Deutscher Bund; Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation; Deutschland
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Deutsches Reich,
1) (unkorrekte) umgangssprachliche Bezeichnung für das Regnum im späteren Deutschland (911-1806), das seit dem 11. Jahrhundert als »Römisches Reich«, seit dem 13. Jahrhundert als »Heiliges Römisches Reich« sowie seit dem 15. Jahrhundert als »Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation« bezeichnet wurde; auch altes (deutsches) Reich genannt.
2) amtliche Bezeichnung des deutschen Staates 1871-1945. Zum Gebiet des Deutschen Reichs. gehörten 1871-1918 (»Kaiserreich«) 22 monarch. Staaten, 3 republikanischen Stadtstaaten und das Reichsland Elsass-Lothringen; während der Weimarer Republik 1918/19-33 umfasste das D. R. 18 Länder, die formal auch im so genannten Dritten Reich 1933-45 fortbestanden (deutsche Geschichte). Verfassung: Der seit 1871 D. R. genannte Staat war im Wesentlichen aus einer Erweiterung des Norddeutschen Bundes (1866/67-70) hervorgegangen. Nach Beitritt der süddeutschen Staaten Ende November 1870 umfasste das staatsrechtlich ab 1. 1. 1871 existierende D. R. als Monarchie (Kaiserproklamation am 18. 1. 1871 in Versailles, früher so genannter Reichsgründungstag; Verfassung vom 16. 4. 1871) bis 1919 (verfassungsrechtliche Neuordnung) 25 Bundesstaaten sowie (bis 1918) das Reichsland Elsass-Lothringen. Seine Organe waren der Bundesrat (58 Stimmen), dem Vertreter der Mitglieder des Bundes angehörten, das Präsidium und der Reichstag, der in allgemeinen, direkten und geheimen Wahlen gewählt wurde. Das Präsidium war dem preußischen König als »Deutscher Kaiser« vorbehalten, der u. a. den Bund völkerrechtlich vertrat, Krieg erklären und Frieden schließen konnte, die Streitkräfte befehligte sowie das Recht besaß, Bundesrat und Reichstag einzuberufen und zu schließen; ferner stand ihm die Ernennung des Reichskanzlers zu, der den Vorsitz im Bundesrat und die Regierungsgeschäfte führte. Das Reich verfügte nur auf gewissen Gebieten über die Gesetzgebungsbefugnis (insbesondere auswärtige Angelegenheiten, Post, Marine).
Nach der Novemberrevolution (1918) wurde die Verfassung von 1871 durch die Verfassung vom 11. 8. 1919 (»Weimarer Reichsverfassung«, Abkürzung WRV) aufgehoben und ersetzt. Danach war das D. R. eine Republik; seine Organe waren der aus allgemeinen, unmittelbaren, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangene Reichstag, der Reichsrat als Vertretung der deutschen Länder, der Reichspräsident und die Reichsregierung Eine starke Stellung wuchs dem direkt vom Volk gewählten Reichspräsident (Amtsdauer 7 Jahre) zu, der das Reich völkerrechtlich vertrat, den Oberbefehl über die Wehrmacht besaß und den Reichskanzler ernannte und entließ. Der Reichskanzler und die Mitglieder der Reichsregierung bedurften einzeln des Vertrauens des Reichstages. Reichsgesetze wurden vom Reichstag beschlossen, jedoch besaß das Reich nur für bestimmte Materien die Gesetzgebungskompetenz (u. a. Beziehung zum Ausland, Staatsangehörigkeit, Wehrverfassung, Münzwesen, Post). Die WRV enthielt auch einen Katalog von Grundrechten und -pflichten. Diese Verfassung wurde niemals, auch nicht nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 7. und 8./9. 5. 1945, ausdrücklich aufgehoben; allerdings wurde sie im Zuge der nationalsozialistischen Machtübernahme ab 30. 1. 1933 weitgehend ihres rechtsstaatlichen Charakters beraubt (Ermächtigungsgesetz, deutsches Recht).
Die Verleihung von Orden war während des Kaiserreiches Sache der monarch. Bundesstaaten. Die drei Stadtstaaten hatten keine Orden (mit Ausnahme des Hanseatenkreuzes im Ersten Weltkrieg) und lehnten die Orden der übrigen Bundesstaaten ab.
Während des Ersten Weltkrieges erhielten die preußischen Orden, besonders das Eiserne Kreuz und der Pour le Mérite, die Stellung allgemeiner deutscher Orden. Die Weimarer Verfassung verbot die Verleihung von Orden und Ehrenzeichen durch den Staat und die Annahme ausländischer staatlicher Orden durch Deutsche, gestattete aber das Tragen der Kriegsauszeichnungen des Ersten Weltkrieges.
Rechtslage 1945-90:
Aus staats- und völkerrechtlichem Sicht blieb umstritten, ob das D. R. nach seinem militärischen Zusammenbruch im April/Mai 1945 als Rechtssubjekt fortbestand. Die Diskontinuitätstheorien (Untergangstheorien) verneinten dieselben Nach ihnen war der bis 1945 D. R. genannte Staat untergegangen, Bundesrepublik Deutschland und DDR waren als Nachfolgestaaten entstanden. Innerhalb dieser Konzeption blieb strittig, zu welchem Zeitpunkt das D. R. untergegangen war; zum Teil (politisch bis 1989 vertreten durch die Ostblockstaaten) wurde der Untergang im Mai 1945 angenommen und mit der Debellation (im Völkerrecht die militärische Niederringung eines feindlichen Staates) begründet; zum Teil wurde in der Neugründung von zwei deutschen Staaten, Bundesrepublik Deutschland und DDR, eine Dismembration (im Völkerrecht die Zergliederung eines Gesamtstaates in unabhängige Einzelstaaten) gesehen.
Nach den Kontinuitätstheorien (Fortbestandstheorien) dagegen bestand das D. R. fort. Ihnen zufolge war die militärische Besetzung Deutschlands als völkerrechtliche »occupatio bellica« anzusehen; die Übernahme der höchsten Gewalt durch die Alliierten führte danach nicht den Untergang des Deutschen Reichs. herbei, zumal keine Annexion stattgefunden hatte; nach 1945 war die Mehrzahl der deutschen Gesetze in Kraft geblieben, neu ernannte Beamte waren als deutsche, nicht als alliierte Beamte eingesetzt worden; außerdem habe es auch nach dem Mai 1945 ein deutsches Staatsvolk gegeben.
Die Existenz und Rechtsstellung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR wurden bis 1989/90 auf dem Boden dieser Theorien unterschiedlich gedeutet: Die Identitätstheorie nahm die rechtliche Identität eines der beiden neu entstandenen Staaten mit dem D. R. an; sie wurde von den Bundesregierung bis etwa 1969 im Sinne der Identität von D. R.s. und Bundesrepublik Deutschland vertreten. Für die Kernstaatsthese war die Bundesrepublik Deutschland das die Kontinuität des D. R. wahrende Kernstück. Die Dachtheorie (weitgehend identisch mit der Teilordnungslehre) verstand die Bundesrepublik Deutschland und die DDR als eigenständige Teilordnungen unter dem fortbestehenden Dach des Deutschen Reichs. Eine dieser staatlichen Teilordnungen (nach bis 1989 verbreiteter westlicher Meinung wegen der mangelnden demokratischen Legitimation der DDR nur die Bundesrepublik Deutschland) trat in einer Art treuhänderische Wahrnehmung der Aufgaben und Rechte des über keine besonderen Organe mehr verfügenden Gesamtstaates (D. R.) auch und zugleich als Repräsentant des Gesamtstaates auf.
Das Bundesverfassungsgericht stellte in seiner Entscheidung vom 31. 7. 1973 (zum Grundvertrag) fest, dass das GG vom Fortbestand des D. R. ausgehe und dass auf deutschem Boden zwei Staaten existierten - die Bundesrepublik Deutschland und die DDR -, die im Verhältnis zueinander nicht Ausland sind. In den fortbestehenden Rechten und Verantwortlichkeiten der vier Besatzungsmächte für »Deutschland als Ganzes« (Viermächtestatus) blieb bis 1990 ein Rest der Existenz des Deutschen Reichs. sichtbar.
Rechtslage nach 1990:
Mit der Lösung der deutschen Frage im Zuge des deutsch-deutschen Einigungsprozesses 1989/90 und der Wiederherstellung der deutschen Einheit über den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des GG der Bundesrepublik Deutschland (3. 10. 1990) sowie dem Abschluss und der Ratifizierung des Zwei-plus-Vier-Vertrags vom 12. 9. 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR einerseits und den vier Hauptsiegermächten des Zweiten Weltkriegs andererseits umfasst das vereinigte Deutschland das Gebiet der früheren Bundesrepublik Deutschland, der ehemaligen DDR und Berlins. Mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag sowie dem Deutsch-Polnischen Grenzvertrag vom 14. 11. 1990 (in Kraft seit dem 16. 1. 1992) wurde völkerrechtlich verbindlich der Anspruch auf die Teile des früheren deutschen Reichsgebietes (zwischen der Oder-Neiße-Linie im Westen und der Grenze des Deutschen Reiches vom 31. 12. 1937 im Osten; ehemalige so genannte deutsche Ostgebiete) aufgegeben; die Außengrenzen Deutschlands sind danach endgültig. Die vier Mächte beendeten ihre Rechte und Verantwortlichkeit in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes (2. 10. 1990). Deutschland erlangte damit wieder seine volle Souveränität. Rechtlich ist seitdem das vereinigte Deutschland als identisch mit dem D. R. anzusehen.
H. J. Bücking: Der Rechtsstatus des D. R. (1979);
F. Fischer: Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871-1945 (21985);
M. Schmitz: Die Rechtslage der dt. Ostgebiete (1986);
Dtl.s Grenzen in der Gesch., hg. v. A. Demandt (31993);
G. A. Craig: Dt. Gesch. 1866-1945 (a. d. Engl., 67.-72. Tsd. 1993);
Dtl., dt. Staat, dt. Nation. Histor. Erkundungen eines Spannungsverhältnisses, hg. v. P. Krüger (1993);
T. Nipperdey: Dt. Gesch. 1866-1918, 2 Bde. (31993-95);
H. A. Winkler: Weimar 1918-1933. Die Gesch. der ersten dt. Demokratie (21994);
Universal-Lexikon. 2012.