nach 1945 in die amerikanische Sozialwissenschaft eingeführter (englisch »political culture«) und von der deutschen Politikwissenschaft übernommener Begriff, der im wertneutralen Sinne (im Gegensatz zur teilweise normativen alltagssprachlichen Verwendung des Begriffs) den Zusammenhang zwischen politischen Institutionen und dem Bewusstsein der Bevölkerung, d. h. zwischen objektiven politischen Strukturen und ihrer subjektiven Verarbeitung beschreibt.
Grundfragen und Methoden der politischen Kulturforschung
Fragen der Legitimation politischer Systeme und Herrschaftsträger, der Beteiligung der Bürger, der politischen Bedeutung und Bedingtheit von Rechts-, Verwaltungs-, Bildungssystemen u. a. sind seit dem Altertum erörtert worden. Die Etablierung der politischen Kulturforschung als einer sozialwissenschaftlichen Disziplin im 20. Jahrhundert erhielt wesentliche Impulse einerseits durch die Emanzipation junger Staaten von der Kolonialherrschaft, die tief greifende Modernisierungsprozesse in Gang setzte, und andererseits durch die politischen Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Regime, die die Frage nach den ursächlichen Faktoren für den Rückfall eines hoch zivilisierten Landes in die Barbarei provozierten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde politische Kultur unter dem Einfluss des Behaviorismus und einer sich in den Sozialwissenschaften durchsetzenden empirischen Orientierung zu einem eigenen Forschungsfeld mit dem Anspruch theoriegeleiteter und methodisch abgesicherter Erkenntnis. Den Beginn bezeichnete das bis heute als Standardwerk geltende Buch von Gabriel A. Almond und Sidney Verba »The civic culture. Political attitudes and democracy in five nations« (1963). Das darin angewandte Forschungskonzept sieht politische Kultur als »Muster der Verteilung individueller Orientierungen auf politische Objekte unter den Mitgliedern eines Kollektivs«. Dabei meint Orientierung politische Einstellungen und Werthaltungen. Dem Konzept liegt die Hypothese einer Korrespondenz zwischen objektiven Strukturen und realem politischem Geschehen auf der einen Seite und ihrer subjektiven Verarbeitung im Bewusstsein der Bevölkerung auf der anderen Seite zugrunde. Diese Hypothese entbehrt jedoch bisher eines empirischen Beweises. Ein breiter angelegtes Verständnis von politischer Kultur, u. a. vertreten von Karl Rohe, geht dagegen aus von den für ein politisches Kollektiv maßgebenden grundlegenden Vorstellungen darüber, was Politik eigentlich ist, sein kann und sein soll. Diese Grundannahmen stellen so etwas wie Maßstäbe dar, anhand deren Politik wahrgenommen, interpretiert und beurteilt wird. Rohe spricht von einer Art politischer Partitur, einem Weltbild von Gruppen, die denselben politischen Code und in der Folge vielleicht auch dasselbe Verhaltensmuster teilen. Notwendig scheint eine Verbindung beider Ansätze und der jeweils verwendeten Forschungsmethoden, im letzteren Fall eine eher historische und phänomenologische, im anderen Fall die Umfrageforschung. Darüber hinaus erfordern Aussagen über das Verhältnis von Bürger und politischem System die Einbeziehung des praktischen Verhaltens in politischen Kulturdiagnosen.
Hinsichtlich der Forschungsgegenstände haben sich empirisch orientierte Forscher auf Kernbereiche geeinigt, die der Umfrageforschung zugänglich sind. Man kann im Anschluss an David Easton und Dirk Berg-Schlosser folgende Dimensionen der politischen Kultur unterscheiden: 1) Orientierungen gegenüber dem System als Ganzem (Einstellungen zur institutionellen Ordnung und zur politischen Gemeinschaft), 2) gegenüber seinen »Output-Strukturen« (Einstellungen zum politischen Geschehen, zu Institutionen und Akteuren), 3) gegenüber seinen »Input-Strukturen« (Forderungen und Unterstützungen der Bevölkerung) und 4) gegenüber dem Selbst (Ego) als Teilhaber des politischen Systems (Selbstwertgefühl, Bewusstsein politische Kompetenz).
Seit der Antike kennt die europäische Geschichte der politischen Theorie eine Fülle von Typologien für die legitimatorische Verbindung von politischer Kultur und politischem System. In neuerer Zeit entwickelte Rohe die Unterscheidung von »Staatskulturen« und »Gesellschafts-« beziehungsweise »Zivilkulturen«, die sich in ihrem Ansatz zur Lösung politischer Grundprobleme unterscheiden. Die für die Entwicklung der politischen Kulturforschung nach 1945 folgenreichste Typologie stammt von Almond und Verba. Sie unterscheidet drei reine Typen: 1) die »parochiale Kultur« mit schwach ausgebildeter politischer Orientierung; 2) die »Untertanenkultur« mit voll ausdifferenziertem politisch-administrativem System, dessen Bürger sich als Objekt staatlichen Handelns verstehen; 3) die »partizipative Kultur« mit voll ausdifferenzierter politischer Orientierung und Partizipationsmöglichkeiten der Bürger. Mit dieser Typologie kann man kulturellen Wandel und in der Folge politische Entwicklungen sichtbar machen und vergleichen, und sie erlaubt die Bildung von Mischtypen. Unter diesen vermag die »civic culture«, eine Bürgerkultur, die unterschiedliche Elemente aus allen drei reinen Typen enthält, am ehesten gegenwärtige demokratische Gesellschaften des europäisch-nordamerikanischen Typs zu beschreiben und zu vergleichen.
Die Traditionen der politischen Kultur Deutschlands
Politische Kulturen sind nicht zu verstehen ohne den Rekurs auf Traditionen, d. h. Inhalte des Kollektivbewusstseins, die für die Gegenwart nachhaltige Bedeutung haben und für die Zukunft als wegweisend gelten. Geschichte ergibt sich freilich nicht von selbst, sondern sie ist das Produkt von Deutungen und Selektionen. In dem Maße, in dem das Geschichtsbewusstsein von Gruppen auch an der Lebensgeschichte ihrer Mitglieder festgemacht ist, verändert es sich, wenn neue Gruppen politischer Geschichte an ihre Lebensgeschichte binden. Daraus resultiert die Bedeutung von Generationen - im Sinne von Altersgruppen, die jeweils durch dieselben historisch-politischen Erfahrungen geprägt sind - für die Entwicklung des Geschichtsbewusstseins von Individuen wie sozialen Gruppen. In Westdeutschland gab es nach dem Zweiten Weltkrieg mehr solcher Generationen als in anderen europäischen Ländern, weil Veränderungen der politischen Kultur sich deutlicher und rascher vollzogen als anderswo. Die Entwicklung in der DDR brachte infolge des Systemwechsels zum Kommunismus noch einmal ganz anders gelagerte Generationen hervor und mit ihnen historische Bewusstseinsformationen, die mit denen Westdeutschlands nicht vergleichbar und nach der Wiedervereinigung ungemein schwierig zu vereinbaren sind.
Schon das bis 1945 ungeteilte Deutschland begegnete großen Schwierigkeiten auf der Suche nach Identitätsangeboten aus seiner Politikgeschichte. Keine der drei staatlichen Ordnungen, die einander seit 1871 ablösten - das Bismarckreich, die Weimarer Republik als gescheiterte »Demokratie ohne Demokraten«, das »Dritte Reich« -, liefert dem heutigen Deutschen Identifikation. Jedes politische System war der Feind des anderen und zog wesentliche Kräfte aus dem Kampf gegen das vorhergehende. H. Plessner hat Deutschland das exemplarische Land moderner Traditionslosigkeit genannt und ihm darin eine Vorreiterrolle für andere Nationen zugesprochen.
Die deutsche Politikgeschichte ist ferner gekennzeichnet durch ihre obrigkeitsstaatliche Tradition. Dazu gehörte 1) die prinzipielle Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, d. h. die Alleinzuständigkeit staatlicher Institutionen für die Politik und die Politikferne aller gesellschaftlichen Bereiche; 2) die herrschende Vorstellung von der Interessenneutralität des nur dem Gemeinwohl verpflichteten Obrigkeitsstaats; 3) die Unabhängigkeit des nur dem Staat verpflichteten Beamtentums gegenüber wirtschaftlichen Machtgruppen (wobei jedoch die Abhängigkeit des staatlichen Machtapparats von Einflussgruppen verschleiert wurde); 4) der Rang, der dem Staat als selbstständiger Substanz mit eigenem Recht, eigener Würde und Autorität eingeräumt wurde; 5) die politische Apathie des »Untertanen«, seine absolute Folgebereitschaft gegenüber staatlicher Autorität; 6) die volle emotionale Identifikation des Bürgers mit dem Staat und seinen Symbolen. Das deutsche Bürgertum reagierte auf die ihm auferlegte politische Ohnmacht in zweifacher Weise: durch Rückzug in »Innerlichkeit« und durch die Anbetung politischer Macht; beides hängt eng zusammen.
Die obrigkeitsstaatliche Tradition hat einen eigenen, deutschen Politikstil geprägt: Die Bundesrepublik Deutschland kennzeichnet ein hohes Maß an Interventionsstaatlichkeit; die deutsche Politik neigt stark zu legalistischen Lösungen; »Sachkompetenz« genießt in Deutschland höhere Wertschätzung als in anderen Ländern Europas; der politische Prozess ist bürokratisch-formalistisch geprägt und setzt kaum auf partizipative Methoden. Dennoch haben die politischen Institutionen der Bundesrepublik Deutschland die Entwicklung zu einer modernen Demokratie nicht behindert.
Gegenwärtig erhält das obrigkeitliche Staatsverständnis allerdings neue Nahrung: Auf fast allen Politikfeldern erwarten die Bürger vom Staat Aktivitäten und Hilfen, auch dort, wo er objektiv keine Einflusschance hat. Besonders ausgeprägt ist der Wunsch nach einem »starken Staat« in den neuen Bundesländern, sei es auf dem Gebiet von Polizei und Justiz oder der Außen- oder Wirtschaftspolitik. Aber es wächst nicht nur das Gefühl der Angewiesenheit auf den Staat, sondern es fehlt den Bürgern die klassische Untertanenmentalität: Wirtschaftswunder und Wertewandel haben zugleich anspruchsvolle und kritische Bürger hervorgebracht.
Zu den deutschen Politiktraditionen gehört auch die Rechtsstaatlichkeit. Der deutsche Rechtsstaat hat sich im 18. Jahrhundert als eine Form des aufgeklärten Obrigkeitsstaates entwickelt. Idealistische Philosophie und preußische Verwaltung verbanden sich zu einem Politikverständnis, das den Untertanen zwar keine demokratische Mitwirkungsrechte, aber verlässliche Leitlinien gab, innerhalb deren der Bürger sich, von staatlicher Willkür frei, bewegen konnte. Diese Freiheitssphäre galt als vom Staat geschaffen und gewährleistet, nicht als ein Raum »vorstaatlicher« Menschenrechte, wie es die Theorie der Demokratie in Amerika und Frankreich verstand. Erst die Weimarer Reichsverfassung hat 1919 den demokratischen Rechtsstaat in Deutschland geschaffen. Dasselbe geschah noch einmal 1949 bei der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Aufgrund der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus, aber auch mit dem Weimarer Staat versuchten die Schöpfer des Grundgesetzes der Gefahr der »Staatsvergottung« zu entgehen. Dabei trat allerdings an die Stelle des unangreifbaren Staates die unangreifbare Verfassung. Politische Fragen werden so zu Rechtsfragen; besonders das Bundesverfassungsgericht wird zum »Übergesetzgeber«, während das Parlament an nachgeordnete Stelle politische Macht gerät. Das angelsächsische Verständnis der Verfassung ist dagegen das eines Forums für politische Auseinandersetzungen; sie gilt als sachlich und zeitlich offen und setzt gesellschaftlichen Wandel, auch den Wandel von Wertvorstellungen, als normal voraus.
Der Wandel zur Demokratie in Westdeutschland nach 1945
In den 1950er-Jahren hatten Almond und Verba in der Bundesrepublik Deutschland eine »Untertanenkultur« festgestellt. Innerhalb eines Vierteljahrhunderts fand jedoch eine »dramatische Transformation« zur demokratischen Bürgerkultur statt. Dieser Wandel vollzog sich v. a. auf folgenden Feldern: 1) politische Interesse, verstanden als Beobachtung des politischen Geschehens, verbunden mit dem Wunsch nach einer mindestens distanzierten Teilnahme; 2) soziales Vertrauen, d. h. eine Öffnung für andere Menschen als eine wichtige Voraussetzung für demokratisches Engagement; 3) Selbstvertrauen und Selbstachtung, die positiv mit der Akzeptanz demokratischer und rechtsstaatlicher Verfahrensweisen, mit politischer Toleranz, sozialem Vertrauen und dem Glauben an politische Freiheit und Gleichheit korrelieren; 4) Glaube an den eigenen Einfluss oder »politische Effektivität« (englisch political efficacy); 5) Demokratiezufriedenheit; 6) Form und Grad der politischen Partizipation, wobei die Bereitschaft zum Engagement innerhalb neuer, (noch) nicht institutionalisierter Aktivitätsformen (z. B. Bürgerinitiativen, aber auch illegale, aber subjektiv für gerechtfertigt gehaltene Aktionen wie Hausbesetzungen) stark gestiegen ist. Die obrigkeitliche Tradition wirkt jedoch immer noch nach, nicht zuletzt in dem mangelnden Sinn für Opposition (verhältnismäßig geringe Konfliktfähigkeit, Geringschätzung des Kompromisses) und der Missachtung von Minderheiten.
Als Faktoren, die den schnellen Wandel der westdeutschen politischen Kultur ermöglichten, werden genannt: der Schock des verlorenen Krieges und des totalen staatlichen Zusammenbruchs 1945; die Neuorientierung der alten Eliten nach dem westlich-demokratischen Staatsmodell; die der politischen Mentalität der Deutschen angepasste Verfassungsgebung, die auf starke Führung, Kontinuität, Harmonie und Stabilität zielte und dabei entscheidend gestützt wurde durch den wirtschaftlichen Aufschwung. Die allgemeine Wohlfahrtssteigerung führte trotz eher zunehmender Ungleichheit von Vermögen und Einkommen zum Abklingen von Klassenspannungen, zur Entstehung einer neuen Mittelklasse und zur Verbreitung von Bildung und Freizeit - Faktoren, die alle in Richtung Demokratisierung wirkten. Begleitet wurden diese Entwicklungen von einem tief greifenden Wertewandel, der teils als Verlust gemeinschaftsorientierter Werte interpretiert wird, in der Forschung aber vorwiegend als vielschichtiger Prozess gesehen wird, in dem sich die Elemente traditioneller und neuer, »postmaterialistischer« Werte (z. B. Selbstbestimmung, Eigenverantwortlichkeit) zu unterschiedlichen Werttypen mischen. Dabei lassen sich viele der postmaterialistischen Werte und Verhaltensformen (z. B. autoritätskritische Haltung) entweder als »Demokratiepotenzial« oder als »Anomiepotenzial« deuten.
Eine Nation - zwei politische Kulturen?
Als Ende 1989 in Berlin die Mauer fiel, sahen nur wenige die Schwierigkeiten voraus, welche die Wiedervereinigung so lange getrennter politischer Kulturen mit sich bringen würde. Dabei handelt es sich um Probleme unterschiedlichster Natur. Die Forschungssituation wird jedoch durch eine Reihe von Faktoren erschwert. Abgesehen von der unzulänglichen Datenlage für die Gebiete der ehemaligen DDR sind Urteile, Einschätzungen und Prognosen deshalb schwierig und in manchen Fällen unmöglich, weil die Kategorien westlicher Forschung nicht ohne weiteres anwendbar sind. Außerdem befinden sich beide Gesellschaften in rascher Entwicklung, Maßstäbe sind deshalb unsicher. Prognosen sind häufig durch Hoffnung oder Skepsis eingefärbt.
Was die manifesten Unterschiede zwischen beiden politischen Kulturen angeht, so liegt die größte Schwierigkeit für eine rasche Angleichung in der großen Kluft zwischen einer hedonistischen »Spätkultur« mit postmaterialistischen Lebensstilen und einer Mangelgesellschaft mit materialistischer Lebenseinstellung. Die politische Kulturforschung kann über eine Analyse dieser Differenzen hinaus helfen herauszufinden, welche Einstellungen sich rasch ändern lassen, welche Werthaltungen vermutlich nachhaltiger sind und welche Verhaltensweisen zu ihrer Veränderung einen Generationswechsel voraussetzen.
Eine große Rolle spielen für die politische Kultur die Unterschiede der sozialen Schichtung. Die subjektive Schichteinstufung entspricht für die Bevölkerung der alten Bundesländer der typischen Zwiebelform einer Mittelschichtsgesellschaft und für die neuen Bundesländer der pyramidenförmigen Schichtstruktur einer Arbeitergesellschaft. Im Hinblick auf die objektive soziale Schicht liegt die ostdeutsche Bevölkerung, die bis 1990 extrem geringe Einkommensunterschiede kannte, insgesamt dichter beisammen als die westdeutsche. Allerdings erhöht sich die Einkommensdisparität in Ostdeutschland von Jahr zu Jahr. Unterschiede sozialer Schichtung haben Unterschiede von Lebenszufriedenheit zur Folge: Während in Westdeutschland die »allgemeine Lebenszufriedenheit« als wichtigstes Element der privaten Dimension erscheint, ist der bedeutendste Faktor bei den Ostdeutschen durch Fragen der Existenzsicherung bestimmt. Dabei besteht ein Zusammenhang zwischen bedrohter wirtschaftlicher Lage und der Zunahme von Ängsten (besonders vor Kriminalität, Arbeitslosigkeit).
Hinsichtlich der für die gemeinsame politikgeschichtliche Tradition charakteristische Einstellungen und Werthaltungen zeigt sich in Meinungsumfragen, dass das autoritäre Politikmodell und das Gemeinschaftsideal sich in Ostdeutschland länger gehalten haben, was auch die Erfahrungen der DDR widerspiegelt, z. B. hinsichtlich der Forderung nach staatlichem Einfluss auf das Wirtschaftsleben oder hinsichtlich der nachträglichen Einschätzung der Arbeitswelt als Raum der Gemeinschaft und Geborgenheit trotz staatlicher Überwachung. Ein weiteres Relikt deutscher Politikgeschichte, das Probleme für eine zukünftige gemeinsame Kultur schaffen kann, ist das dezisionistische Schwarzweißdenken, das in Westdeutschland nur langsam durch eine stärkere »Ambiguitätstoleranz« (d. h. die für eine pluralistische Demokratie wichtige Fähigkeit, Gegensätze auszuhalten und Konflikte durch Diskurs und Kompromiss zu lösen) abgelöst wurde.
Zu den bekannten Unterschieden im Einstellungsbereich kommen gegenwärtig neue Differenzen, welche die Chancen einer »inneren Einheit« verschlechtern. Sie betreffen eine sich wandelnde Einschätzung Westdeutschlands, in Verbindung mit einer Revision des Bildes der ostdeutschen Vergangenheit im Sinne eines wachsenden Selbstbewusstseins der Ostdeutschen, das einer »nachgeholten Identität« dienen kann; diese Entwicklung ist auch unter Jugendlichen anzutreffen. Umgekehrt sinkt unter den Westdeutschen das Verständnis für die Notwendigkeit eines finanziellen West-Ost-Ausgleichs. In Ostdeutschland ist angesichts der hohen Arbeitslosigkeit die Reserviertheit v. a. gegenüber marktwirtschaftlichen Prinzipien stark gewachsen, was sich wiederum negativ auf die Demokratiezufriedenheit auswirkt. Die wirtschaftliche Stabilität ist - mehr noch als die mit hohen Erwartungen an den Staat verbundene soziale Sicherheit - ein entscheidender Faktor der politischen Legitimität des Gesamtsystems. Ein Integrationshindernis ist auch die v. a. durch das weitgehende Fehlen von DDR-Gegeneliten bedingte westdeutsche Dominanz, die mit ostdeutschen Deklassierungserfahrungen wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und politischer Art korrespondiert. Hierbei muss das unterschiedliche Maß an Betroffenheit durch die Vereinigung und das ungleiche Zahlenverhältnis der beiden Bevölkerungsteile in Betracht gezogen werden. »Ob in Deutschland in absehbarer Zeit eine die politischen Strukturen tragende politische Kultur entstehen oder ob die ehemalige Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR auf längere Sicht eine kulturelle Trennlinie bleiben wird, ist ungewiss.. .. Derzeit werden drei alternative Entwicklungspfade diskutiert: die Anpassung der politischen Orientierungen der Ostdeutschen an das in Westdeutschland vorherrschende Muster, die Verschmelzung zweier divergierender politischer Kulturen zu einer neuen, und schließlich der dauerhafte Fortbestand der, Mauer in den Köpfen`, d. h. die Ausdifferenzierung zweier gegensätzlicher Teilkulturen in einer Nation« (Oscar W. Gabriel).
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
Demokratie · deutsche Einheit · Geschichtsbewusstsein · Nation · öffentliche Meinung · Partizipation · Pluralismus · Politik · politische Willensbildung · Tradition · Wertewandel
O. W. Gabriel: P. K., Postmaterialismus u. Materialismus in der Bundesrep. Dtl. (1986);
P. K. in Dtl. Bilanz u. Perspektiven der Forschung, hg. v. D. Berg-Schlosser u. J. Schissler (1987);
G. A. Almond u. S. Verba: The civic culture. Political attitudes and democracy in five nations (Neuausg. Newbury Park, Calif., 1989);
K. Rohe: P. K. u. ihre Analyse. Probleme u. Perspektiven der polit. Kulturforschung, in: Histor. Ztschr., Bd. 250, H. 2 (1990); W. Weidenfeld u. K.-R. Korte: Die Deutschen. Profil einer Nation (21992);
Dtl., eine Nation - doppelte Gesch. Materialien zum dt. Selbstverständnis, hg. v. W. Weidenfeld (1993);
The civic culture revisited, hg. v. G. A. Almond u. a. (Neudr. Newbury Park, Calif., 1994);
Universal-Lexikon. 2012.