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Reiseliteratur
Reiseliteratur,
 
die überwiegend in Prosaform gestaltete literarische oder reportagehaft-dokumentarische Darstellung fiktiver oder realer Reisen; Reiseführer, -handbücher u. a. stellen eigene Gattungen dar. Selten finden sich Reisegedichte; häufig sind Mischungen mit verwandten Gattungen wie Autobiographie, Tagebuch oder Brief.
 
Antike:
 
Die Reiseliteratur gehört zu den ältesten Traditionsbeständen der Weltliteratur. In den asiatischen Literaturen finden sich im 4. Jahrhundert Reiseberichte buddhistischer Priester über Asien (Faxian, 399 n. Chr.). Weitere frühe Zeugnisse sind chinesische Reisetexte von Xuanzang (648) und Liu Zonyuan (773-819). Die abendländische Literatur weist, beginnend mit Homers »Odyssee«, eine noch ältere Tradition auf. Reiseliteratur mit informierender Absicht ist bereits die Erdbeschreibung des Hekataios von Milet. Auch Herodots Geschichtswerk enthält geographische Exkurse. In der spätgriechischen Literatur entwickelte sich der Reiseroman zu einer eigenständigen Gattung; die »Wahre Geschichte« des Lukian aus dem 2. Jahrhundert ist eine frühe, weit nachwirkende Parodie.
 
Mittelalter:
 
Arabische Reise- und geographische Literatur, oft auf griechische Quellen beruhend, diente überwiegend praktischen Zwecken; wichtig ist das Werk des Weltreisenden Masudi (✝ um 956), der über Nord- und Westeuropa berichtete; um die Mitte des 12. Jahrhunderts entstand Idrisis Beschreibung einer Entdeckungsfahrt auf dem Atlantik. Im 12. und 13. Jahrhundert etablierte sich das Reisemotiv v. a. in der nordischen Sagaliteratur. Für das europäische Asienbild der Zeit wurde Marco Polos 1298-99 niedergeschriebener Bericht »Il milione« über seine ausgedehnten Reisen prägend. Einen ersten Höhepunkt erfuhr die europäische Reiseliteratur zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert mit der Pilgerliteratur, in der teils religiöse, teils schon profane landeskundliche Interessen zum Ausdruck kamen (Felix Fabri, * 1438, ✝ 1502, »Evagatorium«, Ende 15. Jahrhundert; B. von Breydenbach, »Reise ins Heilige Land«, 1486). In der fiktionalen Literatur wurde das Reisemotiv im französischen Alexanderroman, in der Spielmannsdichtung und in der Kreuzzugsdichtung gestaltet. Besonders populär waren die, allerdings Fakten und Fiktionen vermischenden »Voyages d'outre mer« (entstanden zwischen 1357 und 1371) des J. Mandeville (bereits um 1400 ins Deutsche übertragen).
 
Frühe Neuzeit:
 
Die Entdeckungsgeschichte ist Hauptgegenstand der Reiseliteratur des 16. Jahrhunderts. Authentische Wiedergabe der Reiseerlebnisse bieten die Bordbücher des Kolumbus, während L. de Camões in »Os Lusíadas« (1572) die Fahrten Vasco da Gamas poetisch überhöht darstellt. Beschreibungen ferner Länder und Kulturen finden sich auch in den Schriften der Entdecker, Konquistadoren und Seefahrer (H. Cortés, W. Raleigh), bei den Chronisten (B. Díaz del Castillo) und den Kritikern der Eroberungen (B. de Las Casas, Bernardino de Sahagún).
 
Das Reisemotiv wurde strukturbildendes Prinzip im Schelmenroman nach dem Vorbild von »La vida de Lazarillo de Tormes« (1554), so in England bei T. Nashe, in Deutschland bei J. J. C. von Grimmelshausen und C. Reuter. J. Bunyans allegorischer Pilgerbericht »The pilgrim's progress« (2 Teile, 1678-84) wurde zu einem der meistgelesenen Texte im englischen Sprachraum. Im Deutschland des 17. Jahrhunderts begründete A. Olearius mit »Offt begehrte Beschreibung der newen orientalischen Reise. ..« (1647), einem Bericht über eine Gesandtschaftsreise nach Moskau und Persien, die Tradition wissenschaftlicher Reiseliteratur; Engelbert Kaempfer (* 1651, ✝ 1716) schrieb fundierte Berichte über Japan. Im 16. Jahrhundert dienten die »Apodemiken« seit der Reisemethodik (»De Peregrinatione libri tres et Agro Neapolitano libri duo«, 1574) des Hieronymus Turler (* um 1520, ✝ um 1602) der Anleitung zur Durchführung und Auswertung von Reisen. In den großen Textsammlungen von Giovanni Battista Ramusio (* 1485, ✝ 1557), Siegmund Feyrabend (* 1528, ✝ 1590) und R. Hakluyt wurde der Informationsgehalt der ausgedehnten Reisetätigkeit einem breiten Publikum zugänglich gemacht.
 
18. und 19. Jahrhundert:
 
Die Reiseliteratur gehörte im Zeitalter der Aufklärung zu den beliebtesten Gattungen. Die »Kavalierstouren« europäischer Adliger, deren bevorzugtes Reiseziel Italien war, brachten eine Fülle von meist unveröffentlichten Reisetagebüchern hervor. Fiktive Reiseberichte waren schon im 17. Jahrhundert genutzt worden, um der Gesellschaft einen satirischen Spiegel vorzuhalten (Cyrano de Bergerac, utopische Literatur), Fénelons Erziehungsroman »Les aventures de Télémaque. ..« (2 Bände, 1699) verbindet das Reisemotiv erstmals mit aufklärerischen Idealen; Montesquieus »Lettres Persanes« (1721), J. Swifts »Gulliver's travels« (1726), Voltaires »Micromégas« (1752) und »Candide« (1759) sowie J. K. Wezels »Belphegor« (1776) sind Beispiele für geistreiche oder bittere Satire nach dem Muster der Reiseliteratur, die schon früh zivilisationskritische Züge erhielt. Der Erfolg von D. Defoes »The life and strange surprizing adventures of Robinson Crusoe, of York, mariner. ..« (3 Teile, 1719-20) brachte zahlreiche Nachahmungen hervor (Robinsonade). Neben diesen Romanen über fiktive Erlebnisse waren die Berichte über wirkliche Reisen nach wie vor beliebt: Der Bericht von L.-A. de Bougainville über die Entdeckung Tahitis (»Voyage autour du monde«, 1771) und J. G. A. Forsters »A voyage round the world« (2 Bände, 1777) führten zu einem Südseekult, der die europäische Zivilisation infrage stellte. C. F. Nicolais »Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781. ..« (12 Bände, 1783-96) versuchte eine aufklärerisch-kritische Bestandsaufnahme der bereisten Regionen. Mit Lady Mary Wortley Montagus Briefen über den Vorderen Orient (»Letters of the Right Honourable Lady. ..«, 2 Teile, 1763) erschien zum ersten Mal der Bericht einer Frau.
 
Von L. Sternes Werk »A sentimental journey through France and Italy« (1768) gingen entscheidende Impulse für eine literarische Neuorientierung aus. Die Reiseliteratur wandte sich nun einer gefühlsbetonten, poetisch-reflektierenden Darstellung zu (M. A. von Thümmel; A. N. Radischtschew). Eine wichtige Funktion erhielt sie auch für Vermittlung kultureller Werte, wie sie durch N. M. Karamsins »Pis'ma russkogo putešestvennika« (1. vollständige Ausgabe 1799-1801) und Madame de Stäels »De l'Allemagne« (3 Bände, 1810) praktiziert wurde. Eine herausragende Stellung in der deutschen Reiseliteratur nimmt J. G. Seumes »Spaziergang nach Syrakus« (1803) ein, lebendige, detailreiche Reisebeschreibung verbindet sich hier mit Einsichten in soziale und historische Zusammenhänge. Italien blieb lange Zeit zentrales Reiseziel; Goethes sorgfältig stilisierte »Italiän. Reise« (2 Bände, 1816-17; auf 3 Bände erweitert, 1829) bildete während des 19. Jahrhunderts den Bezugspunkt für mehrere Generationen von deutschen Italienreisenden und ihre literarische Umsetzung (u. a. bei F. Gregorovius und V. Hehn).
 
Seit den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts trat neben die subjektive Schilderung auch der wissenschaftliche Reisebericht: Peter Simon Pallas (* 1741, ✝ 1811) berichtete nüchtern und faktenreich über Russland, J. Bruce über die Suche nach der Nilquelle, Kapitän J. Cook über die Südsee. Epoche machend wirkte A. von Humboldts Bericht über seine Expedition nach Südamerika (»Voyage de Humboldt et Bonpland. Première partie. Relation historique«, 3 Teile, 1814-34). Einen weiteren Höhepunkt der wissenschaftlichen Reiseliteratur lieferte C. Darwin mit seinen Expeditionsberichten und Tagebüchern. Ausgedehnte Reisen, die sich in Aufzeichnungen von hohem literarischem Niveau niederschlugen, unternahm H. Fürst von Pückler-Muskau; C. Sealsfields Werke erschlossen Landschaft und Menschen Nordamerikas für den europäischen Leser; auch Frauen traten mit ihren Reiseerlebnissen an die Öffentlichkeit (Ida von Hahn-Hahn).
 
In der erzählenden Literatur der Romantik taucht das Reisemotiv als konstituierendes Element in unterschiedlichsten Ausführungen auf: satirisch in J. Kerners »Reiseschatten. ..« (1811), märchenhaft in J. von Eichendorffs »Aus dem Leben eines Taugenichts« (1826), im Künstlerroman in L. Tiecks »Franz Sternbalds Wanderungen« (1798, überarbeitet 1843). Mit H. Heines »Reisebildern« (4 Bände, 1826-31), die in ihrer Mischung aus Versen und Prosa, aus bissiger Gesellschaftssatire und lyrischer Landschaftsschilderung völlig neue Wege gingen, kündigt sich die offene Form der literarischen Moderne an.
 
Um 1850 trat neben die literarische Reisebeschreibung, die u. a. von T. Fontane (»Wanderungen durch die Mark Brandenburg«, 4 Bände, 1862-82), H. Melville (»Typee«, 1846) und Mark Twain (»A tramp abroad«, 1879) weitergeführt wurde, der abenteuerliche Reiseroman, dessen bis heute gültige Muster auf J. Verne, F. Gerstäcker und K. May zurückgehen. Vernes »außergewöhnliche Reisen« stehen auch am Anfang der Sciencefiction.
 
20. Jahrhundert:
 
Der abenteuerliche Reiseroman behielt seine Beliebtheit, oft mischten sich abenteuerliche Handlung, exotischer Schauplatz und gesellschaftskritische Absichten (so bei J. London und B. Traven). Für Kinder schuf Selma Lagerlöf mit »Nils Holgerssons underbara resa genom sverige« (2 Bände, 1906-07) eine originelle Synthese von märchenhafter Unterhaltung und sachlicher Belehrung.
 
In den 20er-Jahren entstand mit der kritischen Reisereportage eine neue Form der Reiseliteratur, perfekt beherrscht von E. E. Kisch (»Paradies Amerika«, 1929); die konventionellen Berichte über Forschungsreisen (v. a. ins Innere Asiens) wurden von S. Hedin und W. Filchner weitergeführt, während M. Leiris' kulturkritische Essays (»L'Afrique fantôme«, 1934) neue Perspektiven öffneten.
 
Nach dem Zweiten Weltkrieg finden sich neben Abenteuerreiseberichten und kulturhistorischen Beschreibungen politischer Reiseberichte wie Simone de Beauvoirs »La longue marche« (1957). Das Lebensgefühl der Beatgeneration beeinflusste nachhaltig J. Kerouacs Roman »On the road« (1957), der um Reisen an sich kreist. Als künstlerisch bemerkenswert sind ferner Texte von A. Andersch (»Hohe Breitengrade oder Nachrichten von der Grenze«, 1969), H. Böll (»Irisches Tagebuch«, 1957), W. Koeppen (»Nach Rußland und anderswo hin«, 1958), E. Canetti, L. Durrell, V. S. Naipaul, C. Nooteboom und H. M. Enzensberger zu nennen. Neue Ansätze bieten, in der Fortführung der ethnologischen Fragestellung von Leiris, H. Fichte und B. Chatwin. Mit dem Massentourismus und der Reiseberichterstattung in den Medien verändert sich die Reiseliteratur; feulletonistische Reportagen über Reiseerlebnisse aller Art werden zur Massenware, besonderes Interesse in der Öffentlichkeit finden dagegen Berichte über spektakuläre Unternehmungen, wie sie z. B. von T. Heyerdahl, J.-Y. Cousteau und R. Messner geboten wurden.
 
Literatur:
 
E. G. Cox: A reference guide to the literature of travel, 3 Bde. (Seattle, Wash., 1935-49, Nachdr. New York 1969);
 P. B. Gove: The imaginary voyage in prose fiction (ebd. 1941, Nachdr. ebd. 1975);
 R.-R. Wuthenow: Die erfahrene Welt. Europ. R. im Zeitalter der Aufklärung (1980);
 P. G. Adams: Travel literature and the evolution of the novel (Lexington, Ky., 1983);
 U. Erker-Sonnabend: Das Lüften des Schleiers. Die Orienterfahrung brit. Reisender in Ägypten u. Arabien. Ein Beitr. zum Reisebericht des 19. Jh. (1987);
 C. Hippler: Die Reise nach Jerusalem (1987);
 
Lex. der Reise- u. Abenteuerlit., hg. v. F. Schegk, Losebl. (1988 ff.);
 
Der Reisebericht, hg. v. P. J. Brenner (1989);
 P. J. Brenner: Der Reisebericht in der dt. Lit. (1990);
 
Reisen u. R. im MA. u. in der frühen Neuzeit, hg. v. X. von Ertzdorff u. a. (Amsterdam 1992);
 M. L. Pratt: Imperial eyes. Travel writing and transculturation (London 1992, Nachdr. ebd. 1993).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Weltreisende des Mittelalters: Künder von wundersamen Dingen
 

Universal-Lexikon. 2012.