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Slawen
Venedi (lat.); Elbslawen; Wenden (veraltet)

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Slawen,
 
Völker und Stämme, die eine der drei großen Sprachfamilien Europas (neben Germanen und Romanen) bilden (slawische Sprachen). Die Gemeinsamkeit der Slawen basiert - stärker als bei Germanen und Romanen - auf der Verwandtschaft der Sprachen, weniger auf einem gemeinsamen Kulturerbe (Romanen) oder früh entwickelten und lange festgehaltenen Rechtsvorstellungen (Germanen). Sowohl die Etymologie des Namens der Slawen als auch die zeitliche Folge und der geographische Raum ihrer Ethnogenese sind bis heute in der Forschung umstritten.
 
Der Name, ur- und altslawisch slověne, war ursprünglich Selbstbezeichnung und Name mehrerer Stämme (der späteren Slowenen, Slowaken, Slowinzen u. a.), der schließlich verallgemeinert wurde. Deutungen, die ihn mit slava »Ruhm« in Verbindung bringen, sind wohl nicht haltbar. Wahrscheinlicher sind Erklärungen als »Sprechende« in der Ableitung aus sluti, slovǫ »nennen«, »heißen«. Die jüngere Forschung geht von geographischen Namen, v. a. Hydronymen (Gewässernamen), aus (Beispiele sind der polnische Flussname Sława und der altrussische Beiname des Dnjepr »Slovutič'«) und sieht einen Zusammenhang mit »fließen«, »reinigen«.
 
In römischen Quellen erscheint im 1./2. Jahrhundert n. Chr. für die Slawen der Name »veneti/venedi«, der auf den Namen eines östlichen Nachbarvolkes der Germanen zurückgeht und in die germanischen Sprachen als »Wenden«, »Windische« als Bezeichnung für die Slawen einging. Das griechische sklabenoi (erstmals zu Beginn des 6. Jahrhunderts belegt) und das lateinische sclaveni (seit Mitte des 6. Jahrhunderts belegt) substituieren den fremden slawischen Anlaut sl- durch eigenes skl-. Daneben setzten sich schon früh die Kurzformen - griechisch sklaboi, lateinisch sclavi - durch. Seit dem 12. Jahrhundert gibt es neben der ethnischen auch die Bedeutung »Sklave«, wobei der chasarisch-arabisch dominierte Sklavenhandel mit hellhäutigen Sklaven aus Ost- und Nordeuropa im östlichen Mittelmeerraum eine Rolle gespielt haben mag (arabisch ṣaḳāliba »hellhäutiger Ost- und Nordeuropäer«, 10. Jahrhundert). Ab dem 16. Jahrhundert wird der Anlaut sl- für die ethnische Bedeutung in den europäischen Sprachen restituiert.
 
Ethnogenese:
 
Über die genaue Eingrenzung des Formierungsraumes, der »Urheimat« der Slawen, bestehen, v. a. hinsichtlich der Ost- und Westgrenze (östlich des Dnjepr, westlich der Weichsel), in der Forschung Meinungsverschiedenheiten. Das Gleiche gilt für die Zuordnung der frühesten slawischen Kulturen zu archäologisch nachweisbaren Fundgruppen, u. a. der Urnenfelderkultur (etwa 2000-1000 v. Chr.), aus der auch die keltischen, germanischen, illyrischen, italischen u. a. Stammeskulturen hervorgingen, und später zu regionalen Kulturen in Osteuropa. Sprachwissenschaft und archäologische Befunde sowie (spätere) historische Quellen sprechen dafür, dass die eigentliche Formierungsphase erst sehr spät (3.-5. Jahrhundert n. Chr.) anzusetzen ist und die Urheimat der Slawen nördlich der Karpaten zwischen oberem Bug und mittlerem Dnjepr in den geschützten Landzonen polyethn. Großverbände im osteuropäischen Waldgürtel lag. Ihre Nachbarn im Norden waren Balten, im Nordwesten germanische Stämme, im Südwesten Kelten (Illyrer), im Süden Thraker und im Südosten iranische Völker. Anstöße zu einer weiteren Siedlungsausbreitung erfolgten wohl erst im Zuge der Völkerwanderung. Um 500 nahmen die Slawen etwa das Gebiet zwischen dem Fluss Memel (im Norden) und Karpaten sowie zwischen Oder (im Westen) und Dnjepr ein.
 
Ausbreitung:
 
Anfang des 6. Jahrhunderts zogen slawische Stämme ins heutige Böhmen und Mähren und von dort über die Donau bis zum Plattensee, andere in das Gebiet der heutigen Slowakei und bis an die Donau, wieder andere drangen in die Walachei vor. Der Übergang über die Donau und die gegen Byzanz erzwungene »Landnahme« auf dem Balkan setzte - nach ersten kriegerischen Einfällen ab dem 5. Jahrhundert - auf breiter Front gegen Ende des 6. Jahrhunderts ein. Im 7. Jahrhundert nahmen die Kroaten und Serben ihre heutigen Siedlungsgebiete ein, während die Karantaner, Vorfahren der heutigen Slowenen, in den Alpenraum (heutiges Kärnten, Steiermark, Ober- und Niederösterreich) einwanderten und Ende des 7. Jahrhunderts bis nach Bayern vordrangen.
 
Die ostslawischen Stämme, die sich zwischen 6. und 8. Jahrhundert herauszukristallisieren begannen, bildeten zum Teil nur lose Stammesgemeinschaften. Die Nestorchronik, die vermutlich den Stand im 9. Jahrhundert wiedergibt, nennt: Slowenen (um Nowgorod), Polotschanen (um Polozk), Kriwitschen (um Smolensk), Dregowitschen (an der Beresina), Radimitschen (am Sosch), Wjatitschen (an der oberen Oka), Drewljanen (im Süden des Pripet), Sewerjanen (an der Desna) und Polanen (um Kiew). - Zwischen dem 6. und 9. Jahrhundert bildeten sich auch die lechischen Stämme an der Weichsel heraus; bekannt sind die Wislanen an der oberen Weichsel, deren Reich Ende des 9. Jahrhunderts vernichtet wurde, und die Polanen auf dem Gebiet des späteren Großpolen.
 
Die slawische Westwanderung erfasste Gebiete, die ursprünglich von germanischen Stämmen bewohnt waren: Nach Ausweis der frühslawischen Brandgräber erreichten die Slawen an der Wende zum 7. Jahrhundert über Böhmen abwärts das Gebiet von Saale und Mulde und dehnten sich im Laufe des 7. und 8. Jahrhunderts auf den ganzen Raum zwischen Elbe und Saale aus (im 7. Jahrhundert werden die Sorben erstmals in einer fränkischen Chronik erwähnt). Slawische Siedlergruppen drangen in Norddeutschland bis an die Kieler Bucht, nach Ostholstein und in das Hannoversche Wendland vor, im Süden bis an Main und Regnitz, in den Nordgau und nach Oberfranken. Im 7. Jahrhundert werden die Abodriten und Wilzen in Mecklenburg und die Ranen (Rugini) auf Rügen erwähnt, im 8./9. Jahrhundert die Milzener in der Ober- und die Lusizen in der Niederlausitz.
 
Durch die Wanderungen und v. a. durch das Vordringen der Magyaren, das Ende des 9. Jahrhunderts den Zusammenhang sprengte, wurden die Slawen in West-, Ost- und Südslawen getrennt.
 
Mythologie
 
und vorchristliche Religion: Über den vorchristlichen Götterglauben der Slawen, in dem sich offensichtlich der Glaube an Naturgottheiten mit einem Toten- und Ahnenkult verband, liegen nur vereinzelte Quellen (aus späterer Zeit und häufig von ausländischen Chronisten) vor; auch die archäologischen Funde sind spärlich. Manches lässt sich aus späteren volkskundlichen Sammlungen rekonstruieren. - An der Spitze der slawischen Götter stand der in ostslawischen Quellen bezeugte Gott des Donners und Blitzes Perun. Der einzigen weiblichen Gottheit Mokosch, der Beschützerin der Frauenarbeit (Schafschur, Spinnen, Weben), wird von einigen Forschern die Rolle der Frau des Perun zugewiesen. Als Gott des Viehs und des Ackerbaus, auch des Reichtums wurde Wolos (Weles) verehrt. Sowohl bei Ost- als auch bei Westslawen ist Swarog (Svarožic), der Gott des Feuers und der Sonne, bekannt. Der Gott Radgast (Radigast) der Abodriten ist vielleicht mit ihm identisch. Russische Quellen nennen u. a. noch Daschbog, der mit dem serbischen Dabog, dem Herrn der Erde, in Verbindung gebracht wird, und Stribog, der überwiegend als Gott der Winde gesehen wird. Anderen Göttern, wie Swantewit (Arkona auf Rügen) oder Triglaw (in Brandenburg und West-Pommern) sowie Jarowit und Rujewit, die zwischen Elbe und Oder wohl als Kriegsgötter verehrt wurden, kommt nur lokale Bedeutung zu. Quellen und spärliche Funde belegen eine Mehrköpfigkeit slawischer Kultfiguren, u. a. Triglaw (Dreikopf) in Brandenburg und Stettin, vierköpfiger Swantewit in Arkona. Reste von Holztempeln wurden auf nordwestslawischem Gebiet gefunden (Groß Raden, Ralswiek auf Rügen). Für dieses Gebiet lassen sich ein Tempelkult und eine Priesterschicht nachweisen; auch in den »Zauberern« der russischen Quellen werden Priester vermutet. Im Kult wurden den Ahnen Lebensmittel dargebracht, den Göttern Trankopfer und tierisches Schlachtopfer. Daneben gab es Vorstellungen über Nixen und Feen (etwa die »Vilen« bei Ost- und Südslawen). Göttersagen sind nicht überliefert.
 
Als Grundlage der gesellschaftlichen Organisation werden für die urslawische Zeit die Familie und Sippe (rod) gesehen. Mehrere Sippen konnten sich zu einem Stamm (plemę) vereinigen, anfänglich wahrscheinlich nach dem Prinzip der Blutsverwandtschaft, doch bereits sehr früh auch nach territorialen Gesichtspunkten (Nachbarschaft). Vorstellungen, dass Herrschaftsbildung nur innerhalb von Sippe oder Großfamilie bei Südslawen und Russen möglich gewesen sei, sind nicht haltbar: Die Entwicklung der südslawischen Großfamilie (Zadruga) und der russischen Umverteilungsgemeinde (Mir) fällt erst in die spätere Zeit der Türkenherrschaft beziehungsweise in die Endphase der Moskauer Periode.
 
Erste Aufzeichnungen eines Rechtssystems (Russkaja Prawda) aus dem 11. Jahrhundert lassen Einflüsse des griechischen Kirchenrechts (Nomokanon) und des germanischen Rechts erkennen, auch Relikte wahrscheinlich mündlich überlieferter älterer eigenständiger Rechtsnormen.
 
Wirtschaft:
 
Zeugen Funde aus dem 6. Jahrhundert noch davon, dass die Slawen eine schlichte, autarke bäuerliche Kultur (Viehwirtschaft, Ackerbau und Waldwirtschaft) ohne entwickeltes Handwerk und Gewerbe hatten, so lässt sich v. a. in Russland, Böhmen und bei den Nordwestslawen seit dem 9. Jahrhundert mit der Entstehung von Fürstenherrschaften, der Gründung von Dörfern und Burgen und den ersten Herrschaftsverbänden ein Aufschwung von Handwerk und Handel (Binnen- und Fernhandel) nachweisen.
 
Christianisierung:
 
Die Bekehrung der Sorben, von Kaiser Otto I. unterstützt, war im 11./12. Jahrhundert abgeschlossen. Polen nahm unter Mieszko I. 966/967 das lateinische Christentum an (1000 Gründung des Erzbistums Gnesen). In Böhmen und Mähren, im 9. Jahrhundert ursprünglich vom Westen (Bayern), zur Zeit des Großmährischen Reiches dann durch die Slawenapostel Kyrillos und Methodios missioniert, setzte sich die lateinische Liturgie gegenüber der byzantinisch-slawischen durch. 976 wurde das 973 gegründete Bistum Prag Suffragan von Mainz. Die Slowenen wurden in der 2. Hälfte des 8. Jahrhunderts von Salzburg aus missioniert. Die Christianisierung der Kroaten erfolgte im 7. Jahrhundert im Süden durch Byzanz, im Norden von Aquileja aus. Trotz der Unterstellung unter Rom blieb hier der Gebrauch der slawischen Sprache als Sakralsprache (Kirchenslawisch) erlaubt. Die Serben, im 9. Jahrhundert teilweise durch Schüler des Slawenapostels Methodios, im adriatischen Küstenbereich (Zeta) durch die römische Kirche christianisiert, nahmen endgültig erst an der Wende zum 13. Jahrhundert den byzantinischen Ritus an. Die Christianisierung des Bulgarischen Reiches erfolgte 965 unter Boris I. ebenfalls nach byzantinischem Ritus. In Russland wurde das Christentum (nach byzantinischem Ritus) mit der Taufe (988) des Kiewer Großfürsten Wladimir I., des Heiligen, zur Staatsreligion, doch überlebten im bäuerlichen Milieu noch vorchristliche Relikte (»Doppelglaube«).
 
Kulturelle Entwicklung:
 
Eine kulturell einheitliche »Welt der Slawen« hat es nie gegeben. Die unterschiedliche Entwicklung ist in großem Maße geprägt durch Religion und Nachbarschaft beziehungsweise Vorherrschaft anderer Völker. So wurde die Mehrzahl der orthodoxen Slawen nicht von der Reformation und nur sehr unwesentlich von Renaissance und Humanismus beeinflusst. Andererseits stärkte die Orthodoxie mit ihrer gemeinsamen Sakralsprache das Zusammengehörigkeitsgefühl dieser Slawen. Der größere Teil der Sorben sowie Teile der Tschechen und Slowaken bekannten sich dagegen zur Reformation. Bei Slowenen und Kroaten hatte die Reformation eine wichtige kulturelle Funktion, auch wenn diese Völker seit der Gegenreformation wieder fast rein katholisch sind. Als Folge der Türkenherrschaft kam es in Bulgarien, Makedonien, Bosnien und der Herzegowina zu Übertritten zum Islam (im ehemaligen Jugoslawien stellten die Muslime seit der Volkszählung 1971 eine eigene Nation dar [Bosniaken]).
 
Auch die staatliche Entwicklung war sehr unterschiedlich: Nur Russen, Polen, Tschechen, Bulgaren, Serben und Kroaten sowie ansatzweise Slowenen und Ukrainer bildeten eigene Staaten mit Dynastien, aber nur die Russen behielten ihren Staat kontinuierlich, während alle anderen - unabhängig von ihrer jeweiligen Staatsform - im Verlauf ihrer Geschichte in Personalunion mit nichtslawischen Staaten verbunden waren oder lange Perioden der Unfreiheit erlebten. Trotzdem war aufgrund der Ähnlichkeit der Sprachen ein Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den slawischen Völkern vorhanden. Es führte bereits im 17. Jahrhundert (J. Križanić) zu Bemühungen, alle Slawen zu vereinen, erreichte aber erst im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss J. G. Herders und der deutschen Romantik mit der »Wiedergeburt« bei West- und Südslawen, der Begründung der Slawistik sowie dem Slawophilentum in Russland seinen Höhepunkt und führte zur Herausbildung der Ideologie des Panslawismus.
 
Literatur:
 
R. Trautmann: Die slaw. Völker u. Sprachen (Neuausg. Leipzig 1948);
 
Słownik starożytności słowianskich, hg. v. W. Kowalenko, 7 Bde. (Breslau 1961-82);
 P. Diels: Die slaw. Völker (1963);
 Z. Vana: Einf. in die Frühgesch. der S. (1970);
 A. P. Vlasto: The entry of Slavs into Christendom. An introduction to medieval history of the Slavs (Cambridge 1970);
 M. Gimbùtas: The Slavs (London 1971);
 F. Zagiba: Das Geistesleben der Slaven im frühen MA. (Wien 1971);
 V. V. Ivanov u. V. N. Toporov: Issledovanija v oblasti slavjanskich drevnostej (Moskau 1974);
 G. Stökl: Gesch. d. S.-Mission (21976);
 L. Waldmüller: Die ersten Begegnungen der S. mit dem Christentum u. den christl. Völkern vom VI. bis VIII. Jh. (Amsterdam 1976);
 H. Brachmann: Slaw. Stämme an Elbe u. Saale. Zu ihrer Gesch. u. Kultur im 6. bis 10. Jh.; auf Grund archäolog. Quellen (Berlin-Ost 1978);
 H. Lowmiański: Religia Słowian i jej upadek (w. VI-XII) (Warschau 1979);
 V. V. Sedov: Proischoždenie i rannaja istorija slavjan (Moskau 1979);
 B. A. Rybakov: Jazyčestvo drevnich slavjan (ebd. 1981);
 A. Gieysztor: Mitologia Słowian (Warschau 1982);
 R. Portal: Die S. (a. d. Frz., Neuausg. 1983);
 C. Lübke: Regesten zur Gesch. der Slaven an Elbe u. Oder, 5 Tle. (1984-88);
 
Die S. in Dtl. Gesch. u. Kultur der slaw. Stämme westlich von Oder u. Neiße vom 6. bis 12. Jh., hg. v. J. Herrmann (Berlin-Ost 1985);
 
Ethnogenese europ. Völker, hg. v. W. Bernhard u. a. (1986);
 
Die Welt der S. Gesch., Gesellschaft, Kultur, hg. v. J. Herrmann (1986);
 C. Goehrke: Frühzeit des Ostslaventums (1992);
 P. M. Doluchanov: The early Slavs (London 1996);
 
Očerki istorii kult'ury slavjan, bearb. v. V. K. Volkov u. a. (Moskau 1996).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Slawenmission: Sieg der geistlichen Waffen
 
Kiewer Reich (Rus): Am Weg von den Warägern zu den Griechen
 

Universal-Lexikon. 2012.