dekodieren; entschlüsseln; entziffern; enträtseln; dechiffrieren; decodieren; Vorlesung halten; schmökern (umgangssprachlich); durchlesen; begutachten; reinziehen (umgangssprachlich); (sich etwas) zu Gemüte führen (umgangssprachlich); studieren; verschlingen; wälzen (umgangssprachlich); verschlingen (umgangssprachlich)
* * *
le|sen ['le:zn̩], liest, las, gelesen:a) <tr.; hat einen Text mit den Augen und dem Verstand erfassen:
ein Buch, einen Brief lesen; <auch itr.> in der Zeitung lesen.
b) <itr.; hat einen Text lesend vortragen:
die Autorin liest aus ihrem neuen Buch.
Syn.: ↑ vorlesen.
c) <itr.; hat Vorlesungen (an einer Hochschule) halten:
sie liest an der Heidelberger Uni, über Orthopädie; <auch tr.> er liest englische Literatur.
d) <tr.; hat erkennen, wahrnehmen:
aus jmds. Augen Verachtung, Verbitterung lesen; kannst du Gedanken lesen?
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le|sen 〈V. 178; hat〉
I 〈V. tr. u. V. intr.〉
1. den Sinn von Schriftzeichen erfassen, Schrift in Sprache umsetzen
2. Vorlesungen halten
3. ernten, sammeln
4. 〈EDV〉 einen Datenträger abtasten u. die darauf befindlichen Daten erfassen
● Ähren, Beeren, Trauben, Wein \lesen; einen Brief, ein Buch \lesen; eine Gesetzesvorlage im Bundestag \lesen beraten; ein Kolleg \lesen; Korrektur \lesen Schriftsatz auf Satzfehler prüfen; die Messe \lesen M. halten, zelebrieren; Zeitung \lesen ● \lesen lernen ● falsch, fließend, laut \lesen ● beim Lesen deines Briefes; in jmds. Gesicht, Augen \lesen seinen, ihren Ausdruck deuten; ich habe in der Zeitung gelesen, dass ...; ein Drama mit verteilten Rollen \lesen; über deutsche Literatur \lesen ● dieses Buch wird gern, viel gelesen
II 〈V. refl.; umg.〉 sich \lesen gelesen werden können, geschrieben sein ● das Buch liest sich leicht, schwer, gut
[<ahd. lesan, „auswählend sammeln“, dann „erzählen, berichten“ <germ. lesan „sammelnd auflesen“]
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1le|sen <st. V.; hat [mhd. lesen, ahd. lesan, urspr. = zusammentragen, sammeln]:
1.
a) etw. Geschriebenes, einen Text mit den Augen u. dem Verstand erfassen:
laut, leise, schnell, langsam l.;
l. lernen;
das Kind kann schon l.;
abends im Bett noch l.;
etw. aufmerksam, nur flüchtig l.;
viel l.;
einen Satz zweimal l. müssen;
die Zeitung, einen Roman, die Post, die Mail l.;
ein Drama mit verteilten Rollen l.;
etw. am Schwarzen Brett l.;
[etw.] in einem Buch l.;
lange an einem Buch l.;
Noten, eine Partitur l. (in Töne umsetzen, verstehen);
ein Gesetz l. (Politik; im Parlament beraten);
Korrekturen, Fahnen l. (Druckw.; neu gesetzten Text auf seine Richtigkeit durchlesen);
einen Autor [im Original] l.;
eine Messe l. (kath. Kirche; eine Messe halten, zelebrieren);
die Handschrift ist schlecht zu l. (zu entziffern);
etw. nicht l. (entziffern) können;
der Text ist so zu l. (in dem Sinne zu verstehen, zu interpretieren), dass …;
ich habe darüber, davon gelesen;
b) vorlesen, lesend vortragen:
aus eigenen Werken l.;
die Autorin las eine Erzählung;
c) regelmäßig Vorlesungen halten:
er liest an der Heidelberger Universität, [über] moderne Lyrik;
d) <l. + sich> in einem bestimmten Stil geschrieben sein u. sich entsprechend 1lesen (1 a) lassen:
das Buch liest sich leicht, flüssig, schwer;
der Bericht las sich wie ein Roman;
e) <l. + sich> [unter Mühen] ein umfangreiches Werk bis zum Ende 1lesen (1 a):
sich durch einen Roman l.
2. etw. aus etw. erkennend entnehmen:
aus jmds. Zeilen einen Vorwurf, gewisse Zweifel l.;
in ihrer Miene konnte man die Verbitterung l.;
aus seinem Blick, Gesicht war deutlich zu l., was er dachte;
in jmds. Augen l. (jmds. Blick zu deuten versuchen);
Gedanken l. (erraten) können.
a) einzeln [sorgfältig] von etw. abnehmen, aufnehmen:
Ähren, Beeren, Trauben l.;
Holz vom Boden l.;
b) einzeln [sorgfältig] in die Hand nehmen u. Schlechtes dabei aussondern:
Erbsen l.;
Salat l. (schlechte od. die äußeren Blätter davon entfernen).
* * *
I Lesen,
physikalisch: das Umsetzen der an einer bestimmten Stelle eines Speichermediums (ROM, RAM, Festplatte, CD-ROM, Magnetband usw.) vorhandenen physikalischen Information in ein elektrisches Signal und das anschließende Übertragen des Signals in den Arbeitsspeicher. Oft spricht man auch vom Einlesen der Daten. Bevor Daten übertragen werden können, müssen sie vom Betriebssystem auf dem Speichermedium gesucht und gefunden werden (der Schreib-/Lesekopf muss an die richtige Stelle gefahren werden). Im weiteren Sinn kann auch dieses Suchen zum Vorgang des Lesens dazugerechnet werden.
Eine Diskette kann z. B. nicht gelesen werden, wenn das Betriebssystem nicht in der Lage ist, die Datenbereiche anzusteuern, oder wenn der Lesekopf (bzw. die Diskette selber) defekt ist. - Ggs.: Schreiben.
II
Lesen
Software-mäßig: das bloße Betrachten von Daten, die mit einem bestimmten Programm geöffnet wurden. Einige Beispiele für die Bedeutung von »lesen« in Bezug auf Software: Man sagt, eine Datei könne nicht gelesen werden, wenn das zum Lesen verwendete Programm das Format der Datei nicht umsetzen kann. Dateien, die schreibgeschützt sind, können nur gelesen werden (das trifft u. a. auf die Dateien auf einer CD-ROM zu). Insbesondere bei Datenbankanwendungen werden vielen Benutzern ausschließlich »Nur-Lese-Rechte« gewährt, um die Inhalte vor unsachgemäßen Änderungen zu schützen.
III
Lesen
[mittelhochdeutsch lësen, althochdeutsch lësan »auswählend sammeln«, »aufheben«, »an sich nehmen«; der Bedeutungszuwachs »Geschriebenes lesen« folgte vermutlich dem lateinischen »legere«]. Lesen heißt, dass ein Leser einem Text (Geschriebenem, Gedrucktem, aber auch Zeichen anderer Art) im Vorgang des Verstehens Bedeutung gibt. Kompetentes Lesen erfordert nicht nur, Einzelzeichen zu entziffern, sondern darüber hinaus, Zusammenhänge eines Textes zu erschließen und ihn so synthetisierend zu verstehen. In diesem Sinne können z. B. auch Bilder oder Filme als Texte wahrgenommen und »gelesen« werden. Semiotisch gesehen, sind sprachliche Zeichen, wie Zeichen allgemein, als bloße Zeichengestalten ohne Bedeutung; diese erhalten sie, indem ihnen Benutzer (Sprecher/Schreiber, Hörer/Leser) Bedeutung verleihen (Bedeutungskompletion). Lesen als Decodierung der vom Schreiber codierten Zeichen geht von einem gemeinsamen Code aus, der aber nicht für beide völlig identisch ist. Lesen heißt nicht, dass der Leser dem Text nur jene definierte Bedeutung mehr oder weniger korrekt »entnimmt«, die ein Schreiber ihm durch den Text »mitteilt«. Vielmehr ist Lesen eine aktive bedeutungsschaffende Tätigkeit, nicht »Sinnentnahme«, sondern Sinnbildung durch den Lesenden aus einem Text, denn der Leser muss die Angebote des Textes an sein Sprach- und Weltwissen konstruktiv anschließen, um sie für sich sinnhaft zu machen.
Sowohl die Sinnkonstruktion auf der Basis denotativer Bedeutungen wie noch deutlicher die Konnotationen sind von Faktoren der Leserseite bestimmt (Zusammenhang von »Erkenntnis und Interesse«). Die ältere Vorstellung, Lesen heiße, grafische Zeichen in gesprochene Sprache umzusetzen (die »Rückgewinnung der lebendigen Rede« aus »toten Buchstaben«, Gadamer), die dann der Gegenstand des Verstehens sei, gilt heute als unzutreffend, da Schrift unmittelbar Sprache ist.
Neben Leser-Faktoren (Bildung, Geschlecht, Motivation, Lesekompetenz usw.) und Faktoren des materiellen Leseobjekts (z. B. Handschrift oder Druck, Rolle oder Buch, Leserlichkeit) wie des Lesestoffes (z. B. Sachliteratur oder Belletristik) bestimmen Leseweise (Arbeitslektüre oder Unterhaltung, laut oder stumm usw.) und Lesesituation Qualität und Ergebnis des Lesens. Vom Lesestoff allein (z. B. »Trivialliteratur«) sind Qualität und Funktion nicht zu bestimmen, da diese sich erst durch den gesamten Lesevorgang herstellen.
Lesen, insbesondere literarisches Lesen, besteht nicht nur in kognitiver Sinnbildung; es ist zugleich ein emotionales Erlebnis, das Momente wie Genuss, Betroffenheit, Identifikation enthält, bis hin zu Glückserlebnissen (»Flow«). Der Begriff der literarischen Erfahrung integriert die kognitiven und die emotiven Dimensionen.
Der elementare mechanische Lesevorgang besteht bei ungeübten Lesern darin, dass das Auge von Buchstabe zu Buchstabe bewegt wird; geübte Leser bewegen die Augen diskontinuierlich von einem Fixationspunkt zum nächsten in so genannten Sakkaden über die Zeilen. Die Texterfassung erfolgt während der Fixationen von circa einer Viertelsekunde Dauer.
Dass das Lesen auf mechanischer Ebene als linearer Ablauf erscheint, der der schreib- und satztechnischen Linearität folgt, darf nicht zu der Vorstellung führen, Bücher seien ein »autoritäres lineares Medium« (McLuhan), das das Denken zur Linearität zwinge. Diese Vorstellung missachtet die Materialität der Texte (so brechen Paratexte, Register, Fußnoten u. Ä. die Linearität des Lesens auf) ebenso wie Befunde, dass v. a. kompetente Leser Texte selten linear vom Anfang zum Ende lesen, sondern in wechselnder Fokussierung ihrer Wahrnehmung.
Ist das Lesen an sich schon eine unverzichtbare Kulturtechnik, so ist eine qualifizierte Lesefähigkeit auf hohem Niveau für entwickelte Gesellschaften unabdingbar. (Dass es auch hier »funktionalen Analphabetismus« gibt, geht zum Teil darauf zurück, dass sich wegen gestiegener Anforderungen die Kriterien verändert haben. Für die letzten amtlichen Statistiken zu Anfang des 20. Jahrhunderts genügte Signierfähigkeit, also die bloße Fähigkeit, mit dem eigenen Namen zu unterschreiben, um kein Analphabet mehr zu sein). Lesen ist nötig zur autonomen Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, als operationales Lesen zur Qualifikation und Information. Empirische Studien zeigen, dass habituelles Lesen mit qualitativ besserer Informiertheit zusammengeht und so Voraussetzung für politische Partizipation und für das Funktionieren des demokratischen Systems ist. Auch literarisches Lesen hat wichtige entwicklungspsychologische und sozialisatorische Funktionen, v. a. in Kindheit und Jugend, z. B. für die Ausbildung der für die soziale Interaktionskompetenz zentralen Empathiefähigkeit.
Die qualifizierte Lesekompetenz ist eine unabdingbare Basis-Qualifikation auch für den Umgang mit anderen Medien, regelmäßig Lesende können die audiovisuellen Medien besser nutzen, u. a., weil sie ihre beim Lesen eingeübte Fähigkeit zur Strukturierung des Wahrgenommenen einsetzen. Diese Fähigkeit kann z. B. das bessere Verständnis der Nachrichten oder auch der künstlerischen Sprache eines Films betreffen. So ist Lesen heute in die Mediennutzung als Ganzes eingebettet, es gibt keinen Gegensatz zwischen Lesen und Fernsehen beziehungsweise neuen Medien.
Lesen ist eine phylogenetisch junge Fähigkeit; sie gehört nicht zur »anthropologischen Grundausstattung«, sondern ist neurobiologisch in jenen Gehirnregionen zu lokalisieren, die sich zuvor für die visuellen Pars-pro-toto-Funktionen, wie z. B. das Spurenlesen bei der Jagd, entwickelt hatten. Von Vorformen abgesehen, liegen die Anfänge des abendländischen Lesens und Schreibens im Alten Orient: In Mesopotamien wurden seit etwa 7000 Jahren Zählsteine beziehungsweise symbolische Tonfigürchen verwendet. Aus deren abermals symbolischen Repräsentation entstand um 3300 v. Chr. die protosumerische Schrift. 1500-1000 v. Chr. entstand die semitische Silbenschrift, die im 8./9 Jahrhundert von den Griechen übernommen und modifiziert wurde.
Die Wörterschriften in Ägypten und Babylonien (ab etwa 3000 v. Chr.) beherrschten nur wenige, circa 1 % der Bevölkerung im Alten Reich, circa 5 %-7 % im Neuen Reich (1570-715 v. Chr.): Priester, Verwaltungsbeamte und Kaufleute. Die leichter lernbare griechische phonetische Schrift war dagegen schon im 7. und 6. Jahrhundert sozial allgemein verbreitet. Auch im Römischen Reich, v. a. in der Kaiserzeit, gehörten Schreiben und Lesen zu den alltäglichen Fähigkeiten. Das Lesen literarischer Texte war aber in der Frühzeit nur Hilfsmittel ohne eigenen Wert, das z. B. dem Memorieren für den Vortrag diente. Erst in hellenistischer Zeit entwickelte sich eine Kultur des individuellen Lesens. Wenn es nicht pragmatischen oder wissenschaftlichen, sondern ästhetischen Zwecken diente, geschah das Lesen in der Antike mit lauter Stimme (alta voce); diese Gewohnheit dauerte auch im Mittelalter an und wirkte teilweise bis in die Neuzeit fort, d. h. für bestimmte Gattungen (Lyrik, Dramen) beziehungsweise Gelegenheiten, während Prosa schon früh, Romane wohl von Anfang an »stumm« gelesen wurden. Literarische Texte nicht nur »mit den Augen«, sondern laut lesen zu können, galt in der Antike als die höher entwickelte Fähigkeit. Der Beschreibstoff Papyrus bedingte die Form der Rolle, die beim Lesen von rechts nach links abgewickelt wurde; der Text war in Kolumnen geschrieben, zunächst ohne Worttrennung und Interpunktion und erforderte so langsames Lesen. Im Laufe der Zeit, vom 2. bis zum 4./5. Jahrhundert, löste das Pergament den Papyrus ab. Das Pergament ermöglichte den Codex, die Form des heutigen Buches. Es dauerte jedoch bis ins 13. Jahrhundert, bis sich die heute geläufigen Konventionen der Seitenaufteilung (ordinatio paginae) etabliert hatten; z. B. setzte sich erst Anfang des 9. Jahrhunderts durch, zwischen den einzelnen Wörtern Zwischenräume zu lassen. Diese Konventionen waren die Voraussetzung für die neuzeitliche Weise des Buchlesens.
Die antike Lesekultur war im 5./6. Jahrhundert zu Ende. Bis ins 12. Jahrhundert bewahrten nur die Klöster Reste der Schriftkultur, die dadurch eng an die lateinische Sprache gebunden war (in den westeuropäischen römischen Provinzen sprach man jahrhundertelang viele Sprachen, aber nur Latein war schreibbar). Laien, auch Herrscher, konnten im hohen Mittelalter meist nicht lesen, in der höfischen Gesellschaft beherrschten die Kunst eher die Frauen als die Männer. Im 12./13. Jahrhundert traten die europäischen Sprachen in die Schriftlichkeit ein; aber erst im 16. Jahrhundert begann man in der Muttersprache lesen und schreiben zu lernen, ohne den Umweg über das Latein zu nehmen. Im 14./15. Jahrhundert wuchs die Zahl der Lesefähigen v. a. in den Städten, ihr Lesen beschränkte sich aber auf pragmatische und religiöse Texte. Die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Gutenberg um 1445/50 veränderte im historischen Moment das Lesen nicht sehr. (Gutenbergs Schriftbild orientierte sich an den Prachtwerken der Manuskriptkultur; andererseits waren die Flugblätter der Reformation oft Blockdruck, benutzten also die neuartige Technik gar nicht, und wer sie las, hatte nicht wegen Gutenbergs Erfindung lesen gelernt.) Auf lange Sicht freilich wurde dadurch Lesestoff viel leichter verfügbar.
Vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert lernte man (in ganz Europa) zuerst lesen; wenn man dies beherrschte, begann man schreiben zu lernen. Deshalb gab es in der Geschichte große Gruppen, die zwar mehr oder weniger flüssig lesen, aber nicht schreiben konnten. (Auch heute ist in den Industriestaaten die Zahl derjenigen, die nicht oder kaum schreiben können, etwa doppelt so hoch wie die Zahl derer, die nicht genügend lesen können.) Deshalb schätzt man heute den Anteil der Lesefähigen oft höher als in der älteren Forschung: im deutschen-sprachigen Raum betrug um 1500, bei erheblich mehr Lesefähigen, der Anteil der tatsächlichen regelmäßigen Leser circa 1 %-2 %, um 1600 maximal 2 %-4 %. Doch erlauben die großen regionalen Differenzen (je nach Konfession und wirtschaftlicher Entwicklung) fast keine Generalisierung: so reichen die regionalen Schätzungen für den Anteil der Lesefähigen für die Zeit um 1800 von 15 % bis fast 80 %. Die Zahl der regelmäßigen Leser war viel kleiner. Zwar hatten die Zeitungen, rechnet man wegen des Vorlesens 10 Leser beziehungsweise Hörer pro Exemplar, bereits um 1700 über 250 000, um 1800 circa 3 Mio. Rezipienten. Die Zahl der Belletristikleser war geringer; sie betrug im 17. und frühen 18. Jahrhundert nur wenige Tausend, auch zur Zeit der deutschen Klassik betrug sie kaum 1 % der Erwachsenen. Dennoch entstand im späten 18. Jahrhundert das heutige Lesepublikum; sein Anwachsen ließ die Zeitgenossen sogar von einer »Lesesucht« sprechen. Dieses neue Publikum wies bereits den bis heute gültigen Grundriss auf, dass nämlich - sieht man von professionellen Lesern ab - das Publikum der Belletristik v. a. aus Jugendlichen und Frauen bestand (und besteht). Männer lasen (und lesen) demgegenüber oft nur bis zum Eintritt ins Berufsleben Belletristik, danach oft fast nur noch Zeitung, Fach- und Sachliteratur. Zugleich entstanden auch qualitativ die modernen Formen des Lesens: Das Wiederholungslesen, bei dem man wenige Bücher immer wieder las, wurde abgelöst vom einmaligen Lesen immer neuer Texte. Das vormoderne exemplarische Lesen, das auf Belehrung und Erbauung zielte, wurde ersetzt durch ein literarisches Lesen, das seinen Wert in der Erlebnisqualität des Leseaktes selbst hat. Die Lesegesellschaften des 18. Jahrhunderts (die nur wenige Prozent der tatsächlich Lesenden erfassten) waren nur Männern zugänglich; hier las man Journale und Sachliteratur. Die Leihbüchereien, die ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert hatten, boten zunächst sowohl Belletristik wie Sachliteratur, im 19. Jahrhundert wurden sie zum Lieferanten von Belletristik schlechthin, da sie bis zu drei Vierteln der gesamten Belletristikproduktion aufnahmen und zirkulieren ließen.
Im 19. Jahrhundert wuchs das Lesepublikum erheblich, entsprechend den steigenden Quoten der Lesefähigkeit. Schenda nimmt für Mittel- und Westeuropa für 1830 eine Alphabetisierungsquote von 30 % der über sechs Jahre alten Bevölkerung an und eine Zunahme dieser Quote mit jeder Dekade um circa 10 %, bis zu einer nahezu völligen Alphabetisierung am Jahrhundertende. In der 2. Jahrhunderthälfte wirkten sich die technischen Innovationen der Papier- und Buchproduktion aus, sodass ein nach Schichten differenziertes Massenpublikum entstand: Das Bürgertum entwickelte eine am Bildungsbegriff orientierte normative Vorstellung von »Lesekultur«, seine realen Lesestoffe fand das Bürgertum wie das Kleinbürgertum aber in den Familien- und Unterhaltungszeitschriften wie der »Gartenlaube« und in Leihbibliotheksromanen, die Unterschichten in der Kolportage. In den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten öffentlichen Bibliotheken, die neben jetzt möglichen billigen Buchreihen die materiellen Barrieren für das Lesen abbauten.
Die gegenwärtige Situation
Seit Beginn der 50er-Jahre gibt es in Deutschland eine empirische Lese(r)forschung; in mehr als 40 empirischen Studien (von 1952 bis 2000) finden sich Aussagen über das Lesen. Über 20 Studien ermittelten, wieviele der Befragten jeweils in den letzten 4 Wochen mindestens ein Buch gelesen hatten: In den 50er- und frühen 60er-Jahren lag deren Anteil um 50 %, in den 70er- und frühen 80er-Jahren erreichte er 60 %; seither stagniert er und ist in den letzten Jahren rückläufig. Nach einer Studie der »Stiftung Lesen« 2000 greifen circa 41 % der Deutschen ab 14 Jahren mindestens einmal pro Woche zu einem Buch, 27 % seltener, 28 % nie (1992: 51%, 30%, 20%), wobei seit 1992 vor allem der Anteil der täglichen Buch-Leser von 16% auf 5% zurückgegangen ist. Dies betrifft besonders die Altersgruppe 14-29 Jahre.
Wie seit je führen in der Lesehäufigkeit die Frauen: 53 % der Frauen, aber nur 38 % der Männer lesen mindestens einmal pro Woche in einem Buch (1992: 53% zu 48%). Dieser Vorsprung geht darauf zurück, dass sie auch »Bücher zur Unterhaltung« lesen (46 % gegenüber 35 %). Bei »Büchern zur Weiterbildung, für den Beruf« führen die Männer (40 % gegenüber 27 %), ebenso bei »Büchern zur allgemeinen Information« (28 % gegenüber 20 %) und bei »Büchern für die persönlichen Interessen, Hobbys« (33 % gegenüber 27 %).
Von der aufgewandten Zeit her stieg das Lesen von Büchern zur Qualifizierung (Sach-/Fachbuch) von 1967 über 1992 bis 2000 von 65 über 152,6 auf 156 Minuten pro Woche. Das Lesen von Büchern zur Unterhaltung (Romane, Erzählungen, Gedichte) entwickelte sich von 127 über 163 auf 140 Minuten pro Woche (1967: nur alte Bundesrepublik Deutschland).
Lesen kann nicht mehr isoliert betrachtet werden; es geschieht in funktionalem Zusammenhang mit anderen Medien, indem sich die Menschen für den jeweiligen Zweck und entsprechend ihrer Funktionszuordnung ihren Medienmix zusammenstellen, wobei regelmäßige Leser auch hierbei größere Kompetenz zeigen. Die »Stiftung Lesen« ermittelte in der Studie 2000 für die einzelnen Medien folgende Nutzungsdauer pro Woche: 1133 Minuten Fernsehen (Männer 1124 / Frauen 1144), 219 Minuten Videorekorder (Männer 256 / Frauen 187), 700 Minuten Rundfunk (Männer 679 / Frauen 721), 253 Minuten CD, Kassetten usw. (Männer 269 / Frauen 240), 88 Minuten Computer online (Männer 125 / Frauen 56), 115 Minuten Computer offline (Männer 159 / Frauen 71), 270 Minuten Zeitung (Männer 274 / Frauen 266), 262 Minuten Zeitschriften oder Illustrierte (Männer 241 / Frauen 281), 156 Minuten Sach- und Fachbücher (Männer 175 / Frauen 142), 140 Minuten Belletristik (Männer 99 / Frauen 181). Die unterschiedlichen Funktionen, die Lesen für Frauen und Männer hat, führen zu unterschiedlichen Lesestoffen und Leseweisen. Auch zwischen den sozialen Gruppen bestehen wichtige Unterschiede: Lesen steigt mit Bildung und sozialer Schicht.
Perspektiven der Entwicklung in der (nahen) Zukunft
Die Polarisierung zwischen regelmäßigen Lesern, die immer mehr lesen und zugleich kompetentere Nutzer auch anderer Medien sind, und von Wenig- beziehungsweise Nichtlesern wächst. Die Geschlechterdifferenz ist im historischen Wandel stabil und verstärkt sich sogar. Der Einfluss von Bildung und sozialer Schicht auf das Lesen bleibt. Lesen zur Information und Qualifikation gewinnt gegenüber dem Belletristiklesen weiter an Bedeutung. Neue Medien etablieren sich nicht durch Verdrängung des Lesens innerhalb eines festen Zeitbudgets des Publikums, sondern durch Zunahme der Mediennutzungszeit insgesamt und der Sekundärtätigkeiten sowie in funktionaler Differenzierung. Literarisches Lesen verliert seine Prägung durch soziales Prestige und dient mehr individuellen Bedürfnissen. Der Charakter des Lesens wandelt sich zu einer instrumentellen, vor allem selektiveren Leseweise.
Literarische Sozialisation
Lesekultur ist stets bedroht und muss gefördert werden. Dabei ist für die Erziehung zum Lesen die »Verführung zum Lesen« als wirksamer erkannt worden als andere Formen der Einflussnahme. Lesefähigkeit wird in der Regel in den ersten Grundschuljahren erworben. Lesekompetenz bildet sich im Alter von 8 bis 14 Jahren; die Entwicklung spezieller, z. B. literarischer Kompetenzen ist Sache »lebenslangen Lernens«. Möglicherweise ist aber die Fähigkeit, kompetentes Lesen zu erlernen, bis zu einem gewissen Grad an eine prägsame Phase in der Hirnentwicklung gebunden, die gegen Ende des zweiten Lebensjahrzehnts beendet ist. Die Weichen für eine Biographie als Leser werden in der Kindheit gestellt, abhängig von sozialer Schicht und Bildung, stark geschlechtsspezifisch und bestimmt von den Instanzen Familie und Schule: Die Prägung, ob, wie intensiv und wie viel gelesen wird, erfolgt eher in der Familie, der Effekt der Schule liegt in der Regel darin, mit welcher Qualität (nach Leseobjekt und nach Leseweise) gelesen wird.
Biographische Höhepunkte der Bedeutung des Lesens liegen in Pubertät und Adoleszenz; dazwischen liegt ein entwicklungspsychologisch bedingter Einbruch, in dem weniger und eher »triviale« Literatur gelesen wird, die aber doch wegen ihrer emotionalen Erlebnisqualität wichtige Funktionen bei der Bewältigung alterstypischer »Entwicklungsaufgaben« hat (»Coping«). In den mittleren Lebensjahren vermindert sich die Bedeutung des Lesens. Nicht nur Lesen zur Qualifizierung, auch Lesen in der Freizeit geht mit dem Alter zurück: Bücher sind das Medium der Jungen, während mit zunehmendem Alter die Bedeutung der Zeitung, v. a. aber des Fernsehens zunimmt, das für alte Menschen von besonderer Bedeutung ist. Ob im Alter gelesen wird, hängt davon ab, ob auch während des ganzen Lebens Gewohnheiten regelmäßigen Lesens wenigstens rudimentär beibehalten wurden.
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
Analphabetismus · Bibliothek · Buch · Fernsehen · Multimedia · Schrift · Stiftung Lesen
R. Engelsing: Analphabetentum u. Lektüre (1973);
H. Aust: L. Überlegungen zum sprachl. Verstehen (1983);
A. Fritz u. A. Suess: L. Die Bedeutung der Kulturtechnik L. für den gesellschaftl. Kommunikationsprozeß (1986);
Der befragte Leser, hg. v. L. Muth (1993);
E. Schön: Zur aktuellen Situation des Lesens u. zur biograph. Entwicklung des Lesens bei Kindern u. Jugendlichen (1996);
Auf den Schultern von Gutenberg. Medienökolog. Perspektiven der Fernsehgesellschaft, hg. v. B. Franzmann u. a. (1994);
L. u. Schreiben im 17. u. 18. Jh., hg. v. P. Goetsch (1994);
U. Saxer u. a.: Kommunikationsverhalten u. Medien (21994);
Leseklima in der Familie, Beitrr. v. B. Hurrelmann u. a. (21995);
Leseerfahrungen u. Lesekarrieren, Beitrr. v. H. Bonfadelli u. a. (21995);
Histoires du livre, hg. v. H. E. Bödeker (ebd. 1995);
L. im Medienzeitalter, hg. v. C. Rosebrock (1995);
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1le|sen <st. V.; hat [mhd. lesen, ahd. lesan, urspr. = zusammentragen, sammeln: die Bedeutungsentwicklung zu „Geschriebenes lesen“ wohl nach lat. legere, ↑Lektion]: 1. a) etw. Geschriebenes, einen Text mit den Augen u. dem Verstand erfassen: laut, leise, schnell, langsam l.; l. lernen; das Kind kann schon l.; abends im Bett noch l.; etw. aufmerksam, nur flüchtig l.; viel l.; einen Satz zweimal l. müssen; die Zeitung, einen Roman, einen Bericht, die Post l.; das Kind neben ihr las ein Comicheft (Handke, Frau 26); ein Drama mit verteilten Rollen l.; etw. am schwarzen Brett l.; etw. in einem Buch l.; lange an einem Buch l.; in einem Buch l.; wo hast du das gelesen?; man konnte überall l., dass ...; Noten, eine Partitur l. (in Töne umsetzen, verstehen); Sie wird Autokarten l. (sich nach ihnen richten, orientieren) können (Schwaiger, Wie kommt 164); einen Autor [im Original] l.; ein Gesetz l. (Politik; vor dem Parlament beraten); Korrekturen, Fahnen l. (Druckw.; neu gesetzten Text auf seine Richtigkeit durchlesen); eine Messe l. (kath. Kirche; eine Messe halten, zelebrieren); seine Handschrift ist schlecht zu l. (zu entziffern); etw. nicht l. (entziffern) können; der Text ist so zu l. (verstehen, interpretieren), dass ...; hier ist zu l. (steht geschrieben), dass ...; ich habe darüber, davon gelesen; Seine eigene farblose Existenz war im Vergleich zu den Taten der Ritter, über die er las, unbedeutend und erbärmlich (Missildine [Übers.], Kind 278); <subst.:> bring dir was zum Lesen mit!; b) vorlesen, lesend vortragen: aus eigenen Werken l.; der Schriftsteller, die Autorin las eine Erzählung; c) eine Vorlesung halten: an der Heidelberger Universität, zweimal in der Woche l.; sie muss nur vier Stunden l.; er liest [über] neue Geschichte, [über] moderne Lyrik; d) <l. + sich> in einem bestimmten Stil geschrieben sein u. sich entsprechend lesen (1 a) lassen: das Buch liest sich leicht, flüssig, schwer; Fünf Jahre Fernstudium ...! So was liest sich bloß in der Zeitung schön (Brot und Salz 194); Seit wir dies wissen, liest sich sein Werk anders (Reich-Ranicki, Th. Mann 76); der Bericht las sich wie ein Roman; Hacks hat sich einmal über Erwin Strittmatters dramatische Versuche lustig gemacht; aber es liest sich wie eine Selbstkritik (Raddatz, Traditionen I, 429); e) <l. + sich> [unter Mühen] ein umfangreiches Werk bis zum Ende lesen (1 a): sich durch einen Roman l.; Ein Kleinbürgertum ... las sich hier durch Storm und Keller (Enzensberger, Einzelheiten I, 161). 2. etw. aus etw. erkennend entnehmen: aus jmds. Zeilen einen Vorwurf, gewisse Zweifel l.; Beate sah von einem zum anderen und las aus Hertlings Augen ein Mitleid, das sie schmerzte (M. L. Fischer, Kein Vogel 11); in seiner Miene konnte man die Verbitterung l.; aus seinem Blick, Gesicht war deutlich zu l., was er dachte; sie ... sah ihrem Besucher überrascht ins Gesicht, las darin die Verlegenheit eines ertappten Eindringlings und von seinen Lippen eine Entschuldigung (Ransmayr, Welt 193); der Genuss war ihm doch von der blanken und geröteten Miene zu l. (Th. Mann, Krull 23); in jmds. Augen l. (jmds. Blick zu deuten versuchen); Gedanken l. (erraten) können; sie liest in der Zukunft (versucht die Zukunft zu deuten; Sieburg, Robespierre 231). 3. (EDV) (vom Leser 2 ) Daten aus einem Datenspeicher od. -träger entnehmen.
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2le|sen <st. V.; hat [1↑lesen]: a) einzeln [sorgfältig] von etw. abnehmen, aufnehmen: Ähren, Beeren, Trauben l.; etw. vom Boden l.; Die Armen lasen ihr Brennholz im Walde (Th. Mann, Hoheit 24); sie las ihm die Wollspinne von dem Ärmel (Langgässer, Siegel 583); b) einzeln [sorgfältig] in die Hand nehmen u. Schlechtes dabei aussondern: Erbsen, Mandeln, Rosinen l.; Salat l. (schlechte od. die äußeren Blätter davon entfernen).
Universal-Lexikon. 2012.