Leonardo da Vinci
[-'vintʃi], italienischer Maler, Bildhauer, Architekt, Kunsttheoretiker, Naturforscher und Ingenieur, * Vinci (bei Florenz) 15. 4. 1452, ✝ Schloss Cloux (heute Clos-Lucé, bei Amboise) 2. 5. 1519. Als unehelicher Sohn des Notars Ser Pietro und des Bauernmädchens Catarina geboren, begann er nach dem Umzug seines Vaters nach Florenz (1466) um 1469 seine Lehre bei A. del Verrocchio in Florenz, in dessen Werkstatt er nach seiner Aufnahme in die Malergilde 1472 noch etwa vier Jahre blieb. Nach 17-jähriger Tätigkeit am Hof des Herzogs Ludovico Sforza von Mailand floh er nach dessen Sturz 1499 über Mantua und Venedig nach Florenz (1500), kehrte 1506 auf Einladung des französischen Statthalters nach Mailand zurück (hielt sich 1507 und 1508 länger in Florenz auf) und begab sich 1513 nach Rom. 1516 folgte er der Einladung Franz' I. nach Frankreich. Durch seine vielseitige künstlerische Tätigkeit und unermüdliche Beschäftigung mit nahezu allen seiner Zeit bekannten Wissensbereichen verkörpert Leonardo die in der Renaissance entwickelte Idee vom Universalmenschen (»uomo universale«). Da sich für ihn Erkenntnis v. a. auf visuelle Wahrnehmung gründete, entstand eine einzigartige Wechselbeziehung zwischen Wissenschaft und Kunst. Malerei (die er als die Königin aller Wissenschaften bezeichnete) bedeutete ihm sowohl Quelle der Erkenntnis als auch Mittel zur anschaulichen Vermittlung wissenschaftlicher Beobachtungen. Obwohl ihm nur wenige Gemälde mit Sicherheit zugeschrieben werden können, beweisen seine theoretischen Überlegungen, dass ihn Probleme der Malerei ständig beschäftigten. Das von ihm geplante Buch über Malerei wurde um 1550 von seinem Schüler Francesco Melzi aus seinen zahllosen Notizen zusammengestellt, aber erst 1651 von Raphael du Fresne gedruckt (»Trattato della pittura«). Bereits in der »Taufe Christi« von Verrocchio (um 1474-75; Florenz, Uffizien), für die Leonardo einen Engel und Teile der Landschaft malte, werden seine Beobachtungsschärfe und die neuartige Auffassung der Kunst deutlich: Mit den Mitteln der Farb- und Luftperspektive, die er später auch wissenschaftlich analysierte, ließ er den festgelegten, mathematisch konstruierten Raum der Frührenaissance in unbestimmbarer Ferne verdämmern und ersetzte die harten Umrisse und Formen durch feinste Nuancierungen in Licht- und Schattentönen und eine psychologisch motivierte Bewegung. Diese Merkmale sind entscheidend für die Zuschreibung weiterer Frühwerke, u. a. der »Ginevra de' Benci« (um 1480; Washington, District of Columbia, National Gallery of Art) und der »Madonna mit der Nelke« (vor 1475; München, Alte Pinakothek). In Mailand schuf er außer der »Felsgrottenmadonna« (1483-86; Paris, Louvre; zweite Fassung unter Mitwirkung von Schülern 1503-06; London, National Gallery) v. a. das »Abendmahl« (Wandgemälde für das Refektorium von Santa Maria delle Grazie, 1495-97), in dem er eine neue überzeugende Interpretation dieses Themas fand. Der schlechte Erhaltungszustand des »Abendmahls«, der neben Umwelteinflüssen auch auf Leonardos Experimentieren mit noch unerprobten Techniken zurückgeführt werden kann, machte schon im 16. Jahrhundert erste Restaurierungsmaßnahmen erforderlich. In jüngster Zeit erfolgte 1977 folgendes eine umfangreiche Restaurierung des Wandgemäldes (seit 1995 wieder für die Öffentlichkeit zugänglich). Die Gebärdensprache der in Gruppen angeordneten erregten Apostel, die in einer rhythmisch wogenden Gesamtbewegung zusammengefasst sind, steht für Leonardos Forderung, nicht nur den Menschen, sondern durch die Bewegung auch die »Absicht seiner Seele« darzustellen. Zunehmend bildeten die wissenschaftlichen Einsichten die Grundlage seiner Malerei, in der die in ständigem Werden und Vergehen begriffene Welt als Einheit erscheint (während die Frührenaissance sie aus messbaren Einzelphänomenen zusammenfügte). Die irreal anmutenden Landschaften in den beiden berühmten Gemälden »Mona Lisa« (um 1503-06) und »Heilige Anna Selbdritt« (um 1508-11; beide Paris, Louvre) werden neuerdings als Deutung erdgeschichtlicher Entwicklung interpretiert, in der Nähe mit Ferne, Vergangenheit mit Gegenwart und Zukunft verbunden sind. Die Vollkommenheit der Gestaltung von Form und Inhalt und die in weichen Tonübergängen modellierende Malweise (sfumato) begründeten schon zu Leonardos Lebzeiten seinen Ruhm und die bis in die Gegenwart anhaltende Faszination seiner Werke. Nicht nur von den biographischen Umständen bedingt sind die auffallend vielen unvollendeten, zum Teil nur zu Entwurfszeichnungen gediehenen Werke (u. a. »Heiliger Hieronymus«, um 1480, Vatikanische Sammlungen; »Anbetung der Könige«, 1481, Florenz, Uffizien; »Anghiari-Schlacht«, Wandgemälde für das Rathaus in Florenz, 1503-06) nur in Kopien überliefert. Den Vorrang, den er dem schöpferischen Entwurf (Disegno) vor der Ausführung einräumte, dokumentieren insbesondere seine zahlreichen meisterhaften Zeichnungen (z. B. »Heilige Anna Selbdritt mit Johannes dem Täufer«, 1498-99; London, National Gallery), darunter viele Detailstudien oder Kartons für geplante Gemälde.
Leonardos wichtigste Leistungen als Bildhauer sind die Entwürfe für zwei Reiterstandbilder: das Denkmal für Francesco Sforza, der Hauptanlass seines ersten Mailänder Aufenthaltes, für das er (1493) ein originalgroßes Tonmodell des Pferdes (zerstört) schuf und ein Gießverfahren entwickelte, und das Grabmonument für den Feldherrn Gian Giacomo Trivulzio (* 1441, ✝ 1518), bei dem ihn während seines zweiten Mailänder Aufenthalts die Realisation eines sich aufbäumenden Pferdes beschäftigte. Obwohl beide Monumente nicht ausgeführt wurden, wies ihre kühne Konzeption weit über die Epoche hinaus.
Seine Tätigkeit als Architekt beschränkte sich außer auf seine Rolle als Gutachter v. a. auf theoretische Entwürfe, die sein Interesse an den architektur- und ingenieurtechnischen Aufgaben seiner Zeit zeigen. Neben Festungsanlagen, Idealplänen einer zweigeschossigen Stadt, die das Problem der Kanalisation erstaunlich modern lösen, Palast- und Gartenanlagen waren v. a. seine Zentralbauentwürfe in ihrer Systematik von Bedeutung für die Baukunst des 16. Jahrhunderts. Im Schloss Chambord (Dachgestaltung) sind Motive seiner Entwürfe.
Der Naturforscher Leonardo ist einerseits philosophisch orientiert, ablesbar v. a. an seinem künstlerischen Werk (z. B. den Landschaftsgestaltungen), andererseits empirisch, wenn er Einzelerscheinungen untersucht, um die dahinter stehenden Kräfte und Gesetze zu erkennen. Seine Erkenntnisse hielt er ohne planmäßige Ordnung in Merkbüchern oder auf Notizblättern fest. Er befasste sich mit Bewegungs- und Hebelgesetzen ebenso wie mit Strömungsforschung und beobachtete den Vogelflug, über den er einen Traktat im Hinblick auf die Entwicklung eines Flugkörpers für Menschen plante. In praktischer Anwendung aufgefundener Gesetzmäßigkeiten konstruierte Leonardo Geräte und Maschinen: Stechheber, Druckpumpen, Seildreh- und Bohrmaschinen, Drehbänke, Brennspiegel, Spinn- und Tuchschermaschinen, Fallschirme, Taucherglocken, Kräne, Schleudern u. a. (»Codices Madrid«). Auf einer verklebten Rückseite des »Codice Atlantico« fanden sich in den letzten Jahren Konstruktionsentwürfe für ein fahrradähnliches Fahrzeug. Auf dem Gebiet der Anatomie plante er einen Traktat über den Bau des Körpers (Studien gibt es zu Skelett und Muskulatur, Herz und Blutkreislauf, Zeugung und Schwangerschaft). Seine Landkarten der Toskana, die er als Begleiter von Cesare Borgia schuf, gehören zu den frühesten Zeugnissen moderner Kartographie. Seine Zeichnungen auf den Gebieten der Anatomie, Biologie, Geologie, Hydrologie, Aerologie, Optik und Mechanik, die er als Linkshänder in Spiegelschrift kommentierte, sind in ihrer Anschaulichkeit wegbereitend für die didaktische, wissenschaftliche Demonstrationszeichnung und einzigartig in ihrer künstlerischen Intensität. Ziel seiner fragmentarischen Notizen und Illustrationen war eine groß angelegte Kosmologie und die bildliche Vermittlung eines enzyklopädischen Wissens in zahlreichen Traktaten, die jedoch im Stadium der Materialsammlung verblieben.
Leonardos Synthese von Wissenschaft und Kunst findet in den »Sintflut-Blättern« (um 1512-14; Windsor Castle, Royal Library) einen komplexen Ausdruck; in ihnen verbinden sich antike und mittelalterliche Vorstellungen mit modernen Einsichten in die Bewegungsgesetze der Elemente zu bildkünstlerischen Visionen kosmischer Katastrophen. Zu seinen letzten Gemälden gehört die Darstellung des zum Himmel weisenden Johannes des Täufers (um 1513-16; Paris, Louvre), das sehr geteilte Aufnahme fand. - Leonardo gilt als einer der ganz großen Anreger der Kunst- und Wissenschaftsgeschichte.
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L. all'Ambrosiana. Il codice atlantico, i disegni di L. e della sua cerchia, hg. v. A. Marinoni u. a. (Mailand 1982);
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R. Hüttel: Spiegelungen einer Ruine. L.s Abendmahl im 19. u. 20. Jh. (1994);
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S. Alberti de Mazzeri: L. da V. Die moderne Deutung eines Universalgenies (a. d. Ital., Neuausg. 1995);
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Universal-Lexikon. 2012.