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Positivismus
Po|si|ti|vis|mus 〈[ -vı̣s-] m.; -; unz.〉 philosophische Lehre, die nur auf dem Gegebenen, Tatsächlichen, dem „Positiven“, beruht u. metaphysische Erörterungen ablehnt

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Po|si|ti|vịs|mus, der; -:
Philosophie, die ihre Forschung auf das Positive, Tatsächliche, Wirkliche u. Zweifellose beschränkt, sich allein auf Erfahrung beruft u. jegliche Metaphysik als theoretisch unmöglich u. praktisch nutzlos ablehnt.

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Positivịsmus
 
der, -, 1) ein an den exakten Naturwissenschaften orientiertes philosophisch-wissenschaftliches Methodenideal; 2) eine Richtung der Philosophie und Wissenschaftstheorie im 20. Jahrhundert; 3) eine Bewertungskategorie in der neueren wissenschafts- und zeitkritischen Diskussion. Der Positivismus beschränkt die Gültigkeit menschlicher Erkenntnis grundsätzlich auf »Tatsachen«, die durch objektive Erfahrung gegeben und als solche auch verifizierbar sind (das »Positive«). Abgelehnt werden alle spekulativen Erkenntnisbereiche und -methoden jenseits positiv gegebener Erfahrungsinhalte. Dieser Tatsachenstandpunkt des Positivismus ist zum Teil »realistisch« auf das empirisch Gegebene oder »bewusstseinsidealistisch« auf die vermittelnde Empfindung gerichtet.
 
Als Ideal der Erkenntnis gilt die in den exakten Naturwissenschaften erstrebte und großenteils erreichte, auf dem Experiment beruhende Feststellung von Gesetzmäßigkeiten in mathematischer Form; dieser Typus des Denkens sollte nach Möglichkeit auch in den Geisteswissenschaftenen verwirklicht werden, die erst dadurch »zu Wissenschaften erhoben« würden (so H. T. Buckle in Bezug auf die Geschichtswissenschaft). Metaphysik und Theologie gelten dem Positivismus als Begriffspoesie oder bloße Vorstufen der Wissenschaft. Alle Fragen nach dem »Wesen« der Dinge und dem »Sinn« des Wirklichen, nach Substanzen, wirkenden Kräften und realen Ursachen werden als vorwissenschaftliche Fragestellungen abgelehnt, alle normativen und teleologischen Denkweisen verworfen, weil sie in Kontroversen hineinführen, die mit empirischen Mitteln nicht entscheidbar sind. Im weiteren Sinn hat diese Auffassung in der allgemeinen Tendenz Ausdruck gefunden, nur das wissenschaftlich Gesicherte gelten zu lassen. Im engeren Sinn ist der Positivismus hauptsächlich eine wissenschaftstheoretische Position, die im Anschluss an methodologischen Erwägungen erkenntniskritisch-sozialanthropologisch begründet worden ist. Sie wirkte sich innerhalb der Philosophie auf die Ethik (Utilitarismus) und die Erkenntnistheorie (Fiktionalismus) aus. Darüber hinaus schlug sie sich in Form bestimmter Richtungen in anderen Bereichen nieder: in der Geschichtsschreibung, in der evangelischen Theologie, in den Sozialwissenschaftenen, in der Pädagogik, in der Psychologie, in Literatur- und Sprachwissenschaft (u. a. Junggrammatiker, amerikanischer Deskriptivismus) sowie in der Rechtstheorie der historischen Rechtsschule, die die Bedeutung von Rechtsgewohnheiten und Gewohnheitsrecht hervorhebt, und dem Rechtspositivismus.
 
Entwicklung des Positivismus:
 
Ansätze zu positivistischem Denken finden sich im Altertum bei einigen Sophisten, in der Neuzeit bei einigen Vorläufern naturwissenschaftlicher Forschung (R. Bacon), in den empiristischen Systemen (D. Hume, É. B. de Condillac), besonders in der englischen Assoziationspsychologie (D. Hartley, J. Priestley) und bei den aufklärerischen Gesellschaftskritikern (A. R. J. Turgot, M. J. A. de Condorcet) sowie einigen anthropologisch-psychologisch orientierten Geisteswissenschaftlern (z. B. die »Ideologen« P. J. G. Cabanis, A. L. C. Graf Destutt de Tracy).
 
Von den französischen Enzyklopädisten wurde die Lehre, dass die Wissenschaft nichts anderes anstreben dürfe als die gesetzliche Verknüpfung beobachtbarer Fakten, mit dem Gedanken verbunden, dass in der Stufenfolge der positiven Wissenschaften, die von abstrakten zu immer konkreteren Begriffsbildungen führt, die gesamte Wirklichkeit erkennbar werde. Mit dem »Dreistadiengesetz« (Turgot, A. Comte), das die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Erkenntnis von der Theologie über die Metaphysik zur am Methodenideal der Naturwissenschaften orientierten »positiven Philosophie« behauptet und damit den Aufklärungsoptimismus spiegelt, wird der Positivismus in die menschliche Denkgeschichte - als deren Ziel - eingeordnet und begründet. Dieser Fortschritt verläuft in den einzelnen Wissenschaften jedoch nicht synchron. Comte sah im Dreistadiengesetz den Schlüssel zur geistigen und gesellschaftlichen Entwicklung der Menschheit und erhob den Positivismus zu dem Wissenschaftsideal, das seit etwa 1850 mehrere Jahrzehnte beherrschend wurde. Von ihm aus, besonders durch H. Spencer, H. Taine, Buckle, K. E. Dühring u. a., wurde der Positivismus mit seiner Ablehnung von Sinn- und Wertfragen auch in den Geisteswissenschaftenen zur Norm. Radikalisiert wurde der positivistische Ansatz im Neopositivismus des Wiener Kreises (M. Schlick, O. Neurath, R. Carnap u. a.). Philosophie ist hier Methodenlehre der Wissenschaften, wobei besonders der Physik und ihren Begriffssystemen der Vorzug gegeben wird, weil nur diese eine intersubjektiv verständliche und zugleich auf jeden beliebigen Sachverhalt anwendbare Wissenschaftssprache liefern können. Aus diesen Gründen werden auch die im 19. und 20. Jahrhundert ausgebildete symbolische Logik oder Logistik (C. S. Peirce, E. Schröder, G. Frege, A. Whitehead, B. Russell, J. Łukasiewicz, D. Hilbert), die Grundlagenforschung der Mathematik und die Sprachanalyse (G. E. Moore, L. Wittgenstein) herangezogen. Bezüglich Letzterer hat sich von der semantischen Richtung, der es um die Verifizierbarkeit oder die Übereinstimmung mit den empirischen Daten geht, der radikale Physikalismus (Neurath, zeitweise auch Carnap) abgehoben, der nur aus der Art der Sprachverwendung resultierende Probleme kennt und allein auf die innere Kohärenz von Denken und Sprache achtet. Mit der Rückkehr zu semantischen Problemen (C. W. Morris, auch Carnap) ist die Ausbildung einer gegen alle Standpunkte neutralen Semantik im Gange. Der durch W. Stegmüller in Europa während der 1960er-Jahre wieder einflussreich gewordene Neopositivismus zeigte seine Wirkung vornehmlich in den Geistes- und Sozialwissenschaften (E. Topitsch, H. Albert), aber ebenso in dem früher verbreiteten, nun neu belebten Rechtspositivismus (H. Kelsen).
 
Insbesondere die Sozialwissenschaften waren durch Comte, den Begründer einer eigenständigen Soziologie, schon von ihrer Entstehung her eng mit dem Positivismus verbunden; leitend wurden dabei ein Wissenschaftsverständnis und die damit verbundene Forschungsprogrammatik, denen zufolge sich eine als Wissenschaft legitimierte Sozialforschung lediglich an die in der Erfahrung fassbare Wirklichkeit und die an Fakten ablesbaren Gesetzmäßigkeiten zu halten habe. Im Anschluss an die theoretische und geschichtsphilosophische Darstellung des Positivismus bei Comte wurde er bei É. Durkheim zum Impuls, Sozialwissenschaften auf die Erkenntnis der in der sozialen Realität jeweils vorfindliche Gegebenheiten einzustellen. Positivismus dient seitdem zur Kennzeichnung einer Haltung, die sich um eine möglichst vorurteilsfreie, auf die Feststellung sozialer Fakten und ihrer Zusammenhänge gerichtete und in ihren Folgerungen praxisorientierte, aber wertungsfreie Sozialforschung, v. a. auch im Bereich der Prognose, bemüht. Der Positivismus hat dadurch v. a. im Rahmen einer auf Sozialberatung ausgerichteten anwendungsbezogenen Sozialforschung (»Social Engineering«, Sozialtechnologie) und in der Auseinandersetzung z. B. mit marxistischer Soziologie in den westlichen Industrieländern nach 1945 den Charakter einer Leitvorstellung angenommen, doch wurde sein vorgeblich interesseloses Wissenschaftsverständnis auch der Kritik unterzogen (Positivismusstreit).
 
Seit dem 19. Jahrhundert bis heute wird gegen den Positivismus eingewendet, sein Grundprinzip der Beschränkung auf das Wahrnehmbare und des Ausschließens aller Metaphysik durch den Positivismus allein sei nicht zu rechtfertigen. Außerdem macht man gegen den Positivismus geltend, dass sein Exaktheitsbegriff mit einer Verengung oder Verarmung im Gegenständlichen erkauft werde, dass die Gleichsetzung des »Wissenschaftlichen« mit dem Wahrnehmbaren willkürlich und selbst metaphysisch bestimmt sei und dass insbesondere die Eigengesetzlichkeit der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis durch die Übertragung naturwissenschaftlicher Denkformen auf sie verkannt werde.
 
Literatur:
 
P. im 19. Jh. Beitrr. zu seiner geschichtl. u. systemat. Bedeutung, hg. v. J. Blühdorn u. a. (1971);
 R. Kamitz: P. (1973);
 G. Kiss: P., in: G. Kiss: Einf. in die soziolog. Theorien, Bd. 1 (31977);
 L. Kołakowski: Die Philosophie des P. (a. d. Poln., 21977);
 W. Ertelt: Die Erkenntniskritik des P. u. die Möglichkeit der Metaphysik (Amsterdam 1979);
 A. Möbius: Der P. in der Lit. des Naturalismus (1980);
 C. G. A. Bryant: Positivism in social theory and research (New York 1985);
 M. Sommer: Husserl u. der frühe P. (1985);
 H.-H. Gander: P. als Metaphysik (1988);
 P. Halfpenny: Positivism and sociology (Neudr. London 1992);
 A. Comte: Rede über den Geist des P. (a. d. Frz., Neuausg. 1994);
 J. Habermas: Erkenntnis u. Interesse (111994);
 B. Plé: Die »Welt« aus den Wiss.en. Der P. in Frankreich, England u. Italien von 1848 bis ins zweite Jahrzehnt des 20. Jh. (1996).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Positivismus und Wiener Kreis: Abkehr von der Metaphysik
 

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Po|si|ti|vịs|mus, der; -: Philosophie, die ihre Forschung auf das Positive, Tatsächliche, Wirkliche u. Zweifellose beschränkt, sich allein auf Erfahrung beruft u. jegliche Metaphysik als theoretisch unmöglich u. praktisch nutzlos ablehnt.

Universal-Lexikon. 2012.