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Das Musical
Das Musical
 
Vaudeville, Minstrel-Show und Extravaganzen - die Vorläufer
 
Die amerikanische Gattung des Musiktheaters im 20. Jahrhundert, das Musical - Kurzform von Musical Comedy, auch Musical Drama oder Musical Play - ist eine in der Regel aus zwei Akten bestehende populäre Mischung aus Musik mit Songs, Handlung (häufig mit zeitgemäßer Thematik) und Tanz, die idealerweise eine Einheit bilden. Entstanden am New Yorker Broadway, trägt es stilistische Züge aus Oper und Operette, Revue, Burleske und Show sowie Varietee, häufig mit musikalischen Elementen aus der Unterhaltungsmusik wie Jazz, Pop und Rock angereichert.
 
Obwohl das Musical amerikanischen Ursprungs ist, schöpft es aus verschiedenen europäischen Entwicklungen des Musiktheaters, vornehmlich aus der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in England entstandenen Ballad-Opera. Markantes Beispiel für diese Gattung ist die Opernparodie »The beggar's opera« (1728) von John Gay und John Christopher Pepusch. Während die von Pepusch ausgewählte Musik für die »Bettleroper« die damals beliebten Opern Georg Friedrich Händels und die italienische Oper aufs Korn nimmt, klagt der satirische Text von Gay die korrupten gesellschaftlichen Zustände im London jener Zeit an. Daneben trägt das Musical Züge der italienischen Commedia dell'Arte aus dem 16. Jahrhundert mit ihrer offenen Sprache und der geistlichen Mysterienspiele zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert, insbesondere in Bezug auf die szenische Abfolge. Die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Blütezeit erreichende Operette, die sich aus dem Vaudeville und verschiedenen Typen der komischen Oper entwickelte, kam unter Verwendung von einfachen Liedern mit häufig volkstümlichem Charakter und aktuellen Tänzen wie Cancan und Walzer einem Bedürfnis des Publikums nach anspruchsloser Unterhaltung entgegen. Der Franzose Jacques Offenbach war mit seinen beißend-witzigen Operetten wie »La belle Hélène« (1864) weltweit Wegbereiter für diese Musikgattung; in Wien entstanden kurze Zeit später u. a. mit der »Fledermaus« (1874) des »Walzerkönigs« Johann Strauß weitere Operetten ganz eigener Prägung. Auch die parallel zur Operette emporgekommene Revue - eine Bühnendarbietung lose aufeinander folgender Szenen mit gesprochenen Texten, Gesang und Tanz - war von Einfluss auf das Musical. Die prächtig ausstaffierten Unterhaltungen, denen ein durchgängiger Handlungsstrang fehlte, kamen erstmals in den Pariser Folies-Bergères zur Aufführung (»Place aux jeunes« von 1886).
 
Die im 19. Jahrhundert in Nordamerika beliebten Minstrel-Shows dienten - neben der amerikanischen Fassung des Vaudevilles und der aus einer Kompilation populärer Musikstücke bestehenden, prunkhaft ausgestatteten Extravaganza - dem Musical als weitere Quelle. Ursprünglich aus England stammend, war der amerikanische Ableger mit seinen karikierten afroamerikanischen Sklaven, die von weißen, mit Kohle angemalten Schauspielern dargestellt wurden, vor der Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst Ausdruck des vorherrschenden Rassismus. Die Mischung aus Liedern, Sketchen, Tänzen und Instrumentalstücken beschränkte sich jedoch später auf Opernpersiflagen. Neben weiteren Versatzstücken aus Burleske, Varietee, Tingeltangel-Shows, Jahrmarktkuriositäten und Ähnlichem waren es aber Elemente - insbesondere die rhythmischen - aus der afroamerikanischen Musik wie Blues, Spiritual und Jazz, die dem Musical etwas genuin Amerikanisches verleihen sollten.
 
 Die Geburt des Musicals aus dem Geist des »American Way of Life«
 
»The black crook« von 1866, ein im Harz spielendes Schauermärchen um einen buckligen Zauberer, gilt als frühes Beispiel dieser neuen Musikgattung, wenngleich der Begriff »Musical Comedy« erst im Zusammenhang mit dem 1874 entstandenen Stück »Evangeline« von Edward E. Rice genannt wurde. Während George M. Cohan mit seinem »Little Johnny Jones« von 1904 ein erstes echt amerikanisches Werk schuf, das sich von den bis dahin bestimmenden europäischen Einflüssen löste, orientierten sich Florenz Ziegfelds »Ziegfeld Follies«, für die u. a. George Gershwin und Cole Porter die Musik schrieben, an den großen Pariser Ausstattungsrevuen. Eine weitere wichtige Entwicklungsstufe war Irving Berlins »Alexander's ragtime band« von 1911, in der der noch junge Jazz präsentiert wurde. Mit dem 1927 von Jerome Kern und Oscar Hammerstein II verfassten »Show boat«, dem ersten so genannten Buchmusical, dem ein »Buch«, ein dramatisches Werk mit integrierter Musik zugrunde lag, nahm schließlich das moderne Musical seinen Anfang. Mit realistischen Charakteren und in die Handlung eingebetteten Songs (u. a. »Ol' man river«) setzten Kern und Hammerstein einen neuen Standard. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise seit dem Ende der 1920er-Jahre fanden erstmals auch ernstere Themen Eingang in das Genre: George Gershwins satirisches »Of thee I sing« (1930), Harold Romes »Pins and needles« (1937) oder Marc Blitzsteins »The cradle will rock« (1938) sind prominente Beispiele für zeitkritische und politisch brisante Stoffe. Einen ersten Höhepunkt in Hinblick auf den Realismus erreichte das Musical mit Gershwins »Porgy and Bess« (1935), einem im amerikanischen Süden angesiedelten und in einem Schwarzengetto spielenden Stück.
 
Neben politisch motivierten Stoffen brachten die 30er- und 40er-Jahre die enge Zusammenarbeit zwischen Autoren und Choreografen hervor: George Balanchine gestaltete die Tanzeinlagen für Richard Rodgers' und Lorenz Harts' »On your toes« (1937), und Agnes de Mille war die Choreografin von Rodgers' und Hammersteins »Oklahoma!« (1943). Leonard Bernsteins »West side story« (1957) mit der Choreografie von Jerome Robbins markierte einen einstweiligen Höhepunkt, was die Verschmelzung von Tanz und Handlung betrifft. In den 40er-Jahren erweiterte sich die Themenpalette: So stand die Psychoanalyse bei »Lady in the dark« von Kurt Weill im Vordergrund; Rodgers legte seinen »Pal Joey« (1940) als Antihelden an und beschäftigte sich in »South Pacific« (1949) mit der Kriegsproblematik; Rassenkonflikte kamen in Burton Lanes »Finian's rainbow« (1947) zur Sprache.
 
Die 50er-Jahre standen unter dem Zeichen der Weltliteratur: So stand George Bernard Shaw mit seinem »Pygmalion« Pate für Frederic Loewes Welterfolg »My fair lady« (1956), und Schriftsteller wie Truman Capote schrieben Musicallibretti. Die kulturellen und politischen Umbrüche und Veränderungen der 60er- und 70er-Jahre durch die Protestbewegung oder die Emanzipation spiegelten sich inhaltlich und formal im Musiktheater wider: So thematisierte »Hair« von Galt MacDermot das Aufbegehren der Jugend und den Vietnamkrieg; »Tommy« von Pete Townshend war eine Rockoper, und »Grease« von Jim Jacobs und Warren Casey warf einen Blick zurück auf die wilden 50er-Jahre des Rock 'n' Roll. Auch eine Auseinandersetzung mit dem aufkeimenden Nationalsozialismus wie bei »Cabaret« von John Kander fand in diesen politisierten Zeiten einen fruchtbaren Boden. Die 70er-Jahre brachten aber auch die viel diskutierte Krise am Broadway hervor: Das Erfolgsrezept schien vorerst ausgereizt zu sein, und die Entwicklung stagnierte. Nur eine Hand voll außerhalb des Broadways inszenierter »Off-Broadway«-Produktionen wie das Spektakel »Oh, Calcutta« von Kenneth Tyan brachte etwas frischen Wind in die Szene. Trotzdem konnte der Engländer Andrew Lloyd Webber mit »Jesus Christ Superstar« oder »Evita« beim Massenpublikum weltweit gewaltige Erfolge verbuchen, obwohl seine Werke stilistisch eher rückwärts gewandt waren. Mit Lloyd Webber, der seine Rechte durch die eigene Verwertungsgesellschaft geschickt vermarktete, kam auch die voll durchorganisierte Megashow, wie beispielsweise bei seinen »Cats« oder dem »Phantom der Oper«, in Mode - mit angegliederten Freizeitparks, Pauschalreisen und anderen Marketingstrategien.
 
Abseits des allmächtigen Lloyd Webber und des weitgehend gelähmten Broadway bildete in den 80er-Jahren Europa das Zentrum des innovativen Musicalschaffens. Hier gab es noch Nischen für gewagte und experimentelle Produktionen wie »Les misérables« von Claude Michel Schönberg und Alain Boublil oder »Linie 1«, eine der bis dahin wenigen genuin deutschen Produktionen des Berliner Grips-Theaters. In den 90er-Jahren fassten die deutschsprachigen Musicals anscheinend nach und nach Fuß, nicht zuletzt weil die Absolventen der in den 80er-Jahren entstandenen privaten und staatlichen Ausbildungsstätten Deutschlands und Österreichs nun in die Theaterbetriebe strömten. Beispiele für eine eigene Tradition im deutschsprachigen Raum sind »Elisabeth« (1992) von Michael Kunze (Buch und Liedtexte) und Sylvester Levay (Musik) sowie »Ludwig II.« (2000) von Stephan Barbarino (Text) und Franz Hummel (Musik); 1999 wurde »Mozart«, ebenfalls von Michael Kunze (Buch, Liedtexte) und Sylvester Levay (Musik), uraufgeführt. Trotz dieser Neuschöpfungen und innovativen Tendenzen ebbt die Musicalwelle inzwischen auch in Deutschland wieder ab: Viele Produktionen werden eingestellt, und Häuser schließen - vor allem die privaten, während die staatlichen Kulturbetriebe einen Auftrieb erhalten.
 
 There's no business like showbusiness
 
Die Wiege des Musicals stand an der West Side New Yorks zwischen der 40. und der 55. Straße - am Broadway, dem Inbegriff des Showbusiness schlechthin. Der Broadway war (und ist) größter Prüfstein für eine Produktion und alle daran Beteiligten sowie zugleich Impuls, Einfluss, Antrieb und Maßstab für die Musiktheaterbetriebe in der ganzen Welt. Um eine Erfolgsbilanz ziehen zu können, gar einen so genannten Smashhit zu landen, werden in der riesigen Unterhaltungsmaschinerie Broadway sämtliche Register gezogen. So werden etwa große Stars als Blickfang und Köder für die Kasse engagiert und gängige, bereits bekannte Hits effektvoll in die Show eingeflochten. Stets gilt die Faustregel: Produziert wird, was gefällt. Ein Musical wird - im Gegensatz zur europäischen Oper oder dem Schauspiel - nicht inszeniert, sondern produziert, und eine Produktion, mit dem Produzenten anstelle des Intendanten an der Spitze, entsteht eigens für ein spezielles Haus und ein spezielles Ensemble. Vor der Premiere durchläuft sie verschiedene Probevorstellungen (Try-outs) und Tourneen durch die Provinz, um die Publikumsreaktionen testen und gegebenenfalls Änderungen vornehmen zu können. Erst dann findet die eigentliche Opening Night statt, und eine ununterbrochene Laufzeit (en suite) folgt, wiederum anders als beim europäischen Repertoirebetrieb, wo das Programm häufig wechselt. Ein weiteres spezifisches Merkmal der Musicalproduktionen sind die Singer-Dancer, Darsteller, denen größte Anstrengungen, Disziplin und Professionalität abverlangt werden, da sie tanzen, schauspielern und singen müssen, oft jahrelang im gleichen Stück. Ob ein Musical angenommen wird oder durchfällt, der finanzielle Ruin droht oder ein Produzent über Nacht zum Millionär wird, hängt nicht zuletzt von der Gesamtleistung des (sehr großen) Teams ab, von einer stimmigen Einheit des Plots, der Songs, des Balletts und der Ausstattung.
 
 Broadway versus Hollywood
 
Hollywood kam 1927 mit dem Tonfilm »The Jazz Singer - Starring Al Jolson« (ein Bühnenstar am Broadway) auf den Musicalgeschmack. Nach dem Erfolg dieses Films überfluteten zahlreiche, meist schnell und lieblos abgedrehte, aber aufwendig produzierte Nachverfilmungen bekannter Broadway-Musicals den Kinomarkt - eine willkommene Alternative für das Publikum in der Provinz, das nicht die finanziellen Mittel besaß, um in New York die Originale zu sehen. Das erste für die Anforderungen des Kinos zugeschnittene Filmmusical war »Broadway melody« von 1929, ein Stück im Stück, dem verschiedene Variationen des Themas wie »Broadway babies«, »Broadway rhythm« und andere nachfolgen sollten. Der Börsenkrach und die Weltwirtschaftskrise zogen - als Ablenkungsmanöver für den kleinen Mann - glamouröse, prächtig ausgestattete Filmfantasien wie »Monte Carlo« oder »Isn't it romantic?« nach sich. Doch der Höhepunkt der verschwenderischen Materialschlacht Hollywoods war noch nicht erreicht: In den 30er-Jahren setzte man operettenhaft auf »Girls, girls, girls«, wie etwa bei dem gigantischen Wasserballett in »Footlight parade«, bis der Zuschauer schließlich übersättigt war. Gefragt war nun der zeitgemäßere Stepptanz eines Fred Astaire mit seiner Partnerin Ginger Rogers (»Flying down to Rio«). Inzwischen war Hollywood eine wahrhafte Bedrohung für den Broadway geworden: Die Filmmetropole winkte mit prallen Schecks, und die besten Komponisten und Autoren folgten dem Ruf. Die 40er-Jahre standen ganz unter dem Zeichen blonder Diven wie der herben Marlene Dietrich oder der naiven Jean Harlow, dem aufkommenden Swing und den - kriegsbedingten - patriotischen Durchhalteparolen (»Yankee Doodle Daddy«). Gene Kelly löste Astaire in der Publikumsgunst ab, und der ehemalige Kinderstar Judy Garland war der neue Stern am Musicalfilm-Firmament (»For me and my gal«).
 
Mit dem Aufkommen des Fernsehens erwuchs dem Filmbetrieb plötzlich eine ernst zu nehmende Konkurrenz. Hollywood nahm die Herausforderung an und schickte in den 50er-Jahren zugkräftige Stars wie Frank Sinatra mit Filmen ins Rennen, die im neuartigen Cinemascope-Verfahren produziert worden waren. Neben Jazzfilmen (»Glenn Miller story«) bediente es sich der Vorlagen vom Broadway (»Oklahoma!«). Gegen Ende des Jahrzehnts brach die Zeit des Rock 'n' Roll an: Große Filmmogule traten ab, und das neue Hollywood entdeckte die jungen Wilden wie Elvis Presley als Marktlücke. Die 60er-Jahre waren der Anfang vom Ende des Filmmusicals der alten Schule: Die Produktionskosten waren zu hoch geworden, und das Publikum wollte lieber Action sehen. Dennoch gab es ein paar herausragende Musicalverfilmungen, darunter Leonard Bernsteins »West side story« sowie »Funny girl« (mit Barbra Streisand) und »Das Mädchen Irma la Douce« (mit Shirley MacLaine). In den 70er-Jahren übte die Schallplattenindustrie einen nicht unerheblichen Einfluss auf das Filmgeschäft aus: So wurde beispielsweise Andrew Lloyd Webbers »Jesus Christ Superstar« zuerst auf Vinyl veröffentlicht, bevor es die Verfilmung gab - eine Praxis, die bis heute beibehalten wurde. Die Bedeutung der Filmmusicals ließ in den 80er-Jahren allmählich nach, nicht zuletzt deswegen, weil weltweit zahllose Bühnenstätten wie Pilze aus dem Boden geschossen waren und somit ein großer Markt abseits des Kinos bedient werden konnte. Nur noch wenige Stoffe (»A chorus line«) fanden den Weg auf die Leinwand, wohingegen der Theaterbetrieb trotz gelegentlicher Krisen bis heute boomt.

Universal-Lexikon. 2012.