Psạlmen
[althochdeutsch psalm(o), von kirchenlateinisch psalmus, griechisch psalmós, zu psállein »Zither spielen«], Singular Psạlm der, -s, im biblisch-alttestamentlichen Buch der Psalmen (Psalter, Abkürzung Ps.) gesammelte religiöse Dichtungen Israels. Psalmen außerhalb des Psalters finden sich in weiteren Büchern des Alten Testaments (z. B. Schilfmeerlied und Mirjamlied 2. Mose 15; Deboralied Richter 5) und in der außerkanonischen apokryphen und pseudepigraphischen Literatur (z. B. Psalmen Salomos; fünf syrisch überlieferte Psalmen; die Loblieder der Qumrangemeinde).
Der hebräische (masoretische) Urtext der Bibel (und damit übereinstimmend die Lutherbibel) und der griechische und lateinische Text haben zum Teil verschiedene Zählungen der Psalmen, die durch unterschiedlichen Zusammenfassungen beziehungsweise Trennungen einzelner Psalmen bedingt sind (in der Septuaginta werden Psalm 9 und 10 sowie 114 und 115 zusammengefasst, Psalm 116 und 147 hingegen unterteilt).
Im Psalter lassen sich anhand von Überschriften, gemeinsamen Stichworten und Themen sowie Doppelüberlieferungen (z. B. Psalm 14 und Psalm 53) größere und kleinere Teilsammlungen rekonstruieren (z. B. Davidspsalter Psalm 3-41; elohistischer Psalter Psalm 42-83, in dem der ursprüngliche Gottesname Jahwe durch Elohim verdrängt wurde); sie sind im Laufe der Zeit zum vorliegenden Psalmenbuch zusammengewachsen, das spätestens im 2. Jahrhundert v. Chr. abgeschlossen war. Angefügte Doxologien (Lobpreisungen) nach Psalm 41; 72; 89 und 106 teilen den Psalter (vermutlich in Analogie zum Pentateuch) in fünf Bücher. Älteste Psalmen stammen wohl aus frühisraelitischer Zeit, jüngere sind eindeutig nachexilisch (Psalm 137). Die Psalmenüberschriften mit Bezug auf David, Mose oder Salomo sind erst nachträglich eingefügt worden. Das Wesen der Psalmen als Dichtung wird in der Hauptsache bestimmt durch einen zweigliedrigen (seltener dreigliedrigen) Parallelismus.
Im Christentum wurden die Psalmen seit früher Zeit eschatologisch-messianisch auf Jesus Christus hin gedeutet. Mit Entwicklung der historisch-kritischen Exegese rückte im 19. Jahrhundert der Versuch in den Vordergrund, die Psalmen aus ihrer Entstehungszeit heraus zu erklären. Eine Vielzahl der Psalmengattungen war im israelitischen Kult beheimatet (Sigmund Mowinckel; * 1884, ✝ 1965). Als wichtige Einzelgattungen lassen sich unterscheiden: 1) Hymnen, bestehend aus Einführung mit Aufforderung zum Gotteslob und Hauptstück mit Begründung und Inhalt des Lobes; Thema und Anlass ist meist Jahwes Handeln in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (z. B. Mirjamlied; Psalm 33; 100; 145-150); 2) Klagelieder des Einzelnen und des Volkes, mit den Elementen Anrede an Gott, Klage (Notschilderung, Unschuldsbeteuerung) und Bitte (z. B. Psalm 3; 22; 74); 3) Danklieder, die als Kern die Nacherzählung der erlösenden Tat Gottes haben (Psalm 66). Daneben werden häufig aus inhaltlichen Gründen gruppiert: Königspsalmen (z. B. Psalm 2; 89; 110), Zionspsalmen (Psalm 46; 48; 76), Thronbesteigungspsalmen beziehungsweise Jahwe-König-Psalmen, die Jahwes Gottesherrschaft thematisieren (z. B. Psalm 93; 96), Weisheitspsalmen (Psalm 112; 127; 133), Wallfahrtslieder (Psalm 121), Liturgien (Psalm 15; 24).
In der Formen- und Bildersprache mit babylonischer, kanaanäischer und ägyptischer Dichtung eng verwandt, bringen die Psalmen inhaltlich doch Spezifika des israelitischen Glaubens zum Ausdruck: Jahwe ist der einzige Gott, Herr der Geschichte, der Schöpfer, der zu loben ist und auf dessen Hilfe man vertrauen kann.
In der christlichen Liturgie verdrängten die Psalmen seit dem 3. Jahrhundert n. Chr. im Gottesdienst die Hymnen u. a. Lieder und bildeten den Grundstock des Stundengebets in den abendländischen Liturgien, während im christlichen Osten weiterhin die Hymnendichtung gepflegt und entwickelt wurde. Der Psalmenvortrag erfolgte allgemein im gehobenen Sprechgesang der Psalmodie. Für den liturgischen Gebrauch wurden die Psalmen in den einzelnen Teilkirchen zu Psalterium genannten liturgischen Büchern zusammengefasst (Psalterium Ambrosianum, Mozarabicum, Romanum). Die römische Kirche gebrauchte das »Psalterium Romanum« nur selten, nach der Reform des Konzils von Trient nur noch das »Psalterium Gallicanum«. Seit dem 2. Vatikanischen Konzil ist in der katholischen Kirche eine Psalmenübersetzung in Gebrauch, die auf das Gallicanum zurückgreift (1969). - In der katholischen Messe begegnet Psalmengesang im Introitus, nach der Epistellesung, beim Offertorium und bei der Kommunion. Auch in den Ostkirchen ist Psalmengesang in Morgen- und Abendgottesdienst zu finden, wenn auch mit geringerer Dominanz. Die evangelischen Kirchen greifen auf den Psalter meist als Umdichtung in Kirchenliedform zurück.
Übersetzungen
und Nachdichtungen: Früh wurden die Psalmen auch in die Volkssprachen übersetzt (Sankt Gallen und Reichenauer Interlinearversion; altsächsische Psalmenübersetzung; Psalmenübertragung des Notker Labeo mit Kommentar). M. Luther übertrug die Psalmen im Rahmen seiner Bibelübersetzung. Stärker war ihre Wirkung in der reformierten Kirche, für die C. Marot und T. Beza den in der Schweiz, in England und Schottland eingeführten Hugenottenpsalter schufen, während in Holland selbstständige Psalmendichtungen entstanden. Die deutsche Bearbeitung des Hugenottenpsalters von A. Lobwasser suchte Cornelius Becker (* 1561, ✝ 1604) durch seinen »Psalter Davids sangweise« (zuerst 1600) zu verdrängen, zu dem später H. Schütz vierstimmige Sätze schuf. In der Barockzeit wurden Psalmen oft im Zeitgeschmack nachgedichtet (meist in Alexandrinern), so von P. Fleming, M. Opitz, A. H. Bucholtz, Wolfgang Helmhard Freiherr von Hohberg (* 1612, ✝ 1688). Weitere Übersetzungen aus dieser Zeit in verschiedenen Volkssprachen bilden einen bedeutenden Ausgangspunkt für die Entwicklung eigener Volksliteraturen (z. B. in Polen J. Kochanowski). Im 18. Jahrhundert wurden die Psalmen unter dem Einfluss besonders F. G. Klopstocks in Odenform übertragen, so z. B. von S. G. Lange, J. A. Schlegel, J. K. Lavater und J. A. Cramer, daneben entstanden, nach dem Vorbild M. Mendelssohns, gehobene Prosaübertragungen (mit Nachbildung des Parallelismus membrorum). Aus neuerer Zeit ragen die Psalmenübersetzungen von R. Guardini und M. Buber hervor.
In der mehrstimmigen Musik finden sich eigenständige Psalmenvertonungen erst seit dem 15. Jahrhundert, zunächst im schlichten homophonen Satz Note gegen Note (Italien) oder im Fauxbourdon-Satz (Frankreich; noch bis ins 18. Jahrhundert). Vers und Gegenvers der Psalmen wurden für einen alternierenden Vortrag zweier Chorhälften oder einen Wechsel von Solo (choral) und Chor genutzt. Der Klang akkordischer Sätze konnte durch Instrumente (Orgel) verstärkt, der streng homophone Satz durch polyphone Elemente aufgelockert sein. Um 1500 wurden ganze Psalmentexte (Psalmenmotetten) polyphon durchkomponiert, v. a. die mehr als 20 Psalmenvertonungen von J. Desprez blieben für die Komponisten des deutschen Sprachgebiets bis zum 17. Jahrhundert vorbildlich. Eine Klangsteigerung durch größere Stimmenzahl brachte in Italien die Mehrchörigkeit, zuerst mit den »Salmi spezzati« (1550) von A. Willaert. Im ausgehenden 16. Jahrhundert (z. B. bei G. Gabrieli) führte die Verwendung von Instrumenten zu Psalmenvertonungen im konzertierenden Stil (»Salmi concertati«), vorbildlich vertreten u. a. bei C. Monteverdi; diese Art wurde von den deutschen Komponisten sowohl des katholischen als auch des protestantischen Bereichs übernommen. Eine eigene Entwicklung nahm die Psalmenkomposition des 17./18. Jahrhunderts in der französischen Musik; hier wurden die Psalmen Vers für Vers für Soli oder Chor mit Orchesterbegleitung gesetzt (»Motets« u. a. von M.-A. Charpentier, M.-R. Delalande, A. Campra). In England führte die Entwicklung zum Anthem (H. Purcell). Psalmenvertonungen des 19. und 20. Jahrhunderts (z. B. von F. Schubert, F. Mendelssohn Bartholdy, J. Brahms, M. Reger, I. Strawinsky, A. Schönberg, K. Huber, K. Penderecki) schließen sich den jeweiligen Tendenzen der Kirchenmusik an.
S. Mowinckel: The psalms in Israel's worship, 2 Bde. (a. d. Norweg., Oxford 1962, Nachdr. ebd. 1967);
F. Crüsemann: Studien zur Formgesch. von Hymnus u. Danklied in Israel (1969);
E. S. Gerstenberger: Der bittende Mensch. Bittritual u. Klagelied des Einzelnen im A. T. (1980);
Liturgie u. Dichtung. Ein interdisziplinäres Kompendium, hg. v. H. Becker u. a. (1983);
C. Westermann: Lob u. Klage in den P. (61983);
H. Gunkel: Einl. in die P. (41985);
A. Weiser: Die P., 2 Tle. (101987);
K. Seybold: Die P. Eine Einf. (21991);
G. Fohrer: P. (1993);
M. Millard: Die Komposition des Psalters (1994);
J. Schröten: Entstehung, Komposition u. Wirkungsgesch. des 118. P.(1995);
P. aus Qumran, hg. v. K. Berger (Neuausg. 1997).
Universal-Lexikon. 2012.