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römische Literatur
römische Literatur,
 
die lateinische Literatur der Stadt Rom und des Römischen Reiches von etwa 240 v. Chr. bis etwa 500 n. Chr. Von der wirklichen literarischen Produktion ist nur ein Bruchteil überliefert; die Werke vieler Autoren sind allein aus den Sekundärquellen bekannt. Erhalten ist, von wenigen spätantiken Überlieferungsträgern abgesehen, was in den Kloster- und Kathedralschulen des Mittelalters abgeschrieben wurde.
 
Bereits im 7. Jahrhundert v. Chr. hatten die Römer die Schriftlichkeit von den unteritalischen Griechen übernommen, verwandten sie aber lange Zeit nur zur Aufzeichnung von Verträgen, Senatsbeschlüssen oder zur Niederschrift des geltenden Rechts (»Zwölftafelgesetz« 451/450). Alle Äußerungen in Vers und Prosa waren vorliterarisch und auf das alltägliche Leben begrenzt (z. B. Hochzeits- und Soldatenlieder, kultische Gesänge, Totenklagen und Leichenreden). Erst durch die enge Berührung Roms mit der griechischen Kultur seit dem 1. Punischen Krieg entstand eine eigene römische Literatur. In der Folgezeit übernahmen die Römer von den Griechen Versmaße, Stilmittel, Stoffe und Gattungen (z. B. Komödie, Tragödie, Epos, Lyrik, Roman), wobei sich die Form der Aneignung des griechischen Vorbildes ständig wandelte; sie umfasste alle Grade der Selbstständigkeit von der Übersetzung (»interpretatio«) über die eigene Bearbeitung und Umgestaltung (»imitatio«) bis hin zur völligen Neuschöpfung (»aemulatio«). Gleichwohl wurde nicht alles genuin Römische verdrängt. So blieb die Gattung der »Satura« (Satire) erhalten, und die »Atellana« (Atellanen) wurde in sullanischer Zeit literarisch. Andererseits wurden übernommene Gattungen, etwa die Geschichtsschreibung, ganz mit römischen Stoffen gefüllt. Charakteristisch für die römische Literatur ist schließlich ihre Ausrichtung auf den praktischen Nutzen. Spekulatives Denken blieb den nüchternen Römern stets fremd; anders als die Griechen entwickelten sie keine eigenen philosophischen Systeme. Mit der Ausdehnung des Römischen Reiches wurden auch die Provinzen in die römische Literatur einbezogen. Infolgedessen trat seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. das nationalrömische Element in der Literatur zunehmend zurück. Zugleich erfolgte eine allmähliche Abkehr von der traditionellen römischen Religion; dem Bedürfnis nach weltanschaulicher Literatur in den politischen Wirren der ausgehenden Antike kamen christliche und neuplatonische Schriften entgegen.
 
 Archaische Zeit und Vorklassik (etwa 240 bis etwa 100 v. Chr.)
 
Noch bis in die Kaiserzeit war eine Rede des Appius Claudius Caecus erhalten, die dieser 280 v. Chr. im Senat gegen die Annahme des Friedensangebotes des Pyrrhos gehalten hatte. Gleichwohl fällt nach antiker Überlieferung der Beginn der römischen Literatur in das Jahr 240 v. Chr., als Livius Andronicus ein griechisches Drama in lateinischer Übersetzung auf die Bühne brachte. Mit dem eigenwilligen Naevius und dem vielseitigen Ennius bereitete er der römischen Poesie den Weg durch die freie Nachbildung griechischer Originale besonders der klassischen Epoche. Die lateinische Sprache erfuhr ihre erste bedeutsame Formung in Syntax, Wortschatz und Metrik. Die Komödien des burlesken Plautus und des urbanen Terenz waren noch im griechischen Milieu angesiedelt (»Palliata«), während Afranius im 2. Jahrhundert v. Chr. die in Rom handelnde Komödie (»Togata«) schuf. Tragödien nach griechischem Vorbild ebenso wie solche mit römischem Kolorit (»Praetexta«) dichteten Ennius, Pacuvius und Accius. Ganz sein eigenes Volk im Blick hatte der Begründer der lateinischen Prosa, Cato der Ältere, in seiner Abhandlung über den Landbau (»De agri cultura«) und den »Origines«, dem ersten Geschichtswerk in lateinischer Sprache (die ältesten römischen Geschichtsschreiber, u. a. Q. Fabius Pictor, hatten noch griechisch geschrieben). Mit Cato und den Gracchen erreichte auch die lateinische Rhetorik ihre erste Blüte. Ohne griechischem Vorbild war die Satire, die Lucilius begründete. Um den mit Polybios und Panaitios befreundeten Scipio dem Jüngeren sammelten sich vornehme Römer, an deren Bildungsideal dann Cicero anknüpfte.
 
 Klassik (etwa 100 v. Chr. bis 14 n. Chr.)
 
Das Zeitalter großer innenpolitischer Umbrüche brachte in Rom eine Literatur hervor, die der griechischen ebenbürtig war. In bereits bewährten ebenso wie in den neu hinzutretenden Gattungen Lyrik, Lehrdichtung, Elegie, rethorische und philosophische Schriften entstanden nach Inhalt und Form vollendete Werke. Die Entwicklung verlief in zwei sich einander überschneidenden Phasen: In der Zeit der Bürgerkriege dominierte die Prosa, die Poesie entfaltete sich erst unter dem Prinzipat des Augustus zu höchster Blüte. Vorherrschendes Thema in beiden Phasen war der römische Staat. Als Vollender der lateinischen Kunstprosa gilt Cicero, mit dem die öffentliche Rede ihren Höhepunkt erreichte. Durch seine Darstellung der griechischen Philosophie legte Cicero den Grund für das Philosophieren in lateinischer Sprache. Unter den Geschichtswerken der Epoche ragen Caesars »Commentarii« über den Gallischen Krieg und den Bürgerkrieg gegen Pompeius, die Biographien des Nepos und die Schriften Sallusts über die Catilinarische Verschwörung und den Jugurthinischen Krieg heraus. Dabei ist Sallusts archaisierende Sprache ein bewusster Ausdruck seiner republikanischen Gesinnung. Nur in einem spätantiken Auszug erhalten ist das Werk des Pompeius Trogus, der die einzige Weltgeschichte der römischen Literatur verfasste. Dem annalistischen Prinzip »Ab urbe condita« ist die umfängliche römische Geschichte des Livius verpflichtet. Die altertumskundlichen Werke des gelehrten Varro wollten das Bild des versinkenden alten Rom literarisch festhalten. Die politischen Unruhen der Zeit bewirkten bei vielen Römern den Rückzug ins Private. Zahlreiche Anhänger gewann der Epikureismus, den Lukrez in seinem großen Lehrgedicht »De rerum natura« darstellte. Die Dichtergruppe der Neoteriker um ihren Hauptvertreter Catull stellte die subjektive Erlebniswelt in den Vordergrund und erhob nach dem Muster der alexandrinischen Dichter die kleine, ausgefeilte Form zum Ideal. Noch im letzten Jahrzehnt der Republik begannen jene Dichter zu schreiben, die dem Augusteischen Zeitalter seinen Glanz verliehen. Im Streben nach künstlerischer Vollendung waren sie den Neoterikern verbunden; sie wagten sich jedoch auch wieder an große Formen und griffen, ohne die hellenistischen Vorbilder auszuschließen, auf die griechischen Klassiker zurück. Die augusteischen Dichter pflegten enge Bindungen an den Staat. Mit seinem weit wirkenden Epos »Aeneis« verlieh Vergil, den der Weg von neoterischer Kleinkunst über Bukolik und Lehrdichtung geführt hatte, dem Gedanken der augusteischen Erneuerung gültigen Ausdruck. Horaz erschloss der römischen Literatur den Jambus und das äolische Lied; er vollendete die Satire und schuf mit seiner »Ars poetica« eine literaturtheoretische Dichtung, die bis weit in die Neuzeit wirkte. In mehreren Gattungen erreichte Ovid seine Meisterschaft. Mit Tibull und Properz pflegte er die von Cornelius Gallus begründete Elegie; er verfasste eine Tragödie und schuf mit dem Epos »Metamorphosen« eine Version des griechischen Mythos als Ganzes, die die neuzeitliche Überlieferung, v. a. die künstlerische Interpretation, wesentlich bestimmte. Mit seiner Vorliebe für sprachliche Effekte wuchs Ovid aber bereits über die Klassik hinaus.
 
 Nachklassik (14 n. Chr. bis etwa 200)
 
Die Literaten der frühen Kaiserzeit pflegten die überkommenen Gattungen. Dabei traten nicht selten die griechischen Vorbilder zugunsten der eigenen Klassiker zurück. In der Prosa vollzog sich ein folgenreicher Stilwandel: sie übernahm dichterische Elemente und gab die Periode auf. Anstelle der forensischen Reden traten deklamatorische Schulübungen, wie sie Seneca der Ältere überliefert hat. Dem im späten 1. Jahrhundert von Quintilian in der »Institutio oratoria« verfochtenen klassizistischen Stilideal folgten nur Plinius der Jüngere und der als Historiker überragende Tacitus. Stilistisch eigene Wege ging Seneca der Jüngere, der in zahlreichen Schriften zu einer sittlichen Haltung im Sinne der stoischen Philosophie mahnte. In seinen Tragödien neigte er ebenso wie die Vertreter des historischen (Lukan, Silius Italicus) und des mythologischen (Statius, Valerius Flaccus) Epos zu Fantastik, Manierismus und zur Darstellung von Pathos und Affekten. Der erste lateinische Roman, die »Satyrica« des Petronius Arbiter, persifliert zugleich Lukans historischen Epos und den griechischen Liebes- und Abenteuerroman. Das Werk des Phaedrus lässt auch die Fabel zum ersten Mal in lateinischem Gewand erscheinen. Ätzende Kritik an den Zuständen der Zeit übten die Satiriker Persius und Juvenal und der Epigrammatiker Martial. Die Brücke von der Poesie zur Fachliteratur schlagen die astronomischen Lehrdichtungen von Germanicus und Manilius. Fachschriftsteller von Rang waren Columella mit seinem Werk über den Landbau (»De re rustica«) und die Enzyklopädisten Celsus und Plinius der Ältere.
 
In der Epoche außen- und innenpolitische Ruhe im 2. Jahrhundert brachte die römische Literatur wenig Neues hervor. Grammatiker begannen die älteren Autoren zu erklären, der Redner Fronto strebte nach einer archaisierenden Prosa, sein Schüler Gellius hielt in den antiquarisch wertvollen »Noctes Atticae« kuriose und kurzweilige Lesefrüchte aus der römischen Literatur fest. Eine Blüte jedoch erreichte um 200 die juristische Literatur mit Gaius, Papinianus, Ulpianus und Paulus. Die originellste Erscheinung jener Zeit war der Afrikaner Apuleius. Mit dem Roman »Metamorphosen« (beziehungsweise »Der goldene Esel«) und diversen neuplatonischen Schriften wuchs er aber ebenso über die nationalrömische Literatur hinaus wie Minucius Felix und Tertullian, die ersten Repräsentanten einer frühchristlichen Literatur in lateinischer Sprache.
 
 Spätlateinische Literatur (3. Jahrhundert bis 524)
 
Seit dem 3. Jahrhundert verlor Rom endgültig seine Stellung als geistiger Mittelpunkt des Reiches. Das Grundthema der römischen Literatur der Spätantike war die Auseinandersetzung zwischen Christentum und Heidentum (frühchristliche Literatur). Die politischen Wirren der Epoche spiegelten sich, sieht man von der sich machtvoll entfaltenden christlichen Lyrik und Prosa ab, auch in der literarischen Produktion: im 3. Jahrhundert versiegte sie weitgehend, seit etwa 350 schwoll sie wieder merklich an. Die überkommenen Gattungen wurden weitergetragen, doch waren große Begabungen selten. Es entstand eine Fülle von gelehrter, zum Teil auch volkstümliche Fach- und Gebrauchsliteratur; zu nennen sind der Vergilkommentar des Servius, die grammatischen Handbücher von Donatus, Charisius und Priscianus, die humanmedizinischen Schriften des Marcellus und Caelius Aurelianus, die veterinärmedizinischen Abhandlungen von Pelagonius und Vegetius sowie Palladius' Buch über den Landbau. Von derlei nüchternen Werken hob sich Martianus Capella durch seine im Mittelalter beliebte allegorische Darstellung der sieben freien Künste ab. Reich vertreten waren Klein- und Gelegenheitsdichtung. Ihr vornehmster Repräsentant war der gebildete Ausonius; von besonderem Reiz ist ferner die poetische Reisebeschreibung des Rutilius Namatianus. Unter den profanen Epikern ragt Claudianus heraus; freilich war er gebürtiger Grieche, wie auch Ammianus Marcellinus, der bedeutendste lateinische Geschichtsschreiber der Spätantike. Von geringerem historischen Wert sind die Kaiserviten der »Scriptores Historiae Augustae«. Gegen das zunehmend an Einfluss gewinnende Christentum und seine Vertreter lehnten sich die Anhänger der traditionellen römischen Religion um den Stadtpräfekten Symmachus auf; ihre Gesinnung fand in den Erörterungen der römischen Antiquitäten des Neuplatonikers Macrobius den besten Ausdruck. Von neuplatonischem Gedankengut durchtränkt ist auch das Werk des Boethius, der als »letzter Römer« einerseits noch in der antiken Bildung wurzelt, andererseits aber mit Cassiodor, Venantius Fortunatus u. a. den Grund für die mittellateinische Literatur legte.
 
Literatur:
 
W. S. Teuffel: Gesch. der r. L., 3 Bde. (6-71913-20, Nachdr. 1965);
 M. Schanz: Gesch. der r. L., 5 Tle. (1-41914-35, Nachdr. 1969-80);
 G. Luck: Die röm. Liebeselegie (1961);
 F. Klingner: Röm. Geisteswelt (51965, Nachdr. 1984);
 P. G. Walsh: The Roman novel (Cambridge 1970);
 
R. L., hg. v. M. Fuhrmann (1974);
 M. Coffey: Roman satire (London 1976);
 P. Grimal: Le lyrisme à Rome (Paris 1978);
 
Das röm. Drama, hg. v. E. Lefèvre (1978);
 W. Schetter: Das röm. Epos (1978);
 U. Knoche: Die röm. Satire (41982);
 D. Flach: Einf. in die röm. Geschichtsschreibung (1985);
 A. Dihle: Die griech. u. lat. Lit. der Kaiserzeit (1989);
 
Handbuch der lat. Literatur der Antike, auf 8 Bde. ber., hg. v. R. Herzog u. Peter Lebrecht Schmidt (1989 ff.);
 M. von Albrecht: Gesch. der r. L., 2 Bde. (21994);
 K. Büchner: Röm. Literaturgesch. (61994);
 
Die Lit. des Umbruchs. Von der röm. zur christl. Lit., hg. v. K. Sallmann (1997);
 
Röm. Welt. Klass. Autoren Roms, hg. v. M. Fuhrmann (1997);
 E. Fantham: Literar. Leben im antiken Rom (a. d. Engl., 1998);
 E. Norden: Die r. L. (71998).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
ab urbe condita: Die römische Geschichtsschreibung
 
Epigramm und Satire: Weisheit, Witz, Kritik
 
Lehrgedicht: Weltentstehung, Bienenzucht, Sternenhimmel und Liebe
 
Literatur und Erziehung im antiken Rom: Aneignung griechischer Bildung
 
Platoniker, Stoiker, Skeptiker und Epikureer: Griechische Denk- und Lebensformen in der römischen Literatur
 
Plautus, Terenz, Seneca: Formen des römischen Dramas
 
römische Fachprosa: Fachbuch, Enzyklopädie und juristische Literatur
 
römischer Roman: Ausschweifung, Abenteuer, Leiden, Erlösung
 
römisches Epos: Das Fremde und das Eigene
 
Vergil, Horaz, die Elegiker und Ovid: Rom als literarisches Zentrum
 

Universal-Lexikon. 2012.