012.