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Mundartdichtung
Mụnd|art|dich|tung 〈f. 20in der Mundart geschriebene Dichtung; Sy Dialektdichtung

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Mụnd|art|dich|tung, die:
1. <o. Pl.> dichterisches Schaffen in einer bestimmten Mundart.
2. einzelne Dichtung in einer bestimmten Mundart.

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Mund|artdichtung,
 
Dialẹktdichtung, Dichtung, die im Unterschied zur überregionalen hochsprachlichen Literatur in einer bestimmten Mundart verfasst ist. Mundartdichtung in diesem Sinne gibt es also erst, seitdem sich eine allgemein verbindliche Hoch- und Schriftsprache entwickelt hat, in Deutschland etwa seit M. Luther. Zuvor war alle Dichtung mehr oder weniger mundartlich, auch wenn sich, wie z. B. in der mittelhochdeutschen Blütezeit, gewisse Ausgleichstendenzen feststellen lassen. In der griechischen Antike blieben indes die literarischen Gattungen auch nach der Ausbildung einer einheitlichen Schriftsprache denjenigen Mundarten verbunden, in denen sie entstanden, wie etwa die Lyrik dem äolischen Dialekt. Ähnliche gattungsspezifische Zuordnungen von Sprachen finden sich im europäischen Mittelalter im Zusammenhang mit dem Altprovenzalischen und Galicisch-Portugiesischen als übernationale Medien der Lyrik und hinsichtlich des Altfranzösischen als grenzüberschreitendem Idiom der (wissenschaftlichen) Prosa. Mundartdichtung umfasst alle traditionellen Gattungen volkstümlicher Erzähl- und Dichtkunst. Grenzfälle finden sich dort, wo vor einem hochsprachlichen Hintergrund mundartliche Elemente zur milieugetreuen Charakterisierung verwendet werden, v. a. innerhalb des Dialogs (z. B. bei L. Thoma, G. Hauptmann).
 
Geschichte:
 
Nach dem Vordringen der neuhochdeutschen Schriftsprache finden sich im 16. und 17. Jahrhundert neben anonymen Mundartdichtungen mundartliche Sequenzen, meist mit dem didaktischen Zweck, Volkstümlichkeit zu signalisieren und Volkstypen realistisch darzustellen, in Form von Bauerngesprächen und eingeschobenen Volksliedern in den Jesuiten- und Piaristendramen im süddeutschen Sprachraum sowie in den Fastnachtsspielen der Städte. Die in schlesischer Mundart verfasste Posse »Die gelibte Dornrose« in A. Gryphius' Doppeldrama »Verlibtes Gespenst« (1661) gilt als erste literarisch bedeutende Mundartdichtung. Bairisch-österreichische Mundartdichtung manifestiert sich im 18. Jahrhundert zunehmend in Volkspossen (Marian Wimmer, * 1725, ✝ 1793), auf Klosterbühnen (M. Lindemayr) und besonders in der von J. A. Stranitzky auf der Bühne heimisch gemachten Figur des Hanswurst (Kasperl) im Wiener Volkstheater (J. F. von Kurz, P. Hafner, G. Prehauser) sowie in der Folge in den Wiener Volksstücken von A. Bäuerle, F. Raimund, J. N. Nestroy u. a. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erzielten die geistlichen und weltlichen Singspiele in oberschwäbischer Mundart von J. V. Sailer, die Gedichte von J. K. Grübel in Nürnberger Stadtmundart und J. H. Voss' plattdeutsche Idyllen »De Winteravend« (1776) und »De Geldhapers« (1777) breitere Wirkung. Die Romantik mit ihrem Interesse am Volkstümlichen und Regionalen (z. B. auch Kinderreimen) bewirkte, v. a. gefördert durch die sprachwissenschaftlichen Arbeiten der Brüder J. und W. Grimm, eine literarische Aufwertung der Mundartdichtung, zum Teil nutzten die Autoren nun klassische Formen (so der Elsässer J. G. Arnold); überregional wirkten die »Alemannischen Gedichte« (1803) von J. P. Hebel. Identitätsbewahrende und unterhaltende Funktionen kennzeichnen die nach 1850 entstandene, idyllisch geprägte Mundartdichtung der Heimat- und Bauernliteratur, so im niederdeutschen Sprachraum, die »Quickborn«-Gedichte von K. Groth (1852), im ostmitteldeutschen (erzgebirg.) Sprachraum die populären Gedichte und Lieder Anton Günthers (* 1875, ✝ 1937); daneben finden sich sozialkritische Aspekte, so in der Prosa F. Reuters, in den Dramen L. Anzengrubers und im bayerischen Volkstheater bei Joseph Ruederer (* 1861, ✝ 1915) und L. Thoma. Diese Tendenz gipfelte im naturalistischen Drama (G. Hauptmann, F. Stavenhagen u. a.) und wirkte über O. M. Graf, Ö. von Horvath, Lene Voigt und H. Reimann bis in die Gegenwart fort (F. X. Kroetz, F. Mitterer). Seit den 1970er-Jahren wurde der Dialekt zur Artikulierung gesellschaftskritischer Aussagen, v. a. aber zum Hinweis auf persönliche emotionale Betroffenheit besonders in kritischen Liedtexten (K. Wecker, »BAP«) oder in regionale Mentalitäten aufgreifenden Schlagertexten (Joy Fleming, »Neckarbrücken-Blues«, 1972), v. a. aber in den (Protest-)Liedern der Bürgerinitiativbewegung (z. B. W. Mossmann; A. Weckmann, »rhingold«, 1975 für den schweizerisch-badisch-elsässischen, also alemannischen Raum) ein wichtiges Ausdrucksmittel. Die Bedeutung der Mundart als sprachliche Verdeutlichung sozialer Solidarität und der Gruppenidentität wurde auch von bedeutenden Vertretern der Kinder- und Jugendliteratur erkannt, wobei hier zwischen Mundartdichtung und literarischer Umsetzung von Jugendsprache im 20. Jahrhundert (E. Kästner, »Emil und die Detektive«, 1929; U. Plenzdorf, »Die neuen Leiden des jungen W.«, 1973) fließende Übergänge festzustellen sind. - Bis heute anhaltende konservativ-restaurative Funktionen erhielt die Mundartdichtung dagegen im Rahmen der Heimatkunstbewegung um die Jahrhundertwende und besonders im nationalsozialistischen Literaturbetrieb durch die programmatische Ideologisierung und Stilisierung des Bäuerlich-Volkstümlichen zum »Natürlichen«, d. h. als positiv gewerteten Gegenpol gegen alles - als negativ erachtete - Künstlich-Zivilisatorische (so bei Hans Kloepfer, * 1867, ✝ 1941; J. Weinheber u. a.). - Seit den 1950er-Jahren erlangte die Mundartdichtung eine neue Dimension als Experimentierfeld sprachkritisch orientierter Autoren und für deren Suche nach neuen Ausdrucksweisen, wie sie z. B. durch die Vertreter der konkreten Poesie und die Wiener Gruppe (H. C. Artmann) repräsentiert wird. - Ausgeprägte und bedeutende Mundartdichtungen finden sich in nahezu allen Dialektgruppen. - In neuerer Zeit tragen (Freilicht-)Aufführungen mundartlicher Stücke und die Sendung von Dialektstücken in Hörfunk und Fernsehen stark zur Verbreitung der Mundartdichtung bei. - Eine wichtige Rolle spielt die Mundart in der niederdeutschen Literatur, der österreichischen Literatur und der schweizerischen Literatur sowie in den deutschsprachigen Gebieten Luxemburgs, des Elsass und Lothringens. - In den nichtdeutschsprachigen Räumen lassen sich vergleichbare Entwicklungen feststellen.
 
Während sich in England im 14. Jahrhundert die Sprache Londons als Literatursprache durchzusetzen begann (besonders durch die Werke G. Chaucers), entstand im Dialekt des westlichen Mittellandes eine auf den altenglischen Stabreim zurückgreifende Dichtung (»alliterative revival«, z. B. W. Langland, »Piers the Plowman«; »Sir Gawain and the green knight«). Mundartliche Traditionen wurden v. a. in Schottland fortgeführt (R. Henryson, W. Dunbar, G. Douglas, Sir D. Lyndsay), und zu Beginn des 18. Jahrhunderts kam es als Reaktion auf die politische Union Schottlands mit England zum bewussten Rückgriff auf mundartliche Traditionen in der Dichtung A. Ramsays, R. Fergussons und R. Burns' (»vernacular revival«). In England verwendete u. a. W. Barnes in seinen »Poems of rural life in the Dorset dialect« (1844-62, 3 Teile) Dialekt (County Dorset), ähnlich T. Hardy in den »Wessex poems« (1898) und in seinen Romanen; R. Kipling griff in seinen Soldatengedichten (»Barrack-room ballads«, 1892) auf den Cockney-Dialekt zurück, ebenso wie die Autoren der spätviktorianischen »Social Fiction« in Kurzgeschichten. H. MacDiarmid und Sydney Goodsir Smith (* 1915, ✝ 1975) gelten als die bedeutendsten schottischen Mundartdichter der Gegenwart. Einflüsse der stärker zurückgedrängten irischen Mundart zeigen sich u. a. im Drama S. O'Caseys, B. Behans und J. M. Synges oder bei B. Friel. - In der Literatur der Einwanderungsländer wird Mundart zum Ausdruck nationaler Eigenständigkeit (Buschballaden Australiens) und regionaler Unterschiede (Local-Color-Literatur der USA, volkstümliche Balladen und Erzählungen Kanadas in englischer und französischer Sprache); gleichzeitig dient die Sprachfärbung besonders in Roman und Drama auch ethnischer Differenzierung.
 
In Frankreich wetteiferten seit dem 12. Jahrhundert das Anglonormannische, das Champagnische und das Pikardische literarisch miteinander, bis sich unter dem Einfluss politischer und kultureller Entwicklungen zunehmend das Franzische, d. h. der Dialekt der Île-de-France mit dem Zentrum Paris, als Vorbild für die literarische Hochsprache herausbildete. Dieser Prozess war bereits im 14./15. Jahrhundert abgeschlossen und beließ einer reinen Mundartdichtung nur noch geringen Spielraum. Für die Länder der Iberischen Halbinsel mit den Zentren Toledo, Madrid und Lissabon gilt bis ins 19. Jahrhundert eine vergleichbare, wenn auch auf ganz anderen Bedingungen fußende Entwicklung, sieht man einmal von den humanistisch inspirierten Sprachspielen B. de Torres Naharros oder G. Vicentes ab. Ganz anders dagegen Italien, dessen dialektale Vielfalt bereits Dante in seiner Schrift »De vulgari eloquentia« (entstanden nach 1305, gedruckt 1529) zusammenstellte. Erst in jahrhundertelangen Auseinandersetzungen, zuletzt gefördert von der italienischen Einigungsbewegung im 19. Jahrhundert, gewann das Toskanische jene Modellfunktion, die ihm trotz Dante, Petrarca und Boccaccio immer wieder streitig gemacht worden war (Questione della Lingua). So lässt sich denn eine eindrucksvolle Reihe von Autoren aus der Geschichte der italienischen Literatur benennen, die bewusst eine nichttoskanische Variante des Italienischen zu ihrem literarischen Ausdrucksmittel wählten: Ruzzante setzte in seinen Komödien gezielt das Paduanische, zum Teil auch zur schichtenspezifischen Charakterisierung, ein, G. Basile erzählt seine Geschichten auf Neapolitanisch, C. Goldoni bediente sich des Venezianischen, G. Meli des Sizilianischen, C. Porta des Mailändischen, das zunächst auch A. Manzoni wählte, bevor er in der zweiten Fassung (1840-42) seines Romans »I promessi sposi« die Hegemonialstellung des Toskanischen anerkannte. Die Kontinuität dieser Literatur reicht bis ins 20. Jahrhundert, von S. Di Giacomo aus Neapel bis zu C. Pavese aus Santo Stefano Belbo (Norditalien), dem die Sprache seiner Heimat Ausdruck der Möglichkeit war, sich in seiner naturgegebenen Einsamkeit zurechtzufinden, oder bis zu C. Pascarella und P. P. Pasolini, die das Römische verwendeten; sie stehen gewissermaßen in der Nachfolge G. G. Bellis, der die Kraft seines satirisch-polemischen Temperaments für die Rechte der Unterdrückten einsetzte. - Besonders durch die Autonomiebestrebungen innerhalb der Randgebiete der westlichen Romania seit dem 19. Jahrhundert finden sich neue Ausdrucksformen der Mundartdichtung in Nord- und Südfrankreich (bretonische Sprache und Literatur, provenzalische Sprache, provenzalische Literatur), im Baskenland (baskische Sprache und Literatur) sowie in Katalonien (katalanische Sprache und Literatur) und Galicien (galicische Sprache und Literatur).
 
Literatur:
 
Dt. Philologie im Aufriß, hg. v. W. Stammler, Bd. 2 (21960, Nachdr. 1978);
 M., in: Real-Lex. der dt. Lit.-Gesch., begr. v. P. Merker u. a., hg. v. W. Kohlschmidt u. a. (21965);
 F. Hoffmann u. J. Berlinger: Die neue dt. M. (1978);
 
Literature of the North, hg. v. D. Hewitt u. a. (Aberdeen 1983);
 L. Todd: The language of Irish literature (London 1989);
 
Einstellungen u. Positionen zur Mundart-Lit., hg. v. Eva-Maria Schmitt (1993).

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Mụnd|art|dich|tung, die: 1. <o. Pl.> dichterisches Schaffen in einer bestimmten Mundart: er befasst sich mit M. jeder Art. 2. einzelne Dichtung in einer bestimmten Mundart: die -en dieser Autorin liebt sie besonders.

Universal-Lexikon. 2012.