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Naturkatastrophen: Bedrohung und Medienereignis
Naturkatastrophen: Bedrohung und Medienereignis
 
Hochwasser gehört zu den ältesten dokumentierten extremen Naturereignissen. Es ist an den flusszugewandten Toren mittelalterlicher deutscher Städte seit Jahrhunderten mittels Hochwassermarken vermerkt worden. Auch in den Chroniken chinesischer Dynastien kann man darüber lesen. Die moderne Untersuchung von Naturrisiken begann kurz nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Hochwasser und ist mit dem Namen des Chicagoer Geographen Gilbert White verbunden. In den 1930er-Jahren hatte der »New Deal« Roosevelts mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen die Arbeitslosigkeit der Weltwirtschaftskrise einzudämmen versucht und dabei auch Hochwasserbekämpfung betrieben. Energiegewinnung, Hochwasserschutz und Verkehrsausbau gingen Hand in Hand. Am bekanntesten wurde neben dem Hoover Dam im Westen der USA das Projekt der Tennessee Valley Authority (TVA), das nach dem »Flood Control Act« (einem Gesetz aus dem Jahr 1936) mit ingenieurtechnischen Großmaßnahmen Hochwasserschutz betrieben hatte. Bei der Erfolgskontrolle solcher Projekte stellte White nun fest, dass die Schäden höher statt niedriger geworden waren. Im vermeintlichen Schutz der Dämme und Deiche hatten die Anlieger von Flüssen unbekümmert investiert, sodass eine »Jahrhundertflut« weit höhere Schäden verursachte, als wenn sie im ungeschützten und daher weniger genutzten früheren Hochwasserbereich aufgetreten wäre. Ob nicht vielleicht Gesetze zur Landnutzungsbeschränkung und bessere Aufklärung der Bevölkerung billiger und vor allem wirksamer gewesen wären als die monumentalen Großbauten, weithin sichtbare Denkmäler tüchtiger Politiker? Seit dem »Flood Insurance Act« (einem Gesetz aus dem Jahr 1969) gibt es in den USA eine staatliche Hochwasserversicherung. Die klimatisch oder witterungsbedingten und sich häufenden Katastrophen der letzten Jahre haben — auch durch die Präsenz der Medien — das Thema Hochwasser ständig im Bewusstsein der amerikanischen Gesellschaft verankert.
 
 Dürren bedrohen die Landwirtschaft
 
Als zweites Naturrisiko wurde wenig später die Dürre aufgegriffen. Zwanzig Jahre nach der berüchtigten »dust bowl« (Staubschüssel) in den Great Plains der USA, die zu einer Massenflucht von Farmern geführt hatte, herrschte in den 1950er-Jahren eine erneute Dürre und gab Anlass, sich allgemeiner mit ihrer Erforschung zu befassen und dabei ein historisches mit einem aktuellen Ereignis zu vergleichen. Dürre wurde definiert als eine Periode, in der Wasser lange genug in einem Umfang fehlt, um ernsthafte Ernteschäden in einem größeren Gebiet hervorzurufen.
 
Das zyklische Auftreten von Dürren, in den USA 1930, 1950, 1974, trifft in den wohlhabenderen Ländern auf immer raffiniertere Abwehrtechniken und macht die Agrargesellschaft entsprechend widerstandsfähiger. Die Fortschritte zwischen den drei genannten Dürreperioden lagen zwischen 1930 und 1950 in bodenerhaltenden Maßnahmen wie hangparallelem Pflügen (contour lining), Bewässerung, Einschaltung von Brachejahren (dry farming), Anbaudiversifikation (weg von der Getreidemonokultur des Mittleren Westens), höheren Betriebsgrößen (Risikoausgleich), dürreresistenterem Saatgut, Einsatz von Kunstdünger, besserer Ausbildung der Farmer, einer bundesstaatlichen Ernteausfallversicherung (Federal Crop Insurance Program), höheren Agrarpreisen und einer gesünderen Gesamtwirtschaft.
 
Zwischen 1950 und 1974 wurde wiederum ein verbessertes Instrumentarium zur Dürre-Abwehr geschaffen: verbesserte Bewässerungstechniken, Kanalabdichtungen, kontrollierte Verdunstung, Grundwasserspeicherung, neue Wettervorhersagetechniken und erste Wettermanipulationen (durch Wolkenimpfung), Entsalzung der Böden und Abflusskontrolle. Damit hatte sich die Risikosteuerung vom Faktor Boden auf den Faktor Wasser verlagert. Künftige Dürren, die sicher unvermeidlich sind, werden sich durch die wachsende Weltbevölkerung und die politische Bedeutung von Getreidehilfslieferungen möglicherweise stärker auswirken, als dies eine Dürre derzeit tut, während verbesserte Transportkapazitäten und präzisere Warnmöglichkeiten andererseits eher Linderung versprechen.
 
 Erdbeben fördern wissenschaftliche Erkenntnisse
 
Es liegt nahe, dass als dritte große Naturgefahr das Erdbeben in den Mittelpunkt der Erforschung trat. Mit dem Erdbeben von San Francisco am 18. April 1906, das zum »Großen Feuer« wurde (der Brand war die größere Katastrophe), begann die Reihe der Erdbeben in unserem Jahrhundert. Dieser Paukenschlag wurde gleich verstärkt durch das Erdbeben von Messina am 28. Dezember 1908 mit 83 000 Toten. Mit den Beben von Loma Prieta (1989, 6 Milliarden US-Dollar Sachschaden), vom San Fernando Valley nördlich von Los Angeles (Northridge 17. Januar 1994), dem bereits erwähnten von Kobe (17. Januar 1995) und dem von Izmit (Türkei, 17. August 1999) nähern wir uns der Jahrtausendwende. Diese Ereignisse setzen gleichzeitig Eckpunkte in einer Forschungsgeschichte, bei der besonders gefährdete Länder wie die rund um den Pazifik liegenden Staaten USA, Japan, Russland und China eine herausragende Rolle spielten und große Erfolge verbuchten, aber auch große Enttäuschungen bei der Vorhersagbarkeit von Erdbeben erlitten.
 
Erdbeben, die Hauptstädte betrafen, wie 1755 Lissabon, 1923 Tokio, 1972 Managua, 1976 Bukarest, 1977 Guatemala-Stadt und Peking sowie 1985 Mexiko-Stadt, werden in der Regel in den Medien besonders beachtet und regen zu verstärkten Forschungsarbeiten an, sodass man Krisen und Konjunkturen der Erdbebenforschung auch auf solche Umstände und die Konkurrenz anderer Ereignisse zurückführen kann. Forschungsschwerpunkte sind naturgemäß die Vorhersagetechniken, die sich messbarer Indikatoren bedienen. Die Registrierung und Auswertung von Erdbebenwellen in der Erdkruste, Neigungsmessung an Schollen, Volumenveränderungs-Messungen und Laservermessung der Plattendrift, Bestimmung des Radongehalts im Grundwasser sind einige davon. In China widmet man auch der Beobachtung anormalen Tierverhaltens kurz vor Erdbeben Aufmerksamkeit.
 
Aber auch der sozialwissenschaftlichen Forschung stellen sich Aufgaben. Wie werden sich Erdbebenvoraussagen für ein Gebiet sozioökonomisch, psychologisch und politisch auswirken? Richtet die verringerte Investitionsbereitschaft in einem prognostizierten Erdbebengebiet möglicherweise größere Schäden an als das dann stattfindende Erdbeben? Wer trägt die Verantwortung für Evakuierungsentscheidungen? Wer haftet, wenn das Beben nicht eintritt? Wie groß soll der Zeitraum sein, für den eine Vorhersage gelten soll?
 
 Bedrohung durch Vulkanismus
 
Ähnlich wie die Katastrophen in den genannten Hauptstädten die Erdbebenforschung vorangetrieben haben, zeigen sich auch bei der Vulkanismusforschung markante Eckpfeiler, an denen der Fortschritt deutlich wird. Ein solcher Eckpfeiler war der Ausbruch des Mount Saint Helens am 18. Mai 1980 im pazifischen Nordwesten der USA, im Staat Washington. Mögen auch andere Vulkanausbrüche, vor allem durch die begleitenden Flutwellen (Tsunamis), viel mehr Menschenopfer gefordert haben (1815 Ausbruch des Tambora mit 56 000 Toten, 1883 des Krakatau mit 36 500, 1902 der Montagne Pelée mit 30 000 Toten), so traf doch der Ausbruch des Mount Saint Helens eine moderne Industriegesellschaft mit allen Folgen für eine störungsanfällige Infrastruktur. Neben den USA sind auch Italien wegen Vesuv und Ätna sowie Japan (zum Beispiel Ausbruch des Unzen 1792 mit 15 000 Toten, 1991: 42 Tote, 10 000 Evakuierte) in der vulkanologischen Forschung führend. Während das Vorstellungsbild in den USA lange Zeit durch den »fotogenen« Hawaii-Vulkanismus und dessen »mediengerechtes« Fließen geprägt war, setzte die Gewalttätigkeit des explosiven Ausbruchs des Mount Saint Helens in der Cascade Range neue Maßstäbe und hat die Überwachung der anderen Vulkane an der pazifischen Küste der USA beschleunigt.
 
 Mitteleuropa
 
Mitteleuropa ist von der Natur insofern begünstigt, als es — da in den gemäßigten Breiten gelegen und mit klein gekammerten Landschaften ausgestattet — bisher von extremen witterungsbedingten Risiken mit Ausnahme von Stürmen, Starkregen und Hagel weitgehend verschont blieb. Hier müssen auch keine großen tektonischen Spannungen durch Erdbeben abgebaut werden, und aktiver Vulkanismus äußerte sich zuletzt vor 9500 Jahren (Ulmener Maar in der Eifel). Nur die sich häufenden Hochwasser im Binnenland und an der Küste führen immer wieder zu großen Schäden.
 
Wohl aber sind Stürme in unsere vermeintlich »heile Welt« in zunehmendem Maß eingebrochen und haben im letzten Jahrzehnt zu einer gewaltigen Waldvernichtung geführt. Der »Deutsche Wald«, seit Jahrhunderten im Volkslied, im Märchen sowie in Musik und Malerei verinnerlicht und in unser Freizeitverhalten unablösbar integriert, wurde durch flächenhafte Zerstörung, zum Beispiel durch die Winterstürme »Vivian« und »Wiebke« zu Beginn des Jahres 1990, betroffen. Die Schäden übertrafen bei weitem jene des Sturms im Februar 1967 in Südwestdeutschland und des Orkans vom 13. November 1972 in Niedersachsen. So waren die beiden Winterstürme des Jahres 1990 von großer Bedeutung für die Ausbildung einer Problemsensibilität gegenüber Naturrisiken auch in Mitteleuropa.
 
 Katastrophenvorbeugung als internationale Aufgabe
 
Fast gleichzeitig wurde eine Internationale Dekade für die Vorbeugung vor Naturkatastrophen (International Decade for Natural Disaster Reduction) als Resolution von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet (22. Dezember 1989). Zu sehr hatte das Ausmaß von Naturkatastrophen zugenommen. Entstand zwischen 1960 und 1970 ein materieller volkswirtschaftlicher Schaden von weltweit 50 Milliarden US-Dollar, so zwischen 1970 und 1980 bereits einer in Höhe von 70 Milliarden und zwischen 1980 und 1990 von 120 Milliarden US-Dollar. Für das gerade ablaufende Jahrzehnt schätzen amerikanische Experten einen Betrag von wahrscheinlich 400 Milliarden US-Dollar. Man glaubt allerdings, dass man durch Maßnahmen der Katastrophenvorbeugung im Umfang von 40 Milliarden US-Dollar Schäden in Höhe von 280 Milliarden US-Dollar würde vermeiden können. Weltweit hat deshalb eine koordinierte Suche nach Vorbeugungsmöglichkeiten begonnen: die Neunzigerjahre des ausgehenden Jahrtausends sind darum ein wichtiges Jahrzehnt in der Geschichte der Erforschung von Naturkatastrophen. Der Ausgang der Umweltkonferenzen von Rio de Janeiro und Berlin und der Halbzeitkonferenz der Dekade 1994 in Yokohama lässt aber wenig Hoffnung aufkeimen, dass sich die Weltgesellschaft dieser großen Herausforderung gewachsen zeigen wird.
 
 Variabilität der Naturerscheinungen
 
Naturrisiken beruhen auf der Variabilität geologischer oder atmosphärischer Umstände, die außerhalb der menschlichen Beeinflussbarkeit liegen. Auf der geologischen Seite sind dies Erdbeben, vulkanische Tätigkeit, Massenbewegungen wie Bergsturz und Erdrutsch, Landsenkung und Küstenerosion und auf der klimatischen Seite vor allem Winterstürme, Tornados und Hurrikane, Hochwasser, Dürren und Waldbrände, Hagel, Blitzschlag, Hitzewellen, Frost und Schneedruck. Solche Risiken betreffen unsere Umwelt mit ihrer Einbettung menschlicher Ansiedlungen in einen bestimmten Naturraum (Environment). Dabei hat die menschliche Gesellschaft schon in ihren frühen Hochkulturen besonders risikogefährdete Teile der Erdoberfläche wie Küsten und Flussufer besetzt (Mesopotamien, Ägypten, China) und ihren Lebensraum allmählich immer weiter in Steppen-, Wald- und Gebirgsländer, ja in Wüsten ausgedehnt und sie in Wirtschaftslandschaften verwandelt, obwohl diese in ihren Nutzungsmöglichkeiten begrenzt waren.
 
 Der Mensch fordert die Natur heraus
 
In unseren Tagen hat der Tourismus sogar die höchsten Lagen der Hochgebirge erschlossen, ist die Erdölförderung auf Plattformen in die offene See vorgedrungen und wurden selbst so abweisende Teile der Erdoberfläche wie Arktis und Antarktis aus wissenschaftlichen oder militärischen Gründen mit isolierten Stützpunkten besetzt. Diese Ausbreitung war seit jeher von einem starken Ansteigen des Risikos gekennzeichnet, besonders dann, wenn Pioniere in bisher unbekanntes Neuland vorstießen (die Russen nach Sibirien, andere Europäer in den Westen Nordamerikas) und dabei die angepassteren Lebensformen der dort ursprünglich einheimischen Völker durch ihre kolonialen Nutzungen verdrängten. Nur: In der Regel werden bestimmte klimatische Zustände als gegeben hingenommen. Wer in Nordkanada, Alaska oder Nordsibirien in Taiga und Tundra lebt, ist auf extreme Kälte und Schneestürme eingestellt, ebenso wie der Wüstenbewohner Wassermangel, extreme Hitze und Sandstürme auszuhalten gewohnt ist. Es ist die Variabilität dieser Bedingungen, nämlich, dass solche naturgegebenen Extreme durch ein unerwartetes Ausschlagen des Wettergeschehens in darin unerprobte Siedlungsgebiete verlagert werden (Blizzards nach New York, nordafrikanische Hitze nach Mitteleuropa), die sie dort zu katastrophalen Ereignissen werden lässt. Blizzards, Tornados und Hurrikane haben ihre bevorzugten Zugbahnen wie bei uns Nebelbänke und Hagelzüge. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses ist kalkulierbar, und Wettersatelliten ermöglichen bei den Hurrikanen rechtzeitige Sturmwarnungen. Aber weder »Betsy« (1965, 299 Tote) noch »Camille« (1969, 323 Tote), »Agnes« (1972, 122 Tote) oder »Andrew« (23.—27. August 1992, 74 Tote, 30 Milliarden US-Dollar Sachschaden) konnten die amerikanische Freizeitgesellschaft von einer weiteren Verdichtung der Besiedlung Floridas abhalten. Dabei gibt es gerade dort sehr viele Ruheständler, die erst nach ihrer Pensionierung nach Florida ziehen, oder Touristen, welche keine Hurrikanerfahrung in ihr Freizeitgebiet mitbringen und die dadurch am meisten gefährdet sind.
 
Aber es ist nicht nur die Freizeitgesellschaft, welche um ihres Erlebniswerts willen (Gletscherskilauf, Wellenreiten) risikoreiche Räume aufsucht und überbeansprucht. Mit wachsender Bevölkerungszahl sind immer mehr Menschen gezwungen, in risikoreichen Gebieten zu leben. Die durch Rodung im Himalaya verstärkte Bodenerosion befrachtet Ganges und Brahmaputra mit Sedimentmassen, die sich im Golf von Bengalen absetzen. Die für den Reisbau günstigen, sich aber rasch verlagernden Schwemmlandinseln (Chars) verleiten landlose Bauern zur Ansiedlung. Im November 1970 ertranken im Windstau von sieben Meter über dem normalen Flusspegel 225 000 Menschen. Im Mai 1985 und im Mai 1991 wiederholte sich die Katastrophe, die sechzigste seit 1900. Innerhalb dieses Zeitraums verloren rund drei Millionen Menschen ihr Leben.
 
 Gefahr aus dem Erdinnern
 
Bei den geologischen Risiken ist es ähnlich wie bei den atmosphärischen. Die hohe seismische Gefährdung Kaliforniens hat weder im Raum San Francisco noch in dem von Los Angeles die Bildung von Millionenstädten verhindern können. Das Image des »Golden State« hat zu einem ungebremsten Zuzug geführt, obwohl zum Erdbebenrisiko auch noch andere Gefahren (Erdrutsch, Küstenabbruch, Waldbrand, Überschwemmungen und Wassermangel) hinzukommen, die bei einer hochsensiblen Infrastruktur mit Brücken, Hochstraßen, Staudämmen, Gas-Pipelines, Wasserleitungen, Kanälen, Raffinerien und Atomkraftwerken zu Katastrophen eskalieren können (auslösende oder »Trigger«-Wirkungen). Rings um die San Francisco Bay wurden Bauten häufig auf künstlich aufgeschwemmtem Gelände erstellt, das zur Liquefaktion neigt. Bodenspekulation und sorgloser Umgang mit Bauvorschriften haben ein risikoträchtiges Environment zu einer Zeitbombe für Millionen von Einwohnern werden lassen. Liquefaktion und Flutwellen (Tsunamis) bedrohen auch viele japanische Industriezonen, die auf aufgespültem Neuland angelegt wurden.
 
Vulkane stellen zwar ihre gefährliche Natur in schön geformten gleichmäßigen Kegeln zur Schau und bringen so das von ihnen ausgehende Risiko ins Bewusstsein der Bevölkerung. Aber die durch gelegentliche Ascheausbrüche verjüngten, mineralreichen Böden verlocken nach jeder Eruption zur Wiederbesiedlung. In den Tropen und Subtropen ragen viele Vulkane über Tieflandwälder und Steppen hinaus in kühlere Höhen, in denen die Niederschläge reiche Ernten an »cash crops«, Devisen bringenden Weltwirtschaftsgütern wie Kaffee oder Tee, ermöglichen. Warum also sollte man die Kegelberge fliehen, zumal dann, wenn die vulkanische Tätigkeit von den Forschern für erloschen erklärt wurde?
 
 Katastrophen als Medienereignisse
 
In diesem Abschnitt war davon die Rede, dass mit wachsender Bevölkerungsdichte das Risiko von Katastrophen zunimmt, dass durch Bevölkerungszunahme immer neue risikoträchtige Räume in die Nutzung einbezogen werden müssen, dass der Mensch aber auch bewusst riskobehaftete Gebiete wie Hochgebirge, Flussufer und Küsten zum Teil wegen ihres Freizeitwerts aufsucht. Dazu kommt eine immer störungsanfälligere Infrastruktur, der stoßweise Verkehrsrhythmus der Industriegesellschaft und die Gefährlichkeit vieler Produktionen (zum Beispiel der chemischen Industrie), die zusammen genommen zahllose Situationen hervorrufen, in denen extreme Naturereignisse zu Katastrophen führen können.
 
Aber die wachsende Flut von Katastrophenmeldungen speist sich auch noch aus anderen Quellen: Nicht nur, dass sich die Situationen vermehren, wir erfahren auch mehr über sie. Ein verdichtetes Netz von Erdbeben-Messstationen meldet uns jede Bodenerschütterung. Wettersatelliten informieren uns unmittelbar über meteorologische Ereignisse in aller Welt, und die Medien verbreiten Meldungen über Naturkatastrophen mit besonderer Dramatik, weil filmgerechte Bewegungsabläufe (Tornados, Hochwasserwellen, Tsunamis, Vulkanausbrüche, Lawinen, Erdrutsche) oder die darauf folgenden Bilder der von ihnen ausgelösten Zerstörungen makabre Sensationen garantieren. Dramatische Rettungsaktionen vermitteln eine menschliche Note und fügen den überwiegenden »bad news« auch eine notwendige Dosis von »good news« bei. Bestimmte amerikanische Fernsehstationen bedienen sich im Kampf um Einschaltquoten fast ausschließlich einer solchen Thematik, die durch Kabelvernetzung zunehmend auch bei uns verbreitet wird.
 
Dabei hat auch die Katastrophenmeldung nur eine bestimmte Reichweite. Amerikanische Medienforscher haben nachgewiesen, dass ein Ereignis, das in 10 000 km Entfernung stattfand, durchschnittlich 39 Todesopfer gefordert haben muss, um in einer 10 cm langen Nachrichtenspalte genannt zu werden, in 1000 km Distanz braucht es dazu nur noch sieben Opfer, in 100 km genügt manchmal bereits ein Toter. Kulturelle Nähe zu den Opfern ist wichtig. Für US-Amerikaner hat ein Westeuropäer denselben »Nachrichtenwert« wie drei Osteuropäer, neun Lateinamerikaner, elf Bewohner des Nahen und zwölf des Fernen Ostens. Solche Aufrechnungen, die man zynisch finden mag, sind auch für die Medien Mitteleuropas gültig.
 
Eine ähnliche Distanzabhängigkeit bei der Wahrnehmung von Naturkatastrophen ist auch bei Hilfsmaßnahmen und bei der internationalen Spendenfreudigkeit festzustellen. So wurde 1976 das Erdbeben in Friaul von den Anrainerstaaten eher als eine alpine denn als eine italienische Katastrophe angesehen, Frankreich und England traten als Spenderländer staatlicher oder privater Hilfsgüter im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Schweiz fast nicht in Erscheinung. Die Hilfe aus Übersee kam meist von friaulischen Auswanderern, im Falle der USA handelte es sich überwiegend um staatliche Hilfe.
 
Prof. Dr. Robert Geipel
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Naturkatastrophen: Erdbeben, Vulkanausbrüche, Erdrutsche
 
Naturkatastrophen: Dürre, Stürme, Hochwasser
 
Literatur:
 
Bryant, Edward: Natural hazards. Cambridge u. a. 1991.
 Drabek, Thomas E.: Human system responses to disaster. An inventory of sociological findings. New York u. a. 1986.
 Geipel, Robert: Friaul. Sozialgeographische Aspekte einer Erdbebenkatastrophe. Kallmünz 1977.
 Geipel, Robert: Naturrisiken. Katastrophenbewältigung im sozialen Umfeld. Darmstadt 1992.
 
Natural hazards. Local, national, global, herausgegeben von Gilbert F. White. Neudruck New York u. a. 1977.
 Nussbaumer, Josef: Die Gewalt der Natur. Eine Chronik der Naturkatastrophen von 1500 bis heute. Grünbach 21999.
 Palm, Risa I.: Natural hazards. An integrative framework for research and planning. Baltimore, Md., u. a. 1990.

Universal-Lexikon. 2012.