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neulateinische Literatur: Vom Weltmeer zum Rinnsal
neulateinische Literatur: Vom Weltmeer zum Rinnsal
 
Ein Jahrtausend lang, während des gesamten Mittelalters, hatten die Gebildeten in den Kloster- und Kathedralschulen, in den Kanzleien der Herrscherhöfe und Bischofspaläste eine Literatur gewaltigen Ausmaßes geschaffen. Sie hatten die Bücher der Bibel und ihre Auslegung durch die Kirchenväter studiert, aber auch die Schriftsteller und Dichter der klassischen Antike gelesen und sie in eigenen Werken imitiert, kommentiert und gewürdigt. Dabei hatten sie sich nahezu ausschließlich der lateinischen Sprache bedient, einer Sprache freilich, die nicht an einem vorgegebenen klassischen Stilmuster ausgerichtet war, sondern ganz selbstverständlich auch das spätantike Latein der Kirche ebenso wie gelegentliche Neuschöpfungen oder Einflüsse der Volkssprachen aufnahm und weitergab.
 
In Italien erwachte im 14. Jahrhundert eine ganz neue Begeisterung für die klassische Antike, der Gelehrte wie Francesco Petrarca oder sein Schüler, der florentinische Staatskanzler Coluccio Salutati, engagiert Ausdruck verliehen. In programmatischen Schriften legten sie den Grundstein für die Epoche des Humanismus, der die Bildung des Menschen durch das Studium der Antike anstrebte. Seine jungen Protagonisten wandten sich vom traditionellen, scholastisch geprägten Lehrstoff der Theologie und Philosophie ab und studierten stattdessen die klassischen Autoren. Sie wollten unmittelbar an die antike Literatur anknüpfen, ihre Gattungen fortführen und ihre Werke bisweilen sogar überbieten. Diese Haltung ließ sie das herrschende mittelalterliche, als »gotisch« verschmähte Latein verachten, das durch ein erneuertes, an Cicero und Quintilian geschultes Latein ersetzt und nach dem Willen des streitlustigen Lorenzo Valla vom »barbarischen Rost« der vergangenen Jahrhunderte befreit werden sollte. Mit siegesgewissem Pathos bot er sich als Heerführer im Kampf um das neue, untadlige Latein an: »Ich werde in die Schlacht ziehen, ich werde vorangehen, um euch Mut zu machen!« Die Geburtsstunde der neulateinischen Literatur hatte geschlagen, auch wenn die Ablösung vom Latein des Mittelalters sich in einem langwierigen Prozess vollzog.
 
Zentren der jungen Bewegung waren zum einen die Städte - Venedig, Siena, Padua -, zum anderen die Fürstenhöfe der Medici in Florenz, der Visconti und Sforza in Mailand, der Este in Ferrara, auch die päpstliche Kurie in Rom. Hier bildeten sich gelehrte Kreise, deren Mitglieder ihre Gedanken austauschten oder, wie in der Platonischen Akademie des Marsilio Ficino in Florenz, philosophische Fragen erörterten. Nachdem Petrarca 1345 die Korrespondenz Ciceros aufgefunden hatte, erlebte auch die Gattung des Briefs eine eindrucksvolle Wiedergeburt. Denn vor allem in ihren Briefen pflegten die Humanisten bis weit in die Neuzeit hinein ihre gelehrten, freundschaftlichen Verbindungen. Von höchstem Wert sind die Briefe des päpstlichen Kanzleisekretärs Poggio Bracciolini, die wertvolle kulturgeschichtliche Einsichten vermitteln.
 
Die Begeisterung für die »Studia humanitatis« und die Antike schwappte bald auch über die Alpen. Aus Italien zogen Lehrer hinaus in die übrigen europäischen Länder, während zahlreiche Studenten aus dem Norden in den italienischen Zentren des Humanismus die Vervollkommnung ihrer Bildung suchten. So unternahm Johannes Reuchlin 1482 seine erste Reise in die Toskana. Als er wegen seines Eintretens für jüdisches Schrifttum von den traditionsverhafteten Kölner Theologen angefeindet wurde, unterstützten ihn Humanisten wie Crotus Rubeanus und Ulrich von Hutten in den beißend-satirischen lateinischen »Dunkelmännerbriefen«. Crotus Rubeanus gehörte wie die Dichter Euricius Cordus und Eobanus Hessus dem Erfurter Humanistenkreis an. Er war eine von mehreren gelehrten Gesellschaften, die sich, angeregt durch Konrad Celtis, an verschiedenen Orten zusammengeschlossen hatten, etwa in Nürnberg um Willibald Pirckheimer, in Straßburg um Jakob Wimpfeling und Sebastian Brant oder in Basel um den großen Erasmus von Rotterdam, eine der vielseitigsten und wirkungsmächtigsten Persönlichkeiten des Humanismus.
 
Im Verlauf des 16. Jahrhunderts hatte sich die neulateinische Literatur im gesamten westlichen Europa durchgesetzt und nahezu alle Bereiche der Literatur erfasst. Auf dem Feld der Dichtung blühten viele Gattungen, die poetischen Kleinformen ebenso wie das große Epos. Nach dem Vorbild der Hirtendichtung Vergils entstanden bis ins 18. Jahrhundert zahllose Eklogen, von denen diejenigen des Karmeliten Baptista Mantuanus besonders weite Verbreitung fanden. In anmutiger Weise ersetzte Iacopo Sannazaro das ländliche Hirtenmilieu durch Fischerszenen im Golf von Neapel. Als Meister der erotischen Dichtung galt der Niederländer Johannes Secundus, während die Elegien des Hessen Petrus Lotichius Secundus durch ihren autobiographischen Reiz bestachen. Der Engländer John Owen war für seine Epigramme berühmt, und mit der Emblematik begründete der Italiener Andreas Alciati gar eine neue, überaus fruchtbare literarische Gattung. Grundsätzlich bot jedes Ereignis im Leben - Hochzeit, Geburt, Tod, Ankunft, Abschied, Kriegsglück, Naturkatastrophen - Anlass für die Abfassung von Versen. Hoch geschätzt war aber auch die großformatige Poesie, namentlich das Lehrgedicht und das historische, mythologische oder allegorische Epos. Für diese Gattungen hatten antik-römische Dichter wie Vergil, Ovid oder Lukrez die bewunderten Vorbilder geschaffen. In einem umfänglichen medizinischen Lehrgedicht unterrichtete Girolamo Fracastoro seine Zeitgenossen über die Syphilis, während sich der französische Jesuit René Rapin in sechs Büchern dem Gartenbau widmete. Andere Dichter behandelten in lehrhaften Versen den Lauf der Gestirne, die Unsterblichkeit der Seele oder gar die gesundheitsfördernde Wirkung des Tabaks. Namhafte Vertreter des weltlichen Epos waren Francesco Filelfo mit seiner »Sphortias« auf den Mailänder Herzog Francesco Sforza und Tito Strozzi, der in seiner panegyrischen »Borsias« Herzog Borso d'Este feierte. Zu epischen Helden wurden aber auch Christoph Kolumbus und noch Kaiserin Maria Theresia. Ebenfalls reich vertreten war das christliche Epos, für das die »Christias« des Girolamo Vida genannt sei.
 
Während das Lateinische als Sprache der Dichtung allmählich von den Volkssprachen zurückgedrängt wurde, blieb es in prosaischer Form bis ins ausgehende 18. Jahrhundert das dominante, internationale Verständigungsmittel der Wissenschaft. Eine Bibliothek der Barockzeit wies überwiegend lateinische Werke auf, die alle Wissensgebiete abdeckten, ganz gleich ob weltliche oder Kirchengeschichtsschreibung, Völkerrecht, Philosophie (Gottfried Wilhelm Leibniz), Zoologie oder Astronomie (Nikolaus Kopernikus), ob Mineralogie oder Theologie, Medizin, die Naturwissenschaften (Isaac Newton) oder Staatsentwürfe wie die »Utopia« des Thomas Morus.
 
Erst mit den nachhaltigen politischen Veränderungen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, etwa der Säkularisation, verlor das Lateinische seine beherrschende Rolle in Kultur und Wissenschaft. Seither ist es für Dissertationen und Vorworte zu altphilologischen Textausgaben, für offizielle Verlautbarungen der katholischen Kirche, gelegentlich aber auch noch für persönliche Dichtung gebraucht worden. Der Rückzug der einstigen Weltsprache schreitet fort. Heute, an der Wende zum dritten Jahrtausend, nutzen sie nur noch wenige Gelehrte, um sich mitzuteilen. Aus der einstmals so machtvollen Herrscherin ist eine Gespielin für esoterischen Zeitvertreib geworden.
 
Dr. Heinz Erich Stiene
 
Literatur:
 
Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Tübingen u. a. 111993.
 Hardt, Manfred: Geschichte der italienischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Düsseldorf u. a. 1996.

Universal-Lexikon. 2012.