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deutsche Ostsiedlung
I
deutsche Ostsiedlung
 
Das frühmittelalterliche Westeuropa war äußerst dünn besiedelt. Nur ein geringer Teil der Gesamtfläche wurde landwirtschaftlich genutzt, und auch dort fehlten oft die Menschen, um bereits kultiviertes Land weiter zu bewirtschaften. Seit der Mitte des 11. Jahrhunderts aber setzte ein bemerkenswertes Bevölkerungswachstum ein, das bis in das 14. Jahrhundert hinein anhielt. In den bereits dichter besiedelten Gegenden Frankreichs und Englands stieg die Bevölkerung, so schätzt man, vom Ende des 11. bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts auf das Dreifache, im dünner besiedelten Sachsen sogar auf das Zehnfache. Die intensivere Bodennutzung und damit die Steigerung der Ernteerträge im Altsiedelland reichte nicht aus, um die stets wachsende Zahl von Menschen zu ernähren. Es musste bislang unbewirtschaftetes Land durch Rodung dazugewonnen werden. Rodungsland waren zunächst die Waldgebiete und Gebirge in Westeuropa selbst; die Küstengebiete der Nordsee wurden eingedeicht, die Sümpfe trockengelegt. Erst allmählich zogen wagemutigere Bauern als Siedler weiter nach Osten. Heinrich der Löwe warb für die Erschließung Holsteins und Mecklenburgs flämische, holländische und niederdeutsche Bauern als Siedler an. Ein knappes Jahrhundert später bemühte sich der Deutsche Orden um deutsche Siedler für das Prussenland (Ostpreußen) und Litauen, weil die einheimische Bevölkerung zahlenmäßig nicht ausreichte, um das Land weiter zu erschließen. Aber auch polnische Fürsten suchten Bauern aus dem volkreicheren Westen in ihr Land zu ziehen. Für die Neugründung von Dörfern setzten diese Landesherren meist Lokatoren ein, Männer, die mit einer ganzen Gruppe von Siedlern den Standort eines Dorfes festlegten, die Hofstätten und Felder vermaßen und die Anfangsschwierigkeiten durch ein Startkapital überbrückten. Der Lokator selbst erhielt dann in dem neuen Dorf einen größeren Bauernhof zu besonders günstigen Bedingungen und wurde meist der »Schulze« des Dorfes, der Beauftragte des Landesherrn. Auch die Zisterziensermönche waren an der Erschließung des Landes intensiv beteiligt.
 
Unabhängig von der Nationalität ging es den Landesherren bei der Erschließung des Landes um den Ausbau ihrer Herrschaft, zu der der Arbeitseinsatz und die Steuern der Neusiedler beitragen sollten. Man kann deshalb die mittelalterliche deutsche Ostsiedlung nicht mit dem Kolonialismus der Neuzeit vergleichen, denn es ging nicht um die Beherrschung unterentwickelter Völker. Die Ostsiedlung war Teil des ganz Europa im Hochmittelalter erfassenden Landesausbaus, bei der Einheimische und Zugereiste in den neuen Dörfern in gleicher Weise sesshaft wurden.
II
deutsche Ostsiedlung,
 
deutsche Ostbewegung, ostdeutsche Siedlung, im Mittelalter die Besiedlung sowie die wirtschaftliche und kulturelle Erschließung der Gebiete östlich von Elbe und Saale und des Böhmerwaldes bis zum Finnischen Meerbusen und Schwarzen Meer, südlich über die Ostalpen bis zum Karst und zur Save durch deutsche Fürsten, Ritter, Mönche, Bauern, Bürger, Kaufleute und Bergleute, ohne direkte Einflussnahme des Königtums. Die Missionierung (Christianisierung) war nur in Teilgebieten das erste Ziel; meist standen wirtschaftliche Erwägungen im Vordergrund.
 
Geschichte:
 
In die während der Völkerwanderung von den Germanen (v. a. Hermunduren) aufgegebenen Gebiete in den Offenlandschaften zwischen Elbe/Saale und Weichsel waren seit dem 6. Jahrhundert slawische Stämme (u. a. Elbslawen) eingewandert. Bereits im 6.-8. Jahrhundert setzte das Vordringen des bairischen Stammes im Südosten ein, unterstützt insbesondere vom Erzbistum Salzburg sowie dem Bistum Passau. Nach den Awarenkriegen (791, 795, 803) des fränkischen Königs Karls I., dem Großen (768-814; seit 800 römischer Kaiser), wurden die Pannonische Mark bis zur Theiß errichtet und die bayerische Ostmark sowie das heutige Kärnten kolonisiert. Nach dem Sieg König Ottos I., des Großen (936-973), über die Ungarn (Lechfeld, 955) wurden der Südosten bis zur Leitha neu besiedelt und die Alpentäler erschlossen (seit 996 Ostarrichi [Österreich]; seit 976 unter den Babenbergern). Ab dem 9. Jahrhundert wurde die Ostgrenze an Elbe und Saale durch die Errichtung von Marken gesichert, die jedoch noch nicht kolonisiert wurden. Unter König Heinrich I. (919-936) und Otto I. suchte man die Grenze nach Osten vorzuschieben (Gero und Hermann Billung); die Eroberungen gingen aber im Slawenaufstand von 983 bis auf die Mark Meißen, die deutsch besiedelt worden war, wieder verloren. Elbe und Saale blieben bis ins 12. Jahrhundert die Grenze zwischen Deutschen und (Elb-)Slawen, den späteren Sorben.
 
Ein neuer Abschnitt der deutschen Ostsiedlung begann unter König Lothar III. (von Supplinburg; 1125-37). Die ihm folgenden staufischen Herrscher setzten, begünstigt durch Überbevölkerung besonders im nordwestdeutschen »Altsiedelland«, seine Kolonisierungspolitik fort. Große Züge v. a. von Niedersachsen und Niederfranken, aber auch von Mosel-, Rhein- und Oberfranken sowie Thüringern strömten über Elbe und Saale. Voraussetzungen dafür waren der Gewinn Ostholsteins durch die Lauenburger, Brandenburgs durch die Askanier (Albrecht der Bär; zwischen 1134 und 1157), der Mark Meißen (Obersachsen) durch die Wettiner (1089 beziehungsweise 1123/25), Mecklenburgs durch Heinrich den Löwen (zwischen 1160 und 1180), schließlich die Einbindung der Herzöge von Pommern (1181) durch Kaiser Friedrich I. Barbarossa (1152-90) in den mittelalterlichen deutschen Staat (Heiliges Römisches Reich) und die Sonderstellung der schlesischen Herzöge, die ihrerseits deutschen Bauern und Bürger ins Land riefen, um die Entwicklung der Landwirtschaft, des Handels und der Städte zu fördern. Böhmen, seit dem 10. Jahrhundert ins Heilige Römische Reich eingegliedert, zog besonders unter König Ottokar II. Přemysl (1253-78) Deutsche ins Land, die geschlossen die Randgebiete besiedelten. Die Könige von Ungarn (Arpaden) veranlassten bereits im 12. Jahrhundert die Ansiedlung von Deutschen in Siebenbürgen (Siebenbürger Sachsen); ab Beginn des 13. Jahrhunderts erfolgte sie mithilfe des Deutschen Ordens (Burzenland). Besondere Bedeutung hatte das Wirken des Deutschen Ordens im Ostseeraum. Im Land der heidnischen Prußen begann der Orden 1230 mit der Missionierung, zunächst im Culmer Land, von wo aus er das ganze prußische Land christianisierte und erschloss, indem er Städte gründete und dann Bauern ins Land holte. In Livland und Kurland, seit 1237 im Besitz des Ordens, blieb die deutsche Ostsiedlung auf die Städte und den Adel beschränkt.
 
Weit über das geschlossene Gebiet der bäuerlichen Besiedlung hinaus reicht die Gründung von Städten mit deutschem Recht (»Ius Teutonicum«). Nahezu alle Städte Polens, Böhmens und Ungarns sind, selbst wenn sie an ältere slawische Siedlungen anschlossen, entweder von deutschen Handwerkern und Kaufleuten angelegt oder mit dem von ihnen mitgebrachten deutschem Recht begabt worden. Die deutsche Ostsiedlung wurde durch die Hanse gefördert, da sie West- und Mitteleuropa durch Handel und Schifffahrt mit dem Ostseeraum verband. Seit der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts ließ die deutsche Ostsiedlung nach, besonders wegen der großen Menschenverluste durch die Pestpandemie von 1347-52, zumal nun auch im »Altsiedelland« im Westen Land für siedlungswillige Bauern zur Verfügung stand und die Zuwanderungen nach Osten ausblieben. Die bis dahin entstandene Ostgrenze des sich zunehmend schließenden deutschen Siedlungsraums blieb in der Folgezeit unverändert.
 
Die deutsche Ostsiedlung war keine Masseneinwanderung, sondern vollzog sich in größeren und kleineren Schüben. Anfangs regelten Landesherren sowie weltliche und geistliche Grundbesitzer (besonders Zisterzienser und Prämonstratenser) die Besiedlung; später belehnten sie ritterliche Vasallen mit Kolonialland, die die weitere Besiedlung übernahmen oder ihrerseits einen Unternehmer (»Lokator«) damit beauftragten, Auswanderungswillige ins Land zu bringen und die Landverteilung sowie die Anlage der Siedlungen zu leiten (Dorfvorsteher). Die Dörfer wurden auf gerodetem Land (»aus wilder Wurzel«) oder neben einem alten Dorf angelegt; aus Naturlandschaften wurden in schwerer gemeinsamer Arbeit der Dorfgemeinde Kulturlandschaften. Der bäuerliche deutsche Siedler, der die Dreifelderwirtschaft ins Neusiedelgebiet brachte, erhielt in den neuen Rodungsherrschaften seine (zumeist eine) Hufe umsonst oder zu geringem Preis; er besaß persönliche Freiheit, sein Besitz war erblich. Hand- und Spanndienste waren - wenn überhaupt gefordert - niedrig bemessen. In den slawischen und ungarischen Ländern mit einheimischen Herrschern waren deutsche Siedler von Diensten und Abgaben befreit; eigene Gerichtsbarkeit und Selbstverwaltung waren wesentliche Bestandteile der nach deutschem Recht entstandenen Siedlungen, deren System bis zum Beginn der Industrialisierung erhalten blieb.
 
Die Siedler verschmolzen mit den Einheimischen zu Neustämmen. Der deutsche Siedlungsraum wuchs durch die deutsche Ostsiedlung um mehr als ein Drittel, wobei sich zum Teil westslawische Gruppen freiwillig der deutschen Sprache und Kultur anschlossen (»Germanisierung«). Staatsgrenzen wurden durch sie nicht unmittelbar verändert, doch bot sie für weiträumige fürstliche Staatenbildungen günstigere Voraussetzungen als die territoriale und soziale Zersplitterung in West- und Süddeutschland.
 
In der historischen Forschung wurde die deutsche Ostsiedlung besonders nach dem Zweiten Weltkrieg kontrovers diskutiert. Während einerseits die kriegerische Inbesitznahme bestehender Staatswesen durch die Siedler herausgestellt wurde, betonte man andererseits zunehmend, dass die deutsche Ostsiedlung einen Teilaspekt des im Hochmittelalter ganz Europa erfassenden Prozesses des Landesausbaus durch Rodungen, Eindeichungen usw. darstellt (innere beziehungsweise Binnenkolonisation). Unabhängig von der Nationalität suchten die Landesherren ihre Herrschaft auszubauen, wozu der Arbeitseinsatz und das Steueraufkommen der Neusiedler wesentlich beitrug. Nicht wie beim neuzeitlichen Kolonialismus die Beherrschung unterentwickelter Völker, sondern das in vielfältiger Form sich entwickelnde Nebeneinander von Alteingesessenen und Neusiedlern war das Ziel dieser Politik. Die neuere Forschung stellt inzwischen die zeitweilige Abgabenfreiheit im Ansiedlungsgebiet infrage. Die DDR-Forschung hat insbesondere, zum Teil überakzentuiert, die Auswirkungen der deutschen Ostsiedlung auf die Slawen (Sorben) untersucht und auf ihren Beitrag an der deutschen Ostsiedlung (sorbische Binnenkolonisation im 10./11. Jahrhundert, Anteil an der Rodungstätigkeit) aufmerksam gemacht.
 
In anderem Zusammenhang als die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters stehen die Kolonisation der Hohenzollern in Brandenburg-Preußen seit dem 17. Jahrhundert (Ostmarkenpolitik) sowie die Neusiedlungen von deutschen Kolonisten in Ost- und Südosteuropa von Mitte/Ende des 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts (auch »deutsche Ostsiedlung der Neuzeit« genannt; Deutsche).
 
Literatur:
 
Urkunden u. erzählende Quellen zur d. O. im MA., hg. v. H. Helbig u. L. Weinrich, 2 Bde. (1-21970-75);
 W. Schlesinger: D. O. in MA. u. Neuzeit (1971);
 W. Kuhn: Vergleichende Untersuchungen zur mittelalterl. Ostsiedlung (1974);
 
Die d. O. des MA. als Problem der europ. Gesch., hg. v. W. Schlesinger (1975);
 W. Wippermann: Der »dt. Drang nach Osten« (1981);
 C. Higounet: Die d. O. im MA. (1986);
 K. H. Quirin: Die d. O. im MA. (21986).

Universal-Lexikon. 2012.