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So|li|da|ri|tät [zolidari'tɛ:t], die; -:unbedingtes Zusammenhalten mit jmdm. aufgrund gleicher Anschauungen und Ziele:
die Solidarität zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen ist nicht allzu groß; für Solidarität eintreten.
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So|li|da|ri|tät 〈f. 20; unz.〉 Zusammengehörigkeit, Verbundenheit [→ solidarisch]
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a) unbedingtes Zusammenhalten mit jmdm. aufgrund gleicher Anschauungen u. Ziele:
die S. in, unter der Belegschaft wächst;
b) (bes. in der Arbeiterbewegung) auf das Zusammengehörigkeitsgefühl u. das Eintreten füreinander sich gründende Unterstützung:
Spenden für die internationale S.
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Solidarität
[zu französisch solidarité, von lateinisch solidus »dicht«, »gediegen«, »fest«, »ganz«]. Der Begriff, der vor dem 18. Jahrhundert nur im juristischen Sinne einer Schuld- oder Verpflichtungsgemeinschaft auftrat - im Deutschen ist noch der Begriff »Solidarobligation« (Haftung jedes Einzelnen für eine Gesamtschuld, die bei Zahlung durch einen auch für die anderen erlischt) erhalten -, stellt in seiner weitesten Bedeutung als Vorstellung einer »politisch-sozialen Brüderlichkeit« (Andreas Wildt) einen Grundbegriff der durch die Industrialisierung und die Leitvorstellung bürgerlicher Gesellschaft geprägten Moderne dar. Er dient bis heute als (politisch auch umstrittene beziehungsweise von verschiedenen Strömungen beanspruchte) Grundkategorie, die sowohl geeignet ist, Zielvorstellungen politischen und gesellschaftlichen Handelns unter den Bedingungen einer industriell geprägten Moderne zu beschreiben als auch die Kräfte zu benennen beziehungsweise hervorzurufen, die an der Herstellung gesellschaftlich wünschenswerter Verhältnisse mitwirken sollen. Im engen Sinn ist der Begriff so an die Entstehung der Industriegesellschaft und die mit ihr verbundenen Erfahrungen der Verelendung, der Ausbeutung und des Unrechts gekoppelt und bezeichnet die Bereitschaft, in einen gemeinschaftlichen Kampf gegen Unrecht, Unterdrückung und Ausbeutung einzutreten oder ihn aus der Perspektive derer zu unterstützen, die diesen Bedrückungen unterliegen.
Solidarität erscheint in dieser ersten Bedeutung gruppenbezogen und lebt von der Kooperation und der wechselseitigen Anerkennung der Mitglieder einer Gruppe als gemeinsam Handelnde oder gemeinsam Betroffene. Schon auf dieser Bedeutungsebene werden systematisch und historisch drei Dimensionen des Begriffs erkennbar, die sowohl seine Mehrdeutigkeit und damit auch die Möglichkeiten semantischer Neubesetzung (»Kampf um Wörter«) als auch seine bis in die Umgangssprache hinein wirksame Attraktivität erklären können: Neben einer beschreibenden Funktion, die sich auf tatsächlich vorhandene Kooperation zur Abwehr von Unrecht oder Not beziehen, bezeichnet der Begriff auch eine normative Vorstellung, die sich auf z. B. moralisch oder religiös begründbare Ansprüche an kooperatives Verhalten und eine entsprechende Verantwortungsgemeinschaft berufen kann; damit kann Solidarität zum Ausdruck geschichtsphilosophisch oder metaphysisch bestimmbarer Prozesse und Kräfte werden. Zum dritten hat der Begriff einen deutlich appellativen Charakter, was seine Fähigkeit, zur Mobilisierung von Menschen beizutragen, und damit seine Anschlussfähigkeit an den Bereich der Politik erklärt.
Während der Begriff Solidarität in der umgangssprachlichen Verwendung v. a. die emotionale Bereitschaft eines gemeinschaftlichen Einsatzes für eine als wertvoll erachtete Sache hervorhebt, dient er im weitesten Sinne dazu, eine soziale Bindung oder das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gruppe (Karl Otto Hondrich, * 1937; Claudia Koch-Arzberger, * 1952), dann auch von Menschen als Individuen zu bezeichnen, sofern sich diese z. B. auf der Basis allgemeiner Menschenrechte oder staatlich konstituierter Bürgerrechte wechselseitig anerkennen und als Interaktionszusammenhang verstehen können (»posttraditionaler Zustand gesellschaftlicher Solidarität«; Axel Honneth, * 1949).
Seine besondere Bedeutung und auch seine Einfärbung als Wertbegriff bezieht Solidarität freilich aus der historischen Anbindung an eine als Unrecht empfundene asymmetrische Struktur der gesellschaftlichen Anerkennung, in der Solidarität die Kraft bezeichnet, mit der sich Einzelne zugunsten anderer gegen dieses Unrecht wehren und damit zugleich (im Sinne der bürgerlichen Emanzipation ebenso wie im Sinne des proletarischen Kampfes um soziale Gerechtigkeit) die Seite der Schwachen als die Seite der Menschheit insgesamt gegenüber den »Sonderinteressen« der jeweils Mächtigen vertreten und ins Recht zu setzen suchen. Angesichts einer Individualisierung unterschiedlicher Lebenslagen und Belastungen spielt dabei in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften am Ende des 20. Jahrhunderts der Kampf um Anerkennung sozialer Benachteiligung nicht mehr die allein ausschlaggebende Rolle, wenngleich er - etwa hinsichtlich solcher gesellschaftlicher Problembereiche wie Armut, Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung von Bevölkerungsgruppen - auch noch im Sinne der Gruppensolidarität des 19. Jahrhunderts eine aktuelle Bedeutung hat. Hiervon lebte nicht nur die polnische Gewerkschaftsbewegung Solidarność in ihrem Kampf um die Überwindung des Staatssozialismus in den 1980er-Jahren, vielmehr ist diese Solidaritätsvorstellung auch die Motivationsbasis der 1997 zunächst in Frankreich in Erscheinung getretenen Arbeitsloseninitiativen und ihres kooperativen Bemühens, die eigene Notlage zu verbessern und gleichzeitig Gesellschaft und Politik zur Anerkennung und zur Bearbeitung des Problems zu bewegen.
Zumindest gleichermaßen bedeutsam ist in der Gegenwart die zweite Bedeutung des Solidaritätsanspruchs geworden, die Vorstellung von der Verpflichtung, Menschen, deren Lage man nicht teilt, dennoch bei der Verwirklichung derselben Chancen, Rechte und Ziele zu unterstützen, die man selbst genießt beziehungsweise als wertvoll erachtet. Eine solche »Solidarität unter Fremden« (Hauke Brunkhorst, * 1945) bezieht - gerade aus der Perspektive sozialer Distanz - die Mitglieder der jeweils eigenen Gesellschaft als die an einer gemeinsamen Gesellschaftsordnung, gemeinsamen Rechten u. a. Partizipierenden und diese dadurch auch Konstituierenden, darüber hinaus aber auch diejenigen mit in die Gemeinschaft ein, die zwar nicht zur eigenen Gesellschaft gehören, gleichwohl aber im Sinne globaler Zusammenhänge deren Auswirkungen unterworfen sind. Auf diese universale Gemeinschaft bezogen kann Solidarität dann als Leitvorstellung bestimmt werden; Brunkhorst glaubt sogar, in dieser übertragbaren Form der Solidarität eine Art von zivilisatorischer Fortschritt gefunden zu haben.
Ideengeschichte und soziale Entwicklung
Funktionsäquivalent tritt der Begriff Solidarität zu dem älteren, ebenfalls im Zusammenhang der Neuzeit zunehmend säkularisierten Begriff »Brüderlichkeit« in Frankreich nach der Französischen Revolution von 1789 und dann in den sozialen Auseinandersetzungen des frühen 19. Jahrhunderts in Erscheinung. Zuvor hatte der zunächst juristisch bestimmte Begriff in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts Ausweitungen in Richtung Handelsrecht und andere wirtschaftliche Beziehungen sowie im Sinne allgemein moralischer Verbindlichkeiten erfahren (z. B. in der »Encyclopédie« und im Code civil); für seine Verbreitung ebenso wie für seine Bedeutungsauffüllung hat daneben die katholische Morallehre mit den Vorstellungen einer durch die Erbsünde bestehenden kollektiven Schuld und einer entsprechenden Verbundenheit aller Menschen eine nicht unwichtige Rolle gespielt.
Zu einem Begriff der sozialen, dann auch der politischen Sprache wurde Solidarität in den Schriften und im Umfeld der französischen Frühsozialisten, v. a. bei den Schülern von C. H. de Saint-Simon und C. Fourier, die christlich geprägte Forderungen nach Wohltätigkeit und Barmherzigkeit mit sozialpolitischer Initiative und radikaler Gesellschaftsveränderung verbanden. Als politischer Begriff tritt der Solidaritätsbegriff bei L. Blanc und P. J. Proudhon sowie im Zusammenhang der Revolution von 1848 in Erscheinung. Bereits in den Jahren zuvor hatte A. Comte den Begriff zur Beschreibung der Verbundenheit aller Menschen, aber auch für die Bezeichnung anderer Arten von Zusammenhang und Verbindung genutzt und popularisiert. Als wichtige Einsatzstelle für die breite politische, deskriptive und normative Wirkung des Begriffs kann die 1842 erschienene Studie »Solidarité« von Hyppolite Renaud (* 1803, ✝ 1873) gelten, die nicht zuletzt aufgrund ihrer Übersetzung ins Deutsche (1855) die deutsche Arbeiterbewegung in ihrem Wortgebrauch und in ihren Vorstellungen beeinflusste. Während Renaud Solidarität noch im Sinne seiner Zugehörigkeit zur Gruppe um Fourier als Ausdruck eines heiligen, ja göttlichen Gesetzes darstellte, das alle Menschen zu einer großen Familie auf der Basis identischer Interessen verbinde, etablierten v. a. K. Marx und F. Engels sowie die von ihnen initiierte Internationale Arbeiter-Assoziation (IAA) und in der Folge auch die von diesen ausgehenden Einflüsse auf die deutsche Arbeiterbewegung in den 1860er-Jahren Solidarität als politisch-sozialen Mobilisierungs- und Programmbegriff: Im Zentrum stand nun weniger die Proklamation einer Art übermenschlichen Gesetzes, sondern eher die Orientierung von Solidarität auf die Verwirklichung der unmittelbaren Bedürfnisse und Interessen der Arbeiter durch entsprechende Kooperation und Wertorientierung sowie die Gründung beziehungsweise Entwicklung entsprechender politischer und sozialer Organisationsformen (Gewerkschaften, Parteien, Genossenschaften, Konsumvereine, Presseorgane).
Solidarität wurde damit zum Schlagwort der Arbeiterbewegung in Deutschland, während sich die Diskussion in Frankreich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zugleich akademisierte und ausweitete. Unter dem Einfluss von Philosophen wie C. Renouvier, C. Secrétan und A. Fouillée wurden sozialreformerische Ansätze, die angesichts unübersehbarer Mängel der bestehenden Gesellschaftsordnung sowohl nach sozialistischen Alternativen als auch nach staatlichen Handlungsmöglichkeiten innerhalb der Gesellschaft suchten, aufgewertet und führten zur sozialpolitischen Bewegung des Solidarismus, dessen Vertreter C. Gide und L. Bourgeois mit einem politischen Manifest (»La solidarité«, 1896/97) an die Öffentlichkeit traten, aber auch direkte politische Initiativen ergriffen (Gründung der Radikalsozialistischen Partei, Forderungen nach kostenlosem Schulunterricht und obligatorischer Sozialversicherung mit Arbeitgeberbeteiligung). In ihrer Argumentation trat Solidarität an die Stelle der christlichen Nächstenliebe und der republikanischen Brüderlichkeit, wurde aber durch die Bezugnahme auf die mit diesen verbundenen Vorstellungen zugleich aufgewertet und ausgedehnt.
Demgegenüber blieb der Begriff in Deutschland weitgehend auf die Arbeiterbewegung beschränkt und wurde hier namentlich bei F. Lassalle und der von ihm geprägten Sozialdemokratie zu einem populären Leitbegriff, in dem sich der Gedanke einer die gruppenspezifischen und individuellen Unterschiede ausgleichenden Solidarität mit der Vorstellung verband, dass es zur Verwirklichung von Solidarität ökonomischer und pädagogischer Bemühungen bedürfe, für die soziale Autorität, besonders die des Staates (im Anschluss an J. G. Fichtes Staatsidee), in Anspruch genommen werden könne. Von hier führt ein Weg in die sozialphilosophische Fundierung eines sozialstaatlichen Denkens bis hin zum Konzept der sozialen Marktwirtschaft und zu den Debatten um die Leistungen staatlicher Wohlfahrt in der Gegenwart. Sowohl mit den bismarckschen Sozialreformen als auch mit den nach der Wende zum 20. Jahrhundert und besonders in der Weimarer Republik zur politischen Anerkennung gekommenen politischen Positionen der Arbeiterbewegung war die allgemeinsprachliche Durchsetzung des Begriffs Solidarität verbunden; dies lässt sich mit der Fülle von Vereinen und Institutionen aus dem Umfeld der Arbeiterbewegung belegen, die sich unter dem Namen Solidarität zusammenfanden.
Außerhalb der marxistisch geprägten Arbeiterbewegung, besonders im Anarchismus und in den sozialreligiösen Bewegungen, kommt dem Begriff Solidarität eine zumindest ebenso große Bedeutung zu; sie bietet die Grundlage, ihn in einem über das Ökonomisch-Politische und damit über den Rahmen der mit der »alten« Arbeiterbewegung verbundenen sozialen Konfliktvorstellungen weit hinausgehenden lebensreformerischen und dann auch wieder metaphysisch und religiös begründeten Verständnis zu verwenden.
Nicht zuletzt daraus, dass die Vorstellung der Solidarität mehr umfasst als die jeweilige Mobilisierung von Interessen innerhalb bestimmter Rahmen (der Ökonomie, der Politik, des Rechts) und im Kampf für die Aufhebung von Unrecht und Benachteiligung in konkreten Situationen auf ein zugrunde liegendes universales, sei es anthropologisch oder transzendent gedachtes Prinzip verweist, gewinnt der Begriff gerade am Ende des 20. Jahrhunderts erneut an Bedeutung und Attraktivität - möglicherweise um den Preis seiner Anbindung an die »soziale Frage« des gesellschaftlich zu verantwortenden und aufzuhebenden sozialen Unrechts.
Aktuelle Bezüge und Hintergründe im 20. Jahrhundert
É. Durkheim hat - im Anschluss an Comte - am Ende des 19. Jahrhunderts Solidarität zu einem Grundbegriff der modernen (soziologischen) Gesellschaftsanalyse gemacht und dabei die »organische Solidarität« moderner Gesellschaften, die einerseits individualisiertes und funktionsdifferenziertes Handeln ermöglicht, zugleich aber spezielle soziale Erzeugung von Verbindlichkeiten (z. B. durch Erziehung) erfordert, von der »mechanischen Solidarität« der vorindustriellen Gesellschaften abgesetzt, in der äußerer Zwang einen Zusammenhalt der Gesellschaft mit niedriger Differenzierung zwar herstellt, zugleich aber keiner weiteren emotionalen Leistungen bedarf und diese auch nicht gewährleisten kann. Damit war Solidarität in den Zusammenhang einer der Grundfragen der Gesellschaft der Moderne gestellt: »Wie ist Gesellschaft möglich?« (G. Simmel). Dieser Frage, mit der sich bereits G. W. F. Hegel beschäftigt hatte, wandte sich in der Beschäftigung mit dem Phänomen der Solidarität die Gesellschaftsanalyse im 20. Jahrhundert ebenso zu wie die Sozialphilosophie, die politische Philosophie und die Existenzphilosophie (Léon Duguit, * 1859, ✝ 1928; M. Scheler, N. Hartmann, K. Jaspers, A. Camus). Dabei wurde zunächst im Umfeld der Weiterentwicklungen des Marxismus und in der kritischen Theorie, aber auch in sozialdemokratischen Theoriediskussionen der 1920er-Jahre sowie bei marxistisch beeinflussten Theoretikern wie Otto Rühle (* 1914, ✝ 1969), M. Adler oder G. Lukács an die Tradition der durch die Arbeiterbewegung vorgegebenen Solidarität angeknüpft, wobei die Perspektive von der klassen- und interessenbezogenen Solidarität des 19. Jahrhunderts auf die Idee universaler menschlicher Emanzipation erweitert wurde. Auch eine zweite Tradition, die der christlich geprägten Soziallehre und nicht zuletzt die in Frankreich bis in die Gegenwart reichenden Nachwirkungen des Solidarismus, ist z. B. in politischen Diskussionen und Parteiprogrammen des 20. Jahrhunderts immer wieder aufgenommen worden.
Während sozialdemokratische und sozialistische Solidaritätsvorstellungen bis heute deutlich im Schatten der Tradition des Solidaritätsbegriffs der Arbeiterbewegung stehen, könnten sich christlich-konservative Parteien eher den christlichen Soziallehren und einem katholischen Solidarismus verpflichtet fühlen, wie er u. a. von H. Pesch, G. Gundlach, O. von Nell-Breuning oder F. Hengsbach vertreten wird. Für den Solidaritätsbegriff der christlichen Parteien ist hervorzuheben, dass er sich nicht vornehmlich auf die Überwindung sozialer Ungleichheit durch gesellschaftliche Institutionen bezieht, auch wenn dies im katholischen Solidarismus (katholische Arbeitnehmerschaft) von Bedeutung ist, sondern auf die Sicherung von Mindeststandards hinsichtlich sozialer Grundsicherungen und auf individuelle und gruppenspezifische Hilfeleistungen abhebt. Hier ergeben sich trotz aller Unterschiede hinsichtlich des grundlegenden soziokulturellen Milieus Annäherungspunkte zu den Grünen, die im Anschluss an die Studentenbewegung der 1960er-Jahre einerseits das emanzipatorische Solidaritätsverständnis der undogmatischen Linken (»Dritte-Welt-Solidaritätsbewegungen«) weitergeführt haben, andererseits aber in der staats- und institutionenkritischen Sicht anarchistischer und basisdemokratischer Traditionen auch die Solidarität von Individuen gegenüber sozialer Gruppenzugehörigkeit hervorheben. Entsprechend spielen in der gegenwärtigen Theoriediskussion (J. Habermas, Honneth, Brunkhorst) neben der Bezugnahme auf die an der Abwehr sozialen Unrechts und der Förderung menschlicher Emanzipation orientierte Tradition der Arbeiterbewegung liberale Gesellschaftskonzepte (R. Rorty) und die Rezeption des amerikanischen Pragmatismus (Hans Joas, * 1948; Brunkhorst) eine wichtige Rolle, ebenso die verschiedenen Spielarten des Kommunitarismus (M. Walzer; Robert N. Bellah, * 1927; C. Taylor).
Während in diesen Diskussionen weiterhin die Grundfrage nach dem Integrationsmodell moderner Gesellschaften und den sie tragenden Wertorientierungen im Vordergrund steht, erwächst dem Thema der Solidarität erneutes Interesse auch aus den gesellschaftlichen und ökonomischen Krisen und neuen Erscheinungsformen von Armut und Benachteiligung am Ende des 20. Jahrhunderts. Gerade angesichts eines Auseinanderdriftens von armen Ländern und (wenigen) reichen Gesellschaften und einer entsprechenden Zweiteilung Europas nach dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989-91, die sich in wachsender Arbeitslosigkeit ebenso zeigt wie in einem fortschreitenden Abbau sozialstaatlicher Sicherungen bei gleichzeitig andauernder beziehungsweise erneut wachsender Benachteiligung von Frauen, Alten und Migranten, sind auch Rahmenbedingungen und Verwerfungen wiederzuerkennen, gegen die sich unter den Bedingungen der frühen Industriegesellschaften des 19. Jahrhunderts Solidarität als Bereitschaft zur wechselseitigen oder einseitigen Unterstützung im Kampf gegen Unrecht und Benachteiligung entwickelte. Dieser traditionalen Form der Solidarität tritt nunmehr allerdings im Hinblick auf eine individualisierte Bürgergesellschaft eine zweite Form »posttraditionaler Solidarität« an die Seite, die sich zunächst als Fortschritt und Erweiterung (Brunkhorst) im Hinblick darauf verstehen lässt, dass sich nunmehr die Strukturmerkmale der Solidarität - Freiwilligkeit, Nichtselbstverständlichkeit der Hilfe und intendierte egalitäre Kooperation - als Grundlagen der Gesellschaft selbst, jenseits der Gruppeninteressen, bestimmen lassen. Zugleich wird aber auch die mögliche Ambivalenz, ja Konturenlosigkeit des Konzepts erkennbar, wenn die genannten Merkmale auf die solidarische Interaktion beliebiger Gruppen übertragen oder sogar - etwa im Namen religiöser, wirtschaftlicher oder politischer Kollektive - dazu genutzt werden, die gruppenspezifische Loyalität der Einzelnen gerade dann einzufordern, wenn die betreffenden Gruppen darauf zielen, Ungleichheit, Unrecht oder Benachteiligung herzustellen oder zu legitimieren.
Die Entwicklung des Begriffs Solidarität vom Fachbegriff zu einem Schlüsselbegriff gesellschaftlicher Selbstverständnisses verweist damit, gerade vor dem schillernden Hintergrund seiner Bedeutungsmöglichkeiten, auf eine grundlegende Problemstruktur und Ambivalenz gesellschaftsbezogenen Handelns in der Moderne: sich aus den eigenen Mitteln legitimieren zu müssen und hierbei auf Argumentationsfiguren und Sinnpotenziale zurückgreifen zu müssen, die sich letzten Endes nur transzendent angemessen begründen lassen - eine Möglichkeit, die der Gesellschaft der Moderne nicht mehr unproblematisch zur Verfügung steht. »Als spezifisch und faszinierend am Solidaritätsbegriff wird heute oft das empfunden, was ihn historisch wirkungsmächtig gemacht hat, nämlich seine Eignung, eine moralisch engagierte Kooperation zu bezeichnen, die gerade im Kampf gegen Unrecht über die Sphären von Recht und Gerechtigkeit hinausweist« (A. Wildt).
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
Altruismus · Arbeiterbewegung · Brüderlichkeit · Grundwerte · Leistungsgesellschaft · Nächstenliebe · Solidarismus · Verantwortung
J. E. S. Hayward: Solidarity. The social history of an idea in nineteenth century France, in: International review of social history, Jg. 4 (Assen 1959); I. von Reitzenstein: S. u. Gleichheit. Ordnungsvorstellungen im dt. Gewerkschaftsdenken nach 1945 (1961);
Thomas Meyer: Grundwerte u. Wiss. im demokrat. Sozialismus (1978);
A. Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moral. Gramm. sozialer Konflikte (Neuausg. 1994);
H. Joas: Die Kreativität des Handelns (Neuausg. 1996);
H. Brunkhorst: S. unter Fremden (1997).
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So|li|da|ri|tät, die; -, -en [frz. solidarité, zu: solidaire, ↑solidarisch]: a) unbedingtes Zusammenhalten mit jmdm. aufgrund gleicher Anschauungen u. Ziele: die S. mit anderen Völkern; die S. in, unter der Belegschaft wächst; S. anstreben; b) (bes. in der Arbeiterbewegung) auf das Zusammengehörigkeitsgefühl u. das Eintreten füreinander sich gründende Unterstützung: Der Arbeitslose genoss zwar wenig oder keinen sozialen Schutz, konnte sich aber auf alte, informelle -en stützen. Heute existieren diese traditionellen Absicherungen nicht mehr (Woche 17. 1. 97, 18); Seit Beginn dieses Schuljahres haben sie bereits 1 750 Mark für die internationale S. gespendet (BNN 28, 1978, 1).
Universal-Lexikon. 2012.