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Versailler Vertrag
Versailler Abkommen; Versailles (umgangssprachlich); Vertrag von Versailles; Friede von Versailles; Friedensvertrag von Versailles; Diktat von Versailles

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I
Versailler Vertrag
 
[vɛr'zajər-], der am 28. 6. 1919 in Versailles unterzeichnete, am 10. 1. 1920 in Kraft getretene Friedensvertrag zwischen dem Deutschen Reich und den Ententemächten; er gehört zu den Pariser Vorortverträgen, die den Ersten Weltkrieg völkerrechtlich beendeten.
 
Das deutsche Waffenstillstandsersuchen:
 
Nachdem die deutsche Oberste Heeresleitung (OHL) Ende September 1918 den Krieg verloren gegeben hatte, ersuchte auf ihr Drängen hin die neue Reichsregierung unter Prinz Max von Baden am 3./4. 10. 1918 den amerikanischen Präsidenten T. W. Wilson um Vermittlung eines Friedens auf der Basis der Vierzehn Punkte. Im Zuge eines deutschen-amerikanischen Notenwechsels (zwischen 3. 10. und 5. 11. 1918) wurden durch den amerikanischen Außenminister R. Lansing die Bedingungen der USA (innere politische Reformen) und der Ententemächte (Anerkennung der militärischen Niederlage und materielle Wiedergutmachung von Kriegsschäden) übermittelt. In der öffentlichen Meinung Deutschlands entstand dabei der Eindruck, dass die Abdankung des Kaisers günstige Waffenstillstandsbedingungen fördern würde; parallel bereitete die deutsche Regierung die Parlamentarisierung der Reichsverfassung vor (am 28. 10. 1918 in Kraft getreten). Am 11. 11. 1918 nahm die deutsche Waffenstillstandsdelegation (Leitung: M. Erzberger) auf Weisung der OHL im Wald von Compiègne die Bedingungen der Alliierten an; sie machten eine Wiederaufnahme des Krieges durch Deutschland unmöglich.
 
Die Ausarbeitung und Annahme des Versailler Vertrags:
 
Am 18. 1. 1919 trat in Paris die Friedenskonferenz zusammen, von der die besiegten Staaten ebenso ausgeschlossen waren wie das bolschewistische Russland. Der Schwerpunkt der Verhandlungen lag beim Rat der Vier (Wilson, D. Lloyd George, G. Clemenceau, V. Orlando). Wilson verfolgte v. a. das Ziel, mit der Bildung eines Völkerbundes ein Instrument kollektiver Friedenssicherung zu schaffen und damit eine dauerhafte Friedensordnung zu begründen. Clemenceaus Hauptanliegen waren die Sicherheit Frankreichs gegenüber einem wieder erstarkenden Deutschland (Streben nach der Rheingrenze, Bündnisse mit den neuen Staaten Polen und Tschechoslowakei), die Anerkennung der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands und schadensorientierte Reparationen Deutschlands. Lloyd George, v. a. interessiert an der Ausschaltung der deutschen Konkurrenz auf dem Weltmarkt, suchte darüber hinaus im Sinne der britischen Gleichgewichtspolitik die Lebensfähigkeit Deutschlands zu erhalten, auch im Blick auf die vom bolschewistischen Russland ausgehenden Gefahren. Am 7. 5. 1919 wurden die Friedensbedingungen der deutschen Delegation (Außenminister U. Graf Brockdorff-Rantzau) überreicht. Mündliche Verhandlungen wurden abgelehnt. In der Mantelnote vom 16. 6. wiesen die »Alliierten und assoziierten Mächte« auch fast alle schriftlichen deutschen Gegenvorschläge zurück und stellten die deutsche »Alleinschuld« am Krieg in scharfer Form fest. Der ultimativen Aufforderung zur Unterzeichnung beugte sich die Weimarer Nationalversammlung am 22. 6. 1919 (237 gegen 138 Stimmen, fünf Enthaltungen), nachdem die deutsche Reichsregierung unter P. Scheidemann zurückgetreten war. Am 28. 6. 1919 wurde der Vertrag im Spiegelsaal des Versailler Schlosses von Deutschland (Außenminister H. Müller, Verkehrsminister J. Bell) sowie 26 »Alliierten und assoziierten Mächten« unterzeichnet.
 
Der Inhalt des Vertrages:
 
Der Versailler Vertrag umfasste 440 Artikel in 15 Teilen. Wilsons Willen entsprechend wurde die Völkerbundssatzung als Teil I allen Pariser Friedensverträgen vorangestellt. Eine Revision des Versailler Vertrags war gemäß § 19 der Satzung möglich. Deutschland blieb zunächst aus dem Völkerbund ausgeschlossen. Die Teile II und III legten die neuen Grenzen Deutschlands und die politischen Bestimmungen über Europa fest. Die deutschen Gebietsverluste umfassten im Westen v. a. Elsass-Lothringen und Eupen-Malmedy; das Saargebiet wurde bei wirtschaftlicher Nutzung durch Frankreich für 15 Jahre unter die Verwaltung des Völkerbundes gestellt; danach sollte die Bevölkerung des Saargebietes in einer Volksabstimmung über ihre staatliche Zugehörigkeit entscheiden. Im Norden kam nach Volksabstimmung der größte Teil Nordschleswigs zu Dänemark. Im Osten fielen die Provinz Posen und Westpreußen bis auf Restgebiete an Polen; Danzig wurde »Freie Stadt« unter der Hoheit des Völkerbundes (15. 11. 1920. Das um das Memelgebiet (fortan unter alliierter Verwaltung) verkleinerte Ostpreußen wurde durch den Polnischen Korridor vom übrigen Reichsgebiet getrennt; das Hultschiner Ländchen fiel an die Tschechoslowakei. In Masuren, Oberschlesien und Nordschleswig wurden Volksabstimmungen vorgesehen (1920 beziehungsweise 1921 durchgeführt; »Abstimmungsgebiete«). Der im November 1918 gebildeten Republik Deutschösterreich wurde der »Anschluss« an das Deutsche Reich verboten (Art. 80; Österreich, Geschichte). Die deutschen Kolonien fielen als Mandatsgebiete an den Völkerbund (Teil IV). Insgesamt wurden vom Reichsgebiet (ohne Kolonien) 70 579 km2 mit 7,3 Mio. Einwohnern abgetrennt. Deutschland verlor drei Viertel seiner jährlichen Förderung von Zink- und Eisenerz, über ein Viertel Steinkohle sowie rd. ein Sechstel seiner Getreideernte. Die großen deutschen Flüsse wurden internationalisiert. In einer entmilitarisierten Zone links des Rheins und in einem 50 km breiten Streifen rechts des Rheins durfte Deutschland keine Befestigungen und Heereskräfte unterhalten (Art. 42-44). Teil V enthielt militärische Bestimmungen: Das Landheer wurde bei Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht und des Generalstabs auf 100 000 Mann mit 12-jähriger Dienstzeit (für Offiziere 25 Jahre) begrenzt. Schwere Artillerie, Panzer und Luftwaffe wurden verboten. Die Marine (Höchstbestand 15 000 Mann) wurde auf sechs Linienschiffe, sechs kleine Kreuzer, 12 Zerstörer und 12 Torpedoboote beschränkt. Die Entmilitarisierungs- und Entwaffnungsbestimmungen sollten das Deutsche Reich schwächen, ihm aber nach Osten eine Grenzsicherung ermöglichen und für den Einsatz gegen revolutionäre Erhebungen im Innern genügend Kräfte belassen.
 
Die Teile VIII und IX behandelten die Reparationen. Sie wurden mit der in Art. 231 allein Deutschland und seinen Verbündeten zugewiesenen Kriegsschuld begründet (zur Kriegsschuldfrage Weltkrieg, Erster W.). Die Festlegung ihrer Höhe erfolgte erst 1921 im Londoner Ultimatum. Erhebliche Sachlieferungen, die Auslieferung fast der ganzen Handelsflotte, die Liquidierung des deutschen Eigentums im Ausland, die Gewährung der Meistbegünstigung an die Alliierten bis zum 10. 1. 1925, die Internationalisierung des Nord-Ostsee-Kanals und andere wirtschaftliche Bestimmungen sollten das Wiedererstarken der deutschen Wirtschaftsmacht verhindern (Teile X-XII). Teil XIV bestimmte den Rückzug der deutschen Truppen aus den ehemaligen russischen Gebieten und die alliierte Besetzung des Saargebietes; das Gebiet links des Rheins mit rechtsrheinischen Brückenköpfen bei Köln, Koblenz und Mainz wurde in drei Zonen aufgeteilt, die für 5, 10 beziehungsweise 15 Jahre unter alliierter Besetzung bleiben sollten. - Art. 231 belastete das Verhältnis Deutschlands zu den Siegermächten schwer; er war der umstrittenste Teil des Vertrages. Unausgeführt blieben die Strafbestimmungen (Art. 227-230): Anklage gegen Kaiser Wilhelm II. sowie gegen deutsche »Kriegsverbrecher«. Der Versailler Vertrag wurde von den USA nicht ratifiziert. Doch übernahm der deutsch-amerikanische Friedensschluss im Berliner Vertrag vom 25. 8. 1921 u. a. die Bestimmungen über Reparationen, Kolonien, Entwaffnung und Rheinlandbesetzung.
 
Die Revision des Versailler Vertrags
 
wurde das zentrale außenpolitische Ziel der Regierungen der Weimarer Republik. Sie konzentrierten sich zunächst auf eine vorzeitige Rückgewinnung des besetzten Rheinlandes und die Lösung der Reparationsfrage. Beides konnte schließlich bis 1930 (30. 6. endgültige Räumung des Rheinlandes) und 1932 (Vertrag von Lausanne, Reichskanzler F. von Papen) erreicht werden. - In seinem friedensstiftenden Wert bleibt der Versailler Vertrag umstritten. Bei vielen Deutschen verband sich die Ablehnung des »Diktats von Versailles« mit dem Unvermögen, die Wirklichkeit der schweren Niederlage anzuerkennen (Dolchstoßlegende). Dies bot v. a. am Ende der Weimarer Republik den Nationalsozialisten die Möglichkeit, propagandistisch gegen das »System von Versailles« zu Felde zu ziehen und diese Parole im Kampf gegen den demokratischen Verfassungsstaat einzusetzen. Nachdem bereits viele Artikel revidiert beziehungsweise umgangen worden waren, erfolgte nach 1933 der offene Bruch des Vertrages durch die NS-Regierung (v. a. Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht 1935 in Deutschland, Einmarsch deutscher Truppen in das entmilitarisierte Rheinland 1936); durch einseitiges Aufkündigen am 30. 1. 1937 wurde der Versailler Vertrag auch offiziell beendet. (Nationalsozialismus)
 
Ausgaben: Der Vertrag von Versailles. Der Friedensvertrag zwischen Deutschland und den Alliierten und Assoziierten Mächten. .., herausgegeben vom Auswärtigen Amt (21924, französisch, englisch und deutsch).
 
Literatur:
 
Materialien betreffs die Friedensverhandlungen. Amtl. Text, hg. vom Auswärtigen Amt, 12 Tle. u. 3 Beihefte (1919-21);
 Graf U. von Brockdorff-Rantzau: Dokumente u. Gedanken um Versailles (31925);
 E. M. House: The intimate papers of Colonel House. .., bearb. v. C. Seymour, 4 Bde. (Boston, Mass., 1926-28);
 G. Clemenceau: Größe u. Tragik eines Sieges (a. d. Frz., 1930);
 D. Lloyd George: The truth about the peace treaties, 2 Bde. (London 1938);
 P. Mantoux: Les délibérations du conseil des quatre, 2 Bde. (Paris 1955);
 M. Gunzenhäuser: Die Pariser Friedenskonferenz 1919 u. die Friedensverträge 1919-1920 (1970);
 
Versailles - St. Germain - Trianon, hg. v. K. Bosl (1971);
 N. Gordon Levin: Woodrow Wilson and the Paris Peace Conference (Lexington, Mass., 21972);
 L. Haupts: Dt. Friedenspolitik 1918-19 (1976);
 J. Bariéty: Les relations franco-allemandes après la première guerre mondiale (Paris 1977);
 W. Schwengler: Völkerrecht, V. V. u. Auslieferungsfrage (1982);
 P. Grupp: Dt. Außenpolitik im Schatten von Versailles 1918-1920 (1988);
 
Der Vertrag von Versailles, Beitrr. v. S. Haffner u. a. (Neuausg. 1988);
 
Dt. Gesch. 1918-1933. Dokumente zur Innen- u. Außenpolitik, hg. v. W. Michalka u. a. (Neuausg. 1992);
 
Quellen zum Friedensschluß von Versailles, hg. v. K. Schwabe u. a. (1997);
 
Versailles 1919. Ziele - Wirkung - Wahrnehmung, hg. v. G. Krumeich (2001).
II
Versailler Vertrag
 
Die Pariser Friedenskonferenz tagte seit dem 18. Januar 1919 unter dem Vorsitz des französischen Ministerpräsidenten Clemenceau im Beisein von Delegierten aus 32 Staaten. Vertreter der ehemaligen Feindmächte waren nicht zugelassen. Die Entscheidungen fielen im Wesentlichen im »Rat der Vier«, zu dem neben dem französischen Ministerpräsidenten der amerikanische Präsident Wilson, der britische Premierminister Lloyd George und der italienische Regierungschef Orlando gehörten. Über die den besiegten Völkern aufzuerlegenden Friedensbedingungen kam es wiederholt zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Verbündeten, bis schließlich die Delegationen der Unterlegenen zur Entgegennahme der Vertragsbestimmungen aufgefordert wurden. Die deutschen Abgesandten unter Führung des Grafen Brockdorff-Rantzau erhielten am 7. Mai 1919 das fertig gestellte Vertragswerk ausgehändigt. Eine mündliche Verhandlung wurde ihnen nicht zugestanden, sie konnten sich lediglich schriftlich zu den einzelnen Punkten äußern. Die Bekanntgabe der Bedingungen rief in Deutschland über alle Parteien hinweg helle Empörung hervor. Deutschland sollte an seinen Grenzen, vornehmlich im Westen und Osten, Gebietsverluste von etwa 70 000 qkm hinnehmen und sämtliche Kolonien verlieren. Neben der demütigenden Behandlung der deutschen Delegation in Versailles waren es vor allem die Entwaffnungsbestimmungen, die geforderte Auslieferung des ehemaligen Kaisers und noch zu benennender Generale und Politiker als Kriegsverbrecher sowie besonders der Kriegsschuld-Artikel, in dem Deutschland die alleinige Schuld am Kriege anerkennen und die Verantwortung für alle entstandenen Schäden übernehmen sollte - das Ausmaß der zu übernehmenden Wiedergutmachungsleistungen, der Reparationen, war noch gar nicht abzusehen -, die auf einhellige und entschiedene Ablehnung im Volk und im Parlament stießen. Die Regierung Scheidemann trat zurück. In der Nationalversammlung wurde unter dem Druck eines Ultimatums der Alliierten, den Krieg wieder aufzunehmen und Deutschland militärisch zu besetzen, wenn nicht binnen einer gesetzten Frist der Vertrag unterschrieben werde, heftig über die Frage der Unterzeichnung gestritten. Schließlich setzte sich die Ansicht durch, dass dem entwaffneten und wehrlosen Land keine andere Möglichkeit mehr blieb, als den Vertrag zu akzeptieren. Am 28. Juni 1919 unterzeichneten die Minister Hermann Müller (SPD) und Hans Bell (Zentrum) den Vertrag. Obwohl sich alle Parteien in der Nationalversammlung vorher gegenseitig ehrenhafte Motive für ihre Einstellung zu dieser schicksalsschweren Entscheidung zugebilligt hatten, wurde dennoch die Annahme des Versailler Vertrages bald von der politischen Rechten den Parteien der Weimarer Koalition als Kapitulation und Verrat an der Nation angelastet. Der Vertrag ist auch in Großbritannien und vor allem in den USA, die ihn nie ratifiziert haben, auf heftige Kritik gestoßen. In der Sicht heutiger Historiker und im Rückblick der Generationen, die den totalen Zusammenbruch von 1945 erlebt haben, wird das Vertragswerk sehr viel objektiver und emotionsfreier gesehen. Zwar wird zugegeben, dass die Bestimmungen des Vertrages für die junge Demokratie eine außerordentliche Belastung bedeutet haben, zumal ihre Politiker im Glauben an die von Wilson zur Grundlage erhobene Völkerverständigung nach Versailles angereist waren. Es wird aber auch darauf hingewiesen, dass das Deutsche Reich in seinem Gefüge weitgehend erhalten blieb und in relativ kurzer Zeit, in der Ära Stresemann, wieder den Rang einer europäischen Großmacht einnehmen konnte.

Universal-Lexikon. 2012.