Kriminal|literatur,
populäre und vielseitige, auf Spannung orientierte erzählende Literatur; im deutschen Sprachraum übliche Sammel-Bezeichnung für alle literarischen Werke, die das Verbrechen und seine Aufklärung in den Mittelpunkt der Handlung stellen. Nach der Erzählstruktur lässt sich die Kriminalliteratur in Detektivroman, Detektiverzählung einerseits und Kriminalroman, Kriminalerzählung andererseits unterteilen. Im angelsächsischen Sprachraum findet sich hierfür die Unterscheidung von »detective story« und »crime novel«, das Französische kennt beide als »roman policier«. Der Detektivroman im engeren Sinn bezieht sein wesentliches Spannungsmoment aus der Darstellung der Aufklärung eines unter rätselhaften Umständen begangenen Verbrechens aufgrund der (vorrangig intellektuellen und rationalen) Bemühungen eines Detektivs. Die Handlung besteht überwiegend aus Verhören und Untersuchungen, die der Rekonstruktion des Tatvorgangs dienen. Dabei wird einerseits jenes das Verbrechen umgebende Geheimnis für den Leser planmäßig verstärkt, andererseits das Rätselhafte bis zu der überraschenden Aufklärung des Falles systematisch abgebaut. Der Kriminalroman im engeren Sinn (bzw. Thriller) zielt dagegen v. a. auf die Entwicklung eines Verbrechens, unterscheidet sich aber auch hinsichtlich der Vorgehensweise des Ermittlers. Dargestellt wird hier weniger die Entschlüsselung eines Verbrechens, sondern meist die Verfolgung eines oft schon bald identifizierten Täters, was sich besonders in der Ausgestaltung durch aktionsgeladene Szenen (Flucht, Verfolgungsjagden, Gefangennahme) niederschlägt. Die Erzählweise ist im Gegensatz zum Detektivroman vorwärtsgerichtet und chronologisch. Eine Sonderform des Thrillers ist der Agenten- oder Spionageroman, der sich nicht strukturell, sondern inhaltlich durch das Motiv der Spionage und den damit verbundenen Hintergrundsschilderungen abhebt (G. Greene, J. le Carré, E. Ambler, L. Deighton).
Die Geschichte der Kriminalliteratur als eigene Gattung beginnt Ende des 18. Jahrhunderts. Geistesgeschichtlich steht die Entwicklung der Kriminalliteratur in Zusammenhang mit dem Rationalismus der Aufklärung, v. a. aber mit der Dominanz der Naturwissenschaften und des Positivismus in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die sozialgeschichtlichen Wurzeln der Kriminalliteratur liegen einerseits in der Konsolidierung des bürgerlichen Rechtsstaates, dem damit einhergehenden Interesse des Publikums an Rechtsfragen und der Forderung nach verlässlichen Justizverfahren, andererseits im Wandel des Strafprozesses, welcher den Sach- und Indizienbeweis an die Stelle des durch Folter erzwungenen Geständnisses setzte. Für die weitere Entwicklung der Gattung spielte die Publizistik eine wesentliche Rolle. Das Interesse der Öffentlichkeit an Verhandlungen von Strafverfahren und den Methoden der Polizei wurde von der Presse aufgegriffen. Häufig kam es zu einer Verschmelzung von Sachbericht und Fiktion, Kriminalgeschichten ergänzten Gerichts- und Polizeiberichte. Die im 19. Jahrhundert stetig wachsende Zahl von Zeitschriften hatte einen hohen Bedarf an Unterhaltungsliteratur und profitierte von der Popularität kriminalistischer Themen. Form und Ziele der Printmedien beeinflussten die Gestaltung der Kriminalliteratur unmittelbar (Anstieg reiner Unterhaltungselemente, breite Erzählanlage für zahlreiche Fortsetzungen, Figurenreichtum, Häufung melodramatischer Ereignisse); später setzte das Medium Film neue Akzente (Spannungssteigerung durch kurze, aktionsgeladene Szenen, ständiger Wechsel der Schauplätze und Perspektiven u. a.). Die spätere Ergänzung der Roman- durch Filmserien führte zur Entwicklung eines Medienverbundes, der die optimale Verwertung der Kriminalliteratur anstrebt. - Von den literarischen Vorläufern der Kriminalliteratur sind v. a. F. Gayot de Pitavals »Causes célèbres et intéressantes« (1734-43, 20 Bde.), eine Sammlung von Strafrechtsfällen und Kriminalgeschichten, zu nennen. Gestaltgebende Elemente der Kriminalliteratur, wie die Häufung unerklärlicher, mystischer Ereignisse und deren letztlich doch rationale Aufklärung oder die Häufung surrealistischer Horroreffekte finden sich in den Gothic Novels sowie in den Erzählungen der deutschen Romantik (E. T. A. Hoffmann, »Das Fräulein von Scudéri«, 1819). Motive der Spurensuche und logische Deduktion zeigen u. a. die Abenteuer- bzw. Feuilletonromane von J. F. Cooper (»The Pathfinder«, 1840), H. de Balzac (»Une ténébreuse affaire«, 1841) und E. Sue (»Les mystères de Paris«, 1842-43, 5 Bde.). Die für die Kriminalliteratur typischen Elemente vereinigt E. A. Poe in seiner Erzählung »The murders in the Rue Morgue« (1844). Er entwirft dabei ein die Kriminalliteratur normierendes Strukturmodell: der Einbruch des Irrationalen in die geordnete Welt in Form eines rätselhaften Mordes, die Fahndung des genialen Detektivs nach dem Täter, die sich steigernde Spannung und der Triumph der Rationalität bei der Aufklärung des Verbrechens. W. W. Collins und É. Gaboriau verbanden das systematische Analyseverfahren Poes mit dem Gesellschaftsroman des 19. Jahrhunderts. A. C. Doyle folgte in seinen Geschichten um den Detektiv Sherlock Holmes stärker dem Vorbild Poes. Sein dem »Pathos der Faktizität« (U. Schulz-Buschhaus) verpflichteter Held reduziert den Kriminalfall auf das Rätsel und seine Auflösung. Er ist damit Vorbild für eine große Zahl bedeutender, meist englischer und amerikanischer Autoren, die in der Folgezeit den pointierten Rätselroman schufen, meist mit einem Meisterdetektiv als Held der Geschichte. Hierzu gehören v. a. die Werke von G. K. Chesterton, Earl Derr Biggers (* 1884, ✝ 1933), John Dickson Carr (* 1906, ✝ 1977), E. Wallace, Margery Allingham (* 1904, ✝ 1966), Agatha Christie, G. Leroux und Dorothy Sayers, in neuerer Zeit Ruth Rendell, P. (Phyllis) D. (Dorothy) James, R. (Dick) Francis und Martha Grimes. - In bewusster Abgrenzung von diesem Typus der Kriminalliteratur gab es seit den 1930er-Jahren Ansätze einer an der harten großstädtischen Wirklichkeit der Zeit orientierten und dabei soziale, psychologische und politische Elemente stärker integrierenden Kriminalliteratur. In den USA entwickelten D. Hammett (zunächst selbst Detektiv), R. Chandler und C. Woolrich unter dem Einfluss von Caroll John Baly (* 1889, ✝ 1958) die »hard boiled school«, in deren Werken das Verbrechen tendenziell als der Gesellschaft innewohnend dargestellt wird. An der klassischen Struktur orientiert, schildern sie eine Welt der Korruption, der unauflösbaren Verbindung von Politik, Polizei und Verbrechen. Dieser steht ein Detektiv mit ausgeprägtem Sinn für Gerechtigkeit und Moral gegenüber. Nachfolger dieser Richtung sind u. a. R. Macdonald, C. Himes, Richard Harris sowie M. Spillane mit seinen publikumswirksamen Schilderungen krimineller Handlungen und sadistischer Gewalt und James Ellroy (* 1948). Überzeugende Psychologisierung und genaue Milieucharakteristik wurden in den 1930er-Jahren durch G. Simenon, W. Serner, F. Arnau und F. Glauser in die Kriminalliteratur eingeführt. Auch in der Folgezeit versuchten verschiedene Autoren, historisch erstarrte Muster der Kriminalliteratur durch gesellschaftskritische Töne aufzubrechen. In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgte eine breite Differenzierung der Kriminalliteratur mit unterschiedlichsten Intentionen, Handlungstrukturen, Erzählweisen und -perspektiven. So stellt der zehnbändige Kriminalliteraturzyklus von Maj Sjöwall und P. Wahlöö (1965-75), der als sozialkritische Bestandsaufnahme der zeitgenössischen schwedischen Gesellschaft gilt, die Handlung aus der Perspektive der Ermittelnden dar. Die Romane von Patricia Highsmith, P. Boileau und T. Narcejac widerum erzählen ihre Geschichte aus der beklemmenden Perspektive des Opfers und/oder des Täters; sie behandeln einen Kriminalfall eher im individualpsychologischen Rahmen. - Fachleute und Wissenschaftler sprechen sich heute zunehmend gegen eine schematische Defintition und Unterteilung der Kriminalliteratur aus, da sie sowohl autonome Kunstwerke als auch serielle Texte der Trivialliteratur (z. B. Heftromane) und demzufolge eine große ästhetische Bandbreite umfasst. Typologien sind deshalb als dynamische und umgangssprachlich definierte Texgruppen zu verstehen. Neben einer am Buchmarkt orientierten Kategorisierung nach Ethno-, Landhaus-, Schwulen-, Wirtschaftskrimi, Polit- oder Psychothriller u. a. ist eine Unterteilung nach nationalspezifischen Ausprägungen möglich. In Frankreich entstand beispielsweise Ende der 60er-Jahre eine eigenständige Tradition mit bedrohlicher, düsterer Grundstimmung, »Série noire« bzw. »Néo-Polar« genannt. In Anlehnung an amerikanische Motive und Stilmittel wird der detaillierten Beschreibung des gesellschaftlichen Umfelds der Figuren und ihrem politisch motivierten Verhalten größere Bedeutung zugeschrieben, Tabus und Lesererwartungen ignoriert. Eher zufällig gerät der Detektiv in einen Fall hinein und ist gezwungen, sich mit dessen Aufklärung zu befassen. Nach L. Malet, der durch surrealistische Effekte neue Akzente setzte, folgten dieser Richtung J.-P. Manchette (* 1942, ✝ 1995), J.-B. Pouy (* 1946), J.-C. Izzo (* 1945, ✝ 2000), D. Pennac (* 1944) und J.-C. Grangé * 1961). In Spanien bezog M. Vázquez Montalbán zeitgeschichtliche Ereignisse in seine Romane ein. Gegenläufig entwickelte sich - ausgehend von Großbritannien - eine historisierende Tendenz (Ellis Peters, Anne Perry). In den 1950er- und 1960er-Jahren nutzten zahlreiche Autoren die Kriminalliteratur als Medium, um die Verstehbarkeit der Welt infrage zu stellen. Während eine gemäßigte Variante dieser Richtung den Detektiv wohl noch die Wahrheit erkennen lässt (F. Dürrenmatt, »Das Versprechen«, 1958), kann bei A. Robbe-Grillet (»Les gommes«, 1953), C. E. Gadda und L. Sciascia (»Todo modo«, 1974) das Verbrechen nicht mehr enträtselt werden. Die internationale Postmoderne nutzt Elemente der Kriminalliteratur als Versatzstücke, um die Erwartungshaltung des Lesers zu unterlaufen (U. Eco, L. Gustafsson, P. Süskind). - In neueren Romanen der Kriminalliteratur spielt das Privatleben der Detektive eine meist ebenso wichtige Rolle wie die Handlung selbst; die ermittelnden Kommissare, Anwälte, Journalisten oder Gerichtsmediziner überzeugen durch ihre alltägliche Erscheinung, reichen Erfahrungen und menschlichen Schwächen. Neben der stilistisch und thematisch umfangreichen anglo-amerikanischen Kriminalliteratur (J. Grisham; Patricia Cornwell; Minette Walters, * 1949; D. Lehane, * 1966; J. Deaver, * 1950) behauptet sich eine Vielzahl internationaler Autoren, die in sozialkritischer Tradition nationaltypische Strukturen, Landschaften, Mentalitäten aufnehmen und mittels Variation klassischer Erzählmuster und klarer Strukturen breite Leserkreise erreichen. Dazu zählen erfolgreiche Kriminalromane aus Schweden (H. Mankell; Liza Marklund, * 1962; H. Nesser, * 1950) und Russland (B. Akunin, * 1956; Alexandra Marinina, * 1957; Polina Daschkowa, * 1960) ebenso wie aus Israel (Shulamith Lapid, Batya Gur) oder Algerien (Y. Khadra, * 1956). Die Amerikanerin Donna Leon leitete mit ihren in Venedig spielenden Detektivgeschichten um den sympathischen Commissario Brunetti eine Erfolgswelle italienischer Kriminalromane ein (A. Camilleri; N. Filastò; C. Lucarelli, * 1960). - In der BRD erfuhr die Kriminalliteratur in den 1970er-Jahren eine Belebung durch die »Soziokrimis« (F. Werremeier; H. Bosetzky [Pseudonym »-ky«]; R. Hey; Christa Maria Till, *1946; u. a.), während sie in der der DDR auf der Prämisse beruhte, dass im Sozialismus der Motivation des Verbrechens der Boden entzogen sei. Trotz Einförmigkeiten der Charaktere, des Handlungsaufbaus und deutlicher pädagogischer Intentionen gab es auch kritische Darstellungen des Alltags (K. H. Berger, * 1928H. Bastian, * 1939, ✝1986; Barbara Neuhaus, * 1924; u. a.) und Vertreter der »hard boiled school« (H. Thürk, * 1927). Anglo-amerikanischen Vorbildern folgend, gibt es heute im deutschen Sprachraum nicht nur eine frauenspezifische Kriminalliteratur (Doris Gercke, * 1937; Ingrid Noll), sondern auch eine stark regionalisierte. Angeregt von der »Tatort«-Serie des Fernsehens verlegen viele Autoren die Handlung ihrer Geschichten in typische Großstädte, Ballungsgebiete oder Landschaften. Die sozialkritischen Psychogramme der Provinzen faszinieren durch vertrautes Ambiente und Wiedererkennung geographischer Gegebenheiten, Institutionen, Ereignisse, Vereine und sprechen vor allem den dort lebenden bzw. mit der Region verbundenen Leserkreis an. Angeführt werden sie von den Eifel-Krimis von J. Berndorf (* 1936), den Ruhrpott-Krimis von J. Juretzka (* 1955), dem in Frankfurt am Main ermittelnden türkisch-deutschen Detektiv von J. Arjouni und den in München spielenden Geschichten von F. Ani. An typisch österreichischen Schauplätzen wie Wien, Salzburg oder dem Weinviertel lassen W. Haas (* 1960) und A. Komarek (* 1945) ihren Detektiv bzw. Gendarm ermitteln.
U. Schulz-Buschhaus: Formen u. Ideologien des Kriminalromans (1975);
Der Detektiverzählung auf der Spur, hg. v. P. G. Buchloh u. a. (1977);
S. Kracauer: Der Detektiv-Roman (Neuausg. 1979);
J. Symons: Am Anfang war der Mord (a. d. Engl., Neuausg. 1982);
U. Suerbaum: Krimi (1984);
K.-D. Walkhoff-Jordan: Bibliogr. der K. 1945-1984 im dt. Sprachraum (1985);
K.-D. Walkhoff-Jordan: Bibliogr. der K. 1985-1990 im dt. Sprachraum (1991);
H. Pfeiffer: Phantasiemorde. Ein Streifzug durch den DDR-Kriminalroman (Berlin-Ost 21987);
P. G. Buchloh u. J. P. Becker: Der Detektivroman. Studien zur Gesch. u. Form der engl. u. amerikan. Detektivliteratur (41990);
P. Nusser: Der Kriminalroman (21992);
Lex. der K., hg. v. K.-P. Walter, Losebl. (1993 ff.);
J. Hindersmann: Der brit. Spionageroman. Vom Imperialismus bis zum Ende des Kalten Krieges (1995);
Kriminalromania, hg. v. H. Pöppel (1998);
A. Bremer: Kriminalistische Dekonstruktion. Zur Poetik des postmodernen Kriminalromans (1999);
Frauen auf der Spur. Kriminalautorinnen aus Deutschland, Großbritannien und den USA, hg. v. C. Birkle, S. Matter-Seibel u. P. Plummer (2001);
G. Holzmann: Schaulust und Verbrechen. Eine Geschichte des Krimis als Mediengeschichte. 1850 - 1950 (2001).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Universal-Lexikon. 2012.