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Sitte
Anstand; Lauterkeit; Anständigkeit; Moral; Sittlichkeit; Brauch; Regel; Konvention; Gepflogenheit; Gewohnheit; Usus

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Sit|te ['zɪtə], die; -, -n:
1. für bestimmte Lebensbereiche einer Gemeinschaft geltende, dort übliche, als verbindlich betrachtete Gewohnheit, Gepflogenheit, die im Laufe der Zeit entwickelt, überliefert wurde:
in den Dörfern kennt man noch viele alte Sitten; die Sitten und Gebräuche eines Volkes.
Syn.: Brauch, Brauchtum.
Zus.: Bauernsitte, Landessitte.
2.
a) Gesamtheit von Normen, Grundsätzen und Werten, die für eine Gesellschaft grundlegend sind:
die guten Sitten pflegen; früher hätte man dieses Phänomen als Verfall der Sitten bezeichnet.
b) <Plural> Benehmen, Manieren, Umgangsformen:
sie achten bei ihren Kindern auf gute Sitten; sie ist ein Mensch mit guten Sitten.
Syn.: Betragen, Kinderstube.
Zus.: Tischsitten.

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Sịt|te 〈f. 19
I 〈zählb.〉
1. auf den allg. Moralgesetzen beruhende Verhaltensweise, Sittlichkeit
2. allg. verbreitete Gewohnheit, Brauch
● Anstand und \Sitte (nicht) beachten; \Sitten und Gebräuche; das ist bei uns (nicht) \Sitte; alte, althergebrachte \Sitte; feine, schlechte \Sitten; gute \Sitten gutes Benehmen, Anstand; Verstoß gegen die guten \Sitten
II 〈unz.; umg.〉 Sittenpolizei
[<mhd. site <ahd. situ, aengl. sidu <got. sidus <germ. *sesu <idg. *suedh- „Eigenart, Gewohnheit, Sitte“]

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Sịt|te , die; -, -n [mhd. site, ahd. situ, urspr. = Gewohnheit, Brauch, Art u. Weise des Lebens, wahrsch. verw. mit Seil u. eigtl. = Bindung]:
1. für bestimmte Lebensbereiche einer Gemeinschaft geltende, dort übliche, als verbindlich betrachtete Gewohnheit, Gepflogenheit, die im Laufe der Zeit entwickelt, überliefert wurde:
uralte, überlieferte -n;
dort herrschen ziemlich raue, wilde -n (dort ist man nicht zimperlich);
das ist dort [so] S. (ist dort üblich);
das sind ja ganz neue -n! (ugs.; Ausdruck der Verärgerung, wenn etw. nicht so ist, wie man es gewohnt ist u. erwartet hat).
2. ethische, moralische Normen, Grundsätze, Werte, die für das zwischenmenschliche Verhalten einer Gesellschaft grundlegend sind:
Verfall und Verrohung der -n;
das verstößt gegen die [guten] -n, gegen die [gute] S.
3. <Pl.> Benehmen, Manieren, Umgangsformen:
feine, vornehme, schlechte -n haben.
4. <o. Pl.> (Jargon) Kurzf. von Sittenpolizei:
bei der S. arbeiten.

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I
Sitte
 
[althochdeutsch situ, eigentlich »Art und Weise des Lebens«], die in einer Gesellschaft oder Teilgesellschaft vorhandenen und angewendeten Regeln des Sozialverhaltens, sofern diese nicht durch Gesetze festgelegt, sondern durch alltägliche Anwendung verankert sind, die sich durch den Verweis auf Traditionen, Kultur, Brauch, moralische oder religiöse Vorstellungen rechtfertigt. Sitte wird im Verlauf des Sozialisationsprozesses (besonders über die Erziehung) von den Individuen einer Gesellschaft verinnerlicht, wobei die unbewusste Teilnahme an alltäglichen Vollzügen, Nachahmung und Gewohnheit den Vorrang vor bewusster Aneignung haben. Sitten und die sie stützenden Wertvorstellungen sind nicht unbedingt gesamtgesellschaftlich gleich, sie hängen von den in jeweiligen Teilgesellschaften (z. B. sozialen Schichten) vorhandenen Rahmenbedingungen (regionale, konfessionelle, kulturelle Verschiedenheiten, unterschiedlich starke Orientierung an Traditionsbeständen) ab und unterscheiden sich auch nach dem Grad der Verbindlichkeit, den entsprechenden Sanktionen und den Abweichungsmöglichkeiten. Verständnis für die jeweils in einer Gesellschaft gültige Sitte und die Bereitschaft zu ihrer Übernahme hängen stärker von der »Eingelebtheit« (M. Weber) der Individuen in die jeweilige Gesellschaft und Kultur ab als von bestimmten Sanktionen. Anders als bei Gesetzen wird die Verletzung der Sitten in der Regel nicht formal und deutlich sanktioniert, sondern kann durch allgemeine Missachtung oder Ausschluss aus der Gruppe bestraft werden. Als eine »Grammatik des Handelns« statten Sitten den Einzelnen mit einem Repertoire an Wissen über das erwartete Verhalten in bestimmten Situationen aus, sie stabilisieren die Verhaltenssicherheit, erzwingen aber unter Umständen auch eine für das Individuum leidvolle Form des sozialen Verhaltens. In nahezu allen menschlichen Gesellschaften finden sich Sitten für die Regelung bestimmter sozialer Sachverhalte (Trachten, Grußformen, Sprachregeln, Tischsitten, Regeln zum Verhalten der Geschlechter, der Lebensalter; Verhaltensregeln für Todesfälle, Geburten; nicht zuletzt Werbungs- und Heiratssitten). Die Gleichförmigkeit und das Ansehen von Sitten hängen u. a. von der Größe und Bedeutung der jeweiligen sozialen Gruppe ab, die sie vertritt; ebenso von deren Homogenität und Geschlossenheit sowie von der Funktion der durch die Sitte vertretenen Regelung.
 
Literatur:
 
F. Tönnies: Die S. (1909, Nachdr. 1970);
 W. Oelmüller u. a.: Diskurs: Sittl. Lebensformen (21980);
 Die guten S., in: Freibeuter. Vierteljahres-Ztschr. für Kultur u. Politik, H. 47 (1991);
 A. Arez: Die Macht sozialer Gewohnheit (1996);
 N. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde. (201997).
II
Sịtte,
 
1) Camillo, österreichischer Architekt und Stadtplaner, * Wien 17. 4. 1843, ✝ ebenda 16. 11. 1903; vertrat in zahlreichen Veröffentlichungen zum Städtebau die Nutzung der natürlichen Geländeform und der Erfahrungen des historischen Städtebaus für ein einheitliches Stadtbild. Sitte entwarf auch Kirchen und andere Großbauten sowie Bebauungspläne für Städte.
 
Schrift: Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1889).
 
Literatur:
 
D. Wieczorek: C. S. et les débuts de l'urbanisme moderne (Brüssel 1981).
 
 2) Willi, Maler und Grafiker, * Kratzau (bei Reichenberg) 28. 2. 1921; lebt seit 1947 in Halle (Saale), wurde 1959 Professor an der Hochschule für industrielle Formgestaltung Halle-Burg Giebichenstein, 1974-88 Präsident des Verbandes Bildender Künstler der DDR; nach einer »grauen Periode« (1951-54) zeigten seine Werke Einflüsse von F. Léger und P. Picasso; seit Mitte der 50er-Jahre entstanden, angeregt vom mexikanischen Muralismo, monumentale Simultandarstellungen (auch als Mehrtafelbilder), und sein vorerst betont zeichnerischer Stil begann sich in einer dynamischen Malerei aufzulösen. Mit seinen politisch engagierten Kompositionen in ihrer Mischung aus expressiver Spontaneität und Pathos lieferte er einen eigenständigen Beitrag zum sozialistischen Realismus (u. a. »Leuna 1969«, 1967-69, Berlin, Nationalgalerie); auch zahlreiche Zeichnungen und Druckgrafiken.
 
Literatur:
 
W. Hütt: W. S. (Dresden 1972);
 
W. S., 1945-1982, Ausst.-Kat. (1982);
 
W. S. Liebe, Leidenschaft u. Vanitas, bearb. v. G. Joswig u. I. Frankmöller, Ausst.-Kat. Dominikanerkirche Osnabrück (1988).
III
Sitte,
 
Das Wort Sitte bedeutet eigentlich »Art und Weise des Lebens« und steht für die in einer Gesellschaft oder Gruppe herrschenden Regeln des Sozialverhaltens, sofern diese nicht durch Gesetze festgelegt, sondern durch ihre tägliche Anwendung verankert sind. Diese Regeln rechtfertigen sich aus bestimmten Traditionen, Bräuchen, kulturellen Besonderheiten sowie moralischen oder religiösen Vorstellungen. Sitten sind nicht unbedingt in allen Gesellschaftsschichten identisch, sie können z. B. von der sozialen Schichtzugehörigkeit abhängen oder aber regional, konfessionell, kulturell und in den Altersgruppen unterschiedlich sein. In fast allen menschlichen Gesellschaften finden sich Sitten zur Regelung bestimmter sozialer Sachverhalte (z. B. Trachten, Grußformen, Sprachregeln, Tischsitten, Regeln zum Verhalten der Geschlechter und Lebensalter, Verhaltensregeln für Todesfälle und Geburten sowie Werbungs- und Heiratssitten). - In Europa und in Nordamerika haben sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend starke Veränderungen durchgesetzt. Dabei ist einerseits eine Abschwächung zuvor allgemein anerkannter Sitten eingetreten, andererseits hat die Vielfalt der Sitten in verschiedenen sozialen Gruppen zugenommen.

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Sịt|te, die; -, -n [mhd. site, ahd. situ, urspr. = Gewohnheit, Brauch, Art u. Weise des Lebens, wahrsch. verw. mit ↑Seil u. eigtl. = Bindung]: 1. für bestimmte Lebensbereiche einer Gemeinschaft geltende, dort übliche, als verbindlich betrachtete Gewohnheit, Gepflogenheit, die im Laufe der Zeit entwickelt, überliefert wurde: schöne, althergebrachte, uralte, ererbte, überlieferte -n; die -n und Gebräuche eines Volkes; dort herrschen ziemlich raue, wilde -n (dort geht es ziemlich rau zu, ist man nicht zimperlich); das ist bei ihnen [so] S. (ist dort üblich); das sind ja ganz neue -n! (ugs.; Ausdruck der Verärgerung, wenn etw. nicht so ist, wie man es gewohnt ist u. erwartet hat); eine S. achten, verletzen; mit einer S. brechen; es ist besser, „meine Freunde“ zu sagen ... nach guter, alter, heimatlicher S. (Roth, Beichte 17). 2. ethische, moralische Normen, Grundsätze, Werte, die für das zwischenmenschliche Verhalten einer Gesellschaft grundlegend sind: die gute S.; hier herrschen Zucht und S.; Anstand und S. bewahren, verletzen; die guten -n pflegen; Verfall und Verrohung der -n; das verstößt gegen die [guten] -n, gegen die [gute] S.; er verhielt sich gegen die, gegen alle S.; ... Mein Mann und ich ... sind aus Tradition, aus guter S. und Anstand ... zur Beerdigung gegangen (Kronauer, Bogenschütze 283). 3. <Pl.> Benehmen, Manieren, Umgangsformen: gute, feine, vornehme, schlechte, sonderbare -n haben; sie achten bei ihren Kindern auf gute -n; er ist ein Mensch mit/von merkwürdigen -n. 4. <o. Pl.> (Jargon) kurz für ↑Sittenpolizei: Die zwei von der S. kontrollieren auf gut Glück einige Personalausweise (Rechy [Übers.], Nacht 361); bei der S. sein, arbeiten; zur S. versetzt werden.

Universal-Lexikon. 2012.