Ma|nie|rịs|mus 〈m.; -; unz.〉
1. gewollt übertriebener, gekünstelter Stil
2. Stilrichtung zwischen Renaissance u. Barock, die sich extrem stilisierender Ausdrucksmittel bedient, ausgehend von der italien. Malerei dieser Zeit
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Ma|nie|rịs|mus, der; -, …men:
1. <o. Pl.>
a) (Kunstwiss.) Stil im Übergang zwischen Renaissance u. Barock, der durch eine Auflösung u. Verzerrung der Formen der Renaissance, durch groteske Ornamentik, überlange Proportionen u. a. gekennzeichnet ist;
b) (Literaturwiss.) Stil der Übergangsphase zwischen Renaissance u. Barock, der durch eine Verbindung von Ungleichartigem zu einer künstlichen Einheit, durch eine Sprache mit überreichen Metaphern, mythologischen Anspielungen u. a. gekennzeichnet ist;
c) Epoche des Manierismus (1 a, b);
d) (Kunstwiss., Literaturwiss.) in verschiedenen Epochen (z. B. Hellenismus, Romantik, Jugendstil) dominierender gegenklassischer Stil.
2. manieristische Ausprägung, Form, Äußerung o. Ä.
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Manierịsmus
der, -, von der jüngeren Kunstwissenschaft geprägter Stilbegriff für die Phase des Übergangs von der Renaissance zum Barock, auch gleichgesetzt mit Spätrenaissance. Erstmals benutzte die Bezeichnung Manierismus L. Lanzi, der sie in seiner »Storia pittorica d'Italia« (1795/96) abwertend auf die italienische Malerei nach Raffael bezog. Im 20. Jahrhundert wurde der Manierismus aufgewertet und v. a. von deutschen Kunsthistorikern im Sinne eines übergreifenden Stilbegriffs für die europäische Kunst in der Zeit von etwa 1520 bis 1600 eingesetzt. Eine andere Forschungsrichtung engt den Begriff Manierismus auf bestimmte Schulen und Tendenzen des 16. Jahrhunderts ein und betont die fließenden Übergänge und das Nebeneinander von Manierismus, Spätrenaissance und Frühbarock. Die Auseinandersetzung mit den Nachwirkungen des Manierismus führte dazu, den Manierismusbegriff zu erweitern, indem man ihn nicht nur auf eine zeitlich begrenzte Periode des 16. Jahrhunderts bezieht, sondern auf die Endphase jeder Epoche.
Die Ursache für die Entstehung des Manierismus wird in der gesellschaftlichen, religiösen und geistigen Krisenstimmung der Zeit gesehen, in der das anthropozentrische Weltbild der Renaissance zerfiel. Die widersprüchlichen Erscheinungsformen des Manierismus erklärt man mit dem Ästhetizismus an den Höfen des frühen Absolutismus (Medici), den Akademiegründungen, aber auch mit dem Antiklassizismus der Gegenreformation mit ihrem subjektivistischen Schönheitsbegriff, ihrer Mystik und Irrationalität. An die Stelle der humanistischen Bildung trat spekulative Gelehrsamkeit, die durch Emblematik und Ikonologien Bildinhalte bestimmte.
Ausgangspunkt des Manierismus sind Bildkompositionen Raffaels (Stanzen des Vatikans) und v. a. Michelangelos (Sixtinische Kapelle), die florentinischen und römischen Malerschulen nach 1520 beeinflussten (Rosso Fiorentino, J. da Pontormo, A. Bronzino, Giulio Romano, F. Salviati, G. Vasari). Charakteristisch für diese »Maniera« sind überlängte, in sich gedrehte Figuren mit verhältnismäßig kleinen Köpfen und gezierten Bewegungen, die in unklaren räumlichen Beziehungen zum Hintergrund stehen. Gesuchte Kontraste von Hell und Dunkel verbinden sich mit einer emailartig leuchtenden Lokalfarbigkeit der Gewänder. Das Porträt des Manierismus lässt die individuellen Züge zugunsten einer kühl-distanzierten aristrokratischen Norm (Ideal des »cortigiano«, des Höflings) zurücktreten. Die natürliche Sinnlichkeit der Renaissancedarstellung weicht erotischen Anspielungen in kompositorischer Künstlichkeit. In Oberitalien und Venedig verband sich der Manierismus mit einem mystischen Sensualismus (L. Lotto, P. Bordone, J. Bassano, Tintoretto). In der Plastik (Giambologna, B. Bandinelli, B. Ammanati) setzte sich die Allansichtigkeit der Figurenauffassung durch, verbunden mit einer künstlich schraubenförmigen Komposition (Figura serpentinata) und polierter Oberfläche. Technische Verbesserungen ließen zahlreiche Werkstattausführungen des maßstabgerechten Entwurfs zu (B. Cellini, L. Leoni). Neben Brunnen, Epitaphien und Porträts spielte die an den Fürstenhöfen gesammelte Kleinplastik eine wichtige Rolle.
In der italienischen Architektur unterschied sich der Manierismus v. a. in gestreckteren Proportionen, Oberflächenstrukturen, Dekorelementen und Bauaufgaben von der Hochrenaissance (Palazzo del Tè von Giulio Romano in Mantua, Palazzo Massimo alle Colonne von B. Peruzzi in Rom, Palazzo Farnese von Vignola in Caprarola). Perspektivisch angelegte Bühnenhaftigkeit demonstrieren die städtebaulich wirksamen Uffizien in Florenz (Vasari) und die Neugestaltung der Piazza di San Marco in Venedig (J. Sansovino). Manieristische Gartenanlagen verbinden labyrinthische Verschachtelung mit Realitätsverfremdung (Boboli-Gärten in Florenz, Villa d'Este in Tivoli, Park in Bomarzo). - Wichtige Traktate zur Kunstauffassung des Manierismus verfassten G. P. Lomazzo und F. Zuccari.
Von Italien aus verbreitete sich der Manierismus über die Höfe Europas. Am frühesten erreichte er Frankreich (Schule von Fontainebleau mit Rosso Fiorentino, F. Primaticcio, N. Dell'Abate, ferner F. Clouet, J. Cousin der Ältere und der Jüngere, A. Caron, J. Goujon, P. Lescot), gegen Ende des Jahrhunderts den Hof Kaiser Rudolfs II. in Prag (G. Arcimboldo, B. Spranger, H. von Aachen, J. Heintz der Ältere, H. Rottenhammer, A. de Vries) und den Münchener Hof (F. Sustris, P. de Witte, H. Schwarz, H. Gerhard). In den Niederlanden bildete der Manierismus in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts eine eigene Kunstsprache aus, die durch die bürgerliche Gesellschaftsordnung und die Maltradition (Lucas van Leyden) geprägt ist (M. van Heemskerck, P. Aertsen, F. Floris, A. Mor, P. Bruegel der Ältere, C. Cornelisz.). In der Architektur fand er Ausdruck v. a. im Rathaus von Antwerpen von C. Floris und in dem nach ihm benannten Florisstil in Brügge und Leiden. Von den Niederlanden und Deutschland ging auch jener volkstümlicher Ornamentstil mit Roll- und Beschlagwerk aus, zu dessen Verbreitung H. Vredeman de Vries und W. Dietterlin wesentlich beitrugen. In Spanien entwickelte der in Venedig geschulte Maler El Greco eine visionäre Mystik im religiösen Figurenbild und im Porträt.
Dem Kunsthandwerk kam im Manierismus besondere Bedeutung zu. Kupferstecher wie die Sadeler, H. Goltzius und J. Bellange übermittelten Bildvorlagen an Tapisserien, Goldschmiede und Elfenbeinschnitzer (W. und C. Jamnitzer, P. van Vianen). Bevorzugt wurden ausgefallene Naturformen, in der Keramik stellte man auch Abgüsse nach der Natur her (B. Palissy).
Aus der Kunstwissenschaft wurde der Begriff in die Literaturwissenschaft zur Bezeichnung der Übergangsphase von der Renaissance zum Barock übernommen. Manierismus wird bisweilen als Epochenbegriff, bisweilen als Bezeichnung eines Kunststils verwendet, so besonders von E. R. Curtius, der den Manierismus als Stilbegriff dem »Klassischen« entgegensetzte und unter Manierismus die durch subjektive Auswahl, Abwandlung, Übertreibung und spielerische Handhabung vollzogene Veränderung einer vorgegebenen Form verstand. In der deutschen Literatur wird z. B. der barocke Stil, etwa bei G. P. Harsdörffer, D. C. von Lohenstein und C. Hofmann von Hofmannswaldau, als Stil des Manierismus gekennzeichnet durch dunkle Sprache und durch reiche Verwendung von Tropen, Metaphern, Concetti sowie gelehrten mythologischen Anspielungen. An der Wirklichkeit interessierte nicht das Naturhafte, sondern das Problematische, Bizarre, Monströse, das grotesk und fantastisch Verzerrte. Die wichtigsten Varianten des Manierismus sind ferner der Marinismus in Italien, der Euphuismus in England, der Culteranismo in Spanien, die französisch preziöse Literatur. - Außer in der Barockliteratur dominierte der Manierismus als Stilform (nach Curtius und G. R. Hocke) in ganz verschiedenen Epochen, z. B. im Hellenismus, im späten Mittelalter, in der Romantik und in der Moderne (Hermetismus). In der neueren Literaturwissenschaft wird Manierismus wertneutral auch als Schreibweise definiert, mit der der Autor formale Kunstfertigkeit vorführt.
K.-P. Lange: Theoretiker des literar. M. (1968);
W. Drost: Strukturen des M. in Lit. u. bildender Kunst (1977);
E. Battisti: Hochrenaissance u. M. (a. d. Ital., Neuausg. 1979);
A. Hauser: Der Ursprung der modernen Kunst u. Lit. Die Entwicklung des M. seit der Krise der Renaissance (Neuausg. 1979);
F. Würtenberger: Der M. (Neuausg. Wien 1979);
Da Tiziano a El Greco, Ausst.-Kat. (Mailand 1981);
J. Bousquet: Malerei des M. (31985);
G. R. Hocke: Die Welt als Labyrinth. Manier u. Manie in der europ. Kunst (Neuausg. 1987);
Zauber der Medusa, Ausst.-Kat. (Wien 1987);
M. in der Architektur, bearb. v. K. Stoklas (1988);
M. Praz: Der Garten der Sinne, Ansichten des M. u. des Barock (a. d. Ital., 1988);
C. Smyth: Mannerism and maniera (Neuausg. Wien 1992);
E. R. Curtius: Europ. Lit. u. lat. MA. (Bern 111993);
J. Shearman: M. (a. d. Engl., Neuausg. 1994);
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Manierismus: Auf der Suche nach Widersprüchen
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Ma|nie|rịs|mus, der; -, ...men: 1. <o. Pl.> a) (Kunstwiss.) Stil im Übergang zwischen Renaissance u. Barock, der durch eine Auflösung u. Verzerrung der Formen der Renaissance, durch groteske Ornamentik, überlange Proportionen u. a. gekennzeichnet ist; b) (Literaturw.) Stil der Übergangsphase zwischen Renaissance u. Barock, der durch eine Verbindung von Ungleichartigem zu einer künstlichen Einheit, durch eine Sprache mit überreichen Metaphern, mythologischen Anspielungen u. a. gekennzeichnet ist; c) Epoche des ↑Manierismus (1 a, b): Der M. zählt zu den Lieblingsepochen der Kunstgeschichte unseres Jahrhunderts. Auch wenn ihn unmittelbar am Ende des »langen« 19. Jahrhunderts noch das Verdikt Heinrich Wölfflins traf, der ihn als »Entartung der Renaissance« stigmatisierte (Zeit 1. 10. 98, 55); d) (Kunstwiss., Literaturw.) in verschiedenen Epochen (z. B. Hellenismus, Romantik, Jugendstil, Hermetismus) dominierender gegenklassischer Stil. 2. manieristische Ausprägung, Form, Äußerung o. Ä.: Wie würden Sie es denn sonst nennen? ... Eine Angewohnheit, einen M., übernommen von denjenigen, die ... (Kemelman [Übers.], Mittwoch 18); ... Plauderstil, der manchen angegrauten Manierismen zum Trotz immer noch mehr Spaß am Theater weckt (Westermanns Monatshefte 2, 1980, 29 [Zeitschrift]); Kissin (= Pianist) bändigt das mit wundervoller Einsicht in Schumanns gebrochene Poesie. Er unternimmt Ausritte ins Extreme und landet doch nie im M. der Brillanz (Zeit 14. 1. 99, 34).
Universal-Lexikon. 2012.