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Privatisierung
Deregulierung; Liberalisierung

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Pri|va|ti|sie|rung 〈[ -va-] f. 20Überführung staatlicher Unternehmen in Privateigentum

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Pri|va|ti|sie|rung, die; -, -en (Wirtsch.):
das Privatisieren (1); das Privatisiertwerden.

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Privatisierung,
 
im weiteren Sinn die Verlagerung staatlicher Aktivitäten in den privaten Wirtschaftsbereich, im engeren Sinn die Überführung von Staatseigentum (v. a. öffentlicher Unternehmen) in Privateigentum (Privatisierung des Eigentums am Kapital) durch Verkauf von Beteiligungen über die Börse, durch Nichtbeteiligung des Staates an Kapitalerhöhungen oder durch direkte Eigentumsübertragung an einen privaten Erwerber. Im Falle der Privatisierung von einst durch Verstaatlichung entstandenem öffentlichen Eigentum spricht man von Reprivatisierung. Zuweilen wird unter Privatisierung auch die Übertragung von bisher durch den öffentlichen Sektor erstellten Leistungen (z. B. Abfallbeseitigung, Krankenhäuser, Postdienste) oder von der öffentlichen Verwaltung für den Eigenbedarf benötigten Hilfsdiensten (z. B. Gebäudereinigung, Instandhaltungsdienste) auf private Anbieter verstanden (Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen). Die Umwandlung öffentlicher Unternehmen von einer öffentlich-rechtlichen in eine private Rechtsform ohne Änderung der Eigentumsverhältnisse stellt im Gegensatz zur materiellen Privatisierung der Eigentumsrechte lediglich eine formale Privatisierung (Organisationsprivatisierung) dar. Ein solcher Rechtsformenwechsel kann eine Privatisierung vorbereiten.
 
Während die Jahre nach 1945 in Europa durch umfangreiche Verstaatlichungen von Unternehmen gekennzeichnet waren, liegt der Schwerpunkt seit Mitte der 70er-Jahre in der Privatisierung öffentlicher Unternehmen und der Aufhebung staatlicher Markteingriffe (Deregulierung). Impulse gingen von der in den USA durchgeführten Deregulierung sowie von den sich im Zuge von Branchenkrisen verstärkenden Defiziten zahlreicher öffentlicher Unternehmen (z. B. in der Stahl- und der Werftindustrie) aus. Hinzu trat in den letzten Jahren angesichts wachsender struktureller Defizite der öffentlichen Haushalte und im Vorfeld der Europäischen Währungsunion das Streben nach zusätzlichen Einnahmen. Eine Privatisierungsaufgabe in bisher nicht bekannter Dimension - die Privatisierung nahezu des gesamten wirtschaftlichen Potenzials - stand vor den Ländern Mittel- und Osteuropas beim Übergang von der Planwirtschaft zu marktwirtschaftlichen Strukturen.
 
 Wirtschaftswissenschaftliche und politische Aspekte
 
Privatisierungs- und Verstaatlichungsmaßnahmen werden nicht nur auf der Grundlage wirtschaftswissenschaftlicher Analysen getroffen, sondern sind in hohem Maße durch Ideologien, budgetpolitischen Notwendigkeiten und wahltaktischen Überlegungen bestimmt. Die Ursachen für die Entstehung eines größeren Bereiches öffentlicher Unternehmen in den meisten westlichen Demokratien reichen von dem fiskalischen Ziel der Mittelbeschaffung (Finanzmonopol) über die bewusste staatliche Einflussnahme auch bei »normalen« privaten Gütern aus verteidigungspolitischen Gründen, zur Sicherung »nationaler Interessen« gegen unerwünschte ausländische Einflüsse oder aus struktur- und regionalpolitischen Gründen bis zu Fällen allokativen Marktversagens wie dem Auftreten externer Effekte oder dem natürlichen Monopol. Für Entwicklungsländer spielen beschäftigungs- und sozialpolitische Ziele und die Sicherung der nationalen Unabhängigkeit eine besondere Rolle. Beim natürlichen Monopol (z. B. Wasser- und Elektrizitätsversorgung, Eisenbahn) bewirken sinkende Stückkosten (infolge hoher Fixkosten des Leitungs- oder Schienennetzes), dass die Produktion einer bestimmten Menge durch mehrere Unternehmen höhere Kosten verursachen würde als die Produktion durch ein Unternehmen; es wäre mithin ineffizient, wenn in einer Region zwei Anbieter nebeneinander operierten. Hohe Fix- und sinkende Stückkosten wirken zudem gegenüber potenziellen Wettbewerbern als Markteintrittsschranke und versetzen den natürlichen Monopolisten, sofern er nicht in seiner Preispolitik reguliert wird, in die Lage, die Verbraucher auszubeuten. Andererseits würde der natürliche Monopolist ohne staatliche Subventionierung nicht zu (wohlfahrtsoptimalen) Grenzkosten anbieten können, da bei sinkenden Stückkosten für jede Ausbringungsmenge die Stückkosten höher als die Grenzkosten sind und Grenzkostenpreise dementsprechend Verluste brächten. Aus einem solchen Marktversagen folgt allerdings nicht zwingend die Notwendigkeit staatlicher Produktion. Der Staat könnte auch die Produktion Privaten überlassen und auf staatlichen Auflagen hinsichtlich Versorgungsgrad und -dichte, Qualität und Preisgestaltung sowie gegebenenfalls auf Subventionen (zur Abgeltung positiver externer Effekte und bei natürlichen Monopolen zur Abdeckung der bei vorgeschriebenen Grenzkostenpreisen entstehenden Verluste) zurückgreifen. Hieraus folgt, dass unter bestimmten Bedingungen die reine Privatisierung eines öffentlichen Unternehmens nicht ausreicht, sondern nur ein öffentliches durch ein privates Monopol ersetzen würde, und dass eine Privatisierung öffentlicher Unternehmen in den »klassischen« Fällen des Marktversagens untrennbar mit einer anschließenden Regulierung der neuen privaten Anbieter (z. B. Netzbetreiber bei Eisenbahn oder Telekommunikation) verbunden sein kann. Privatisierung muss also nicht auf eine gleichzeitige Deregulierung des Marktes hinauslaufen, ebenso wenig wie wirtschaftspolitische Regulierung Hand in Hand gehen muss mit einem großen Bereich öffentlicher Unternehmen. In den letzten Jahren wurden in zahlreichen europäischen Ländern z. B. bei Eisenbahn und Telekommunikation Schritte eingeleitetet, die auf eine Trennung der Bereitstellung/Unterhaltung des Netzes (natürliches Monopol) und seiner Nutzung durch mehrere Wettbewerber sowie auf eine Regulierung der Preise für den Netzzugang hinauslaufen.
 
Die Frage, ob privatisiert werden soll, ist in einer Marktwirtschaft im Wesentlichen eine normative Frage, deren Beantwortung abhängt von den angewandten Kriterien und dem entsprechenden Wirtschaftsbereich. Als Argumente zugunsten einer Privatisierung werden v. a. angeführt: 1) Verringerung des Staatseinflusses (»Rückzug der öffentlichen Hand aus dem privatwirtschaftlichen Bereich«); 2) Steigerung der Produktionseffizienz durch Intensivierung des Wettbewerbs und Ausnutzung von Produktivitätsvorsprüngen privater Produzenten; 3) Entlastung des Staatshaushalts durch Kosteneinsparungen und Wegfall von Zuschüssen für defizitäre Staatsunternehmen; 4) Konsolidierung des öffentlichen Haushalts und Senkung der öffentlichen Schulden durch Privatisierungserlöse; 5) breitere Streuung des Eigentums am Produktivkapital durch Verbindung der Privatisierung mit vermögenspolitischen Maßnahmen und Ausgabe von Belegschaftsaktien. Tatsächlich haben Fallstudien ergeben, dass auf funktionsfähigen Märkten private Unternehmen effizienter und kostengünstiger arbeiten als öffentlicher Anbieter. Dies kann mit der Theorie des Staatsversagens dadurch erklärt werden, dass die spezifischen Verhaltensnormen, das System der Leistungsanreize u. a. ökonomische Bedingungen in öffentlichen Unternehmen eine ineffiziente Produktion begünstigen.
 
Dem Argument der höheren Produktionseffizienz wird vielfach entgegengehalten, dass Kostenvorteilen privater Anbieter Qualitätseinbußen im Leistungsangebot gegenüberstehen könnten (z. B. Versorgungslücken im Bereich Infrastruktur). Widerstand gegen eine Privatisierung resultiert vielfach daraus, dass sie mit Entlassung von Arbeitnehmern verbunden ist. Die Privatisierung zum vorrangigen Zweck der Mittelbeschaffung wird zu Recht als kurzfristige Augenblickslösung kritisiert, wenn dauerhafte (strukturelle) Budgetdefizite vorliegen; die zur Haushaltsfinanzierung eingesetzten Privatisierungserlöse bewirken dann lediglich einen Aufschub der Budgetkonsolidierung und des Schuldenabbaus.
 
Steht der vermögenspolitische Aspekt bei einer Privatisierung im Vordergrund, so ergibt sich ein Dilemma bei der Festsetzung des Ausgabekurses für die Anteile an dem neuen privaten Unternehmen: Um möglichst viele neue Aktiensparer in den unteren Einkommensklassen zu gewinnen, wird der Ausgabekurs oft bewusst niedrig angesetzt. Der Staat verzichtet damit auf mögliche Privatisierungserlöse. Kommt es dann unmittelbar nach Aufnahme des Börsenhandels zu einem entsprechenden Kursanstieg, so übt dies einen starken Anreiz auf die Kleinaktionäre aus, ihre Anteile wieder zu verkaufen. Um durch die Privatisierung eine breit gestreute Beteiligung privater Haushalte am Produktivkapital zu erreichen, wird daher zuweilen versucht, einer schnellen Wiederveräußerung durch »Treueprämien« entgegenzuwirken.
 
 Unternehmensprivatisierung in Deutschland
 
In der Bundesrepublik Deutschland wurde die Privatisierung öffentlicher Unternehmen v. a. vom Bund betrieben. Da nach 1945 keine umfassende Verstaatlichung stattgefunden hatte, war das Privatisierungspotenzial vergleichsweise gering, und die Privatisierungsmaßnahmen verliefen unspektakulärer als in anderen Ländern. Während in der ersten Privatisierungsperiode des Bundes (1959-65) die vermögenspolitische Absicht im Vordergrund stand (Ausgabe von Volksaktien in kleiner Stückelung, Beschränkung des Ersterwerbs auf Bezieher kleiner Einkommen und Festsetzung eines »sozialen« Ausgabekurses), wurde in der zweiten Phase (seit 1984) mehr der ordnungspolitische Aspekt (Rückzug des Staates, Wettbewerbsförderung) herausgestellt. Nach der vollständigen Veräußerung der Bundesanteile an den Industriekonzernen VEBA AG (1987), VIAG AG (1988), Volkswagen AG (1988), Salzgitter AG (1989) und Industrieverwaltungsgesellschaft (IVG; 1993) folgten als letzter Teil des früheren umfangreichen industriellen Bundesvermögens 1998 die Saarbergwerke AG. Die Deutsche Lufthansa AG wurde im Oktober 1997 durch Verkauf der verbliebenen Anteile des Bundes voll privatisiert. Eine zunächst lediglich formale Privatisierung der ehemaligen Sondervermögen Bahn und Post bedeutete die Überführung der Deutschen Bundesbahn und der Deutschen Reichsbahn in die Deutsche Bahn AG zum 1. 1. 1994 sowie die Schaffung von Deutscher Post AG, Deutscher Telekom AG und Deutscher Postbank AG zum 1. 1. 1995. Mit der zweiten Stufe der Bahnreform entstanden am 1. 6. 1999 durch Ausgliederung von Geschäftsbereichen aus dem Vermögen der Deutschen Bahn AG die Unternehmen DB Netz AG, DB Reise & Toristik AG, DB Regio AG, DB Cargo AG und DB Station & Service AG (Alleingesellschafter jeweils die Deutsche Bahn AG). Die dem Umfang nach bisher größte Privatisierungsmaßnahme war der Börsengang der Deutschen Telekom AG im November 1996; durch eine Kapitalerhöhung ohne Beteiligung des Bundes gelangten 26 % des Aktienkapitals der Telekom in private Hände. Weitere Privatisierungsschritte der Deutschen Telekom AG folgten 1997-2001, wobei sich der Bund zum Teil einer »Parklösung« bediente, indem er seine Anteile zunächst auf die Kreditanstalt für Wiederaufbau übertrug. Nach dem gleichen Verfahren erfolgte die erste Teilprivatisierung (28,8 %) der Deutscher Post AG 1999/2000; 2001 wurden die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, die Mehrheitsbeteiligung des Bundes an der Deutscher Post AG aus der Hand zu geben. Dem Verkauf der Bundesanteile an der Flughafen Hamburg GmbH (2000) schloss sich 2001 die Teilprivatisierung des Flughafens Frankfurt am Main (Fraport AG) durch Kapitalerhöhung ohne Bundesbeteiligung an. Der Rückzug des Bundes auch aus seinen übrigen Flughafenbeteiligungen (München, Berlin-Brandenburg, Köln-Bonn) ist geplant, während es für eine Beteiligung privaten Kapitals an der Deutschen Bahn AG derzeit keine konkreten Pläne gibt. Insgesamt erzielte der Bund 1990-2000 Privatisierungserlöse in Höhe von 38,3 Mrd. DM, davon flossen 800 Mio. DM an die Volkswagenstiftung und 2,5 Mrd. DM an die Deutsche Bundesstiftung Umwelt. Im Vergleich zum Bund haben sich die Länder und Gemeinden, die nach wie vor über ein großes Privatisierungspotenzial verfügen, bisher zurückgehalten (Erlöse der Länder aus der Veräußerung von Beteiligungen 1995-99 insgesamt 27,7 Mrd. DM). Bedeutendere Privatisierungsmaßnahmen der letzten Jahre waren der Verkauf von Landesanteilen an Stromversorgungsunternehmen (z. B. Bewag AG in Berlin und Hamburgische Electricitäts-Werke AG). Bei den Gemeinden kam es in jüngster Vergangenheit v. a. zu Privatisierungen der Stadtwerke.
 
Die Reprivatisierung des Staatseigentums der DDR (»volkseigenes Vermögen«) in den neuen Bundesländern war Kernaufgabe der Treuhandanstalt. Besonders umstritten waren dabei die Regelungen zu den entschädigungslosen Enteignungen zwischen 1945 und 1949 (offene Vermögensfragen). In der Zeit ihres Bestehens (1990-94) privatisierte die Treuhandanstalt rd. 15 000 Unternehmen und Betriebsteile (darunter rd. 3 000 Verkäufe an Beschäftigte, Management-Buy-out) sowie im Rahmen der »kleinen Privatisierung« rd. 25 000 Handelsgeschäfte, Gaststätten, Hotels usw. Hinzu kamen rd. 4 500 Reprivatisierungen (Rückgabe von Unternehmen beziehungsweise Betriebsteilen an Alteigentümer). Die Treuhand Liegenschafts GmbH verwertete 1991-96 mehr als 84 000 Immobilien (Verkauf oder Rückgabe an Alteigentümer); sie verfügte Ende 1996 noch über 60 000 Immobilien, darunter 26 000 Wohnungsobjekte mit mehr als 67 000 Einheiten. Bei der Regelung der Altschulden wurde den kommunalen Wohnungsunternehmen und Wohnungsgenossenschaften ein Teil der Schulden unter der Bedingung erlassen, dass sie bis zum Jahr 2003 etwa 330 000 Wohnungen (rd. 15 % ihres Bestandes) verkaufen.
 
 Privatisierung der Infrastruktur
 
Vor dem Hintergrund knapper öffentlicher Mittel verstärkten sich in den letzten Jahren Überlegungen, bei der notwendigen Erneuerung und dem Ausbau der Infrastruktur (auf kommunaler Ebene v. a. die Abwasserentsorgung, auf staatlicher Ebene v. a. der Verkehrsbereich) staatliche durch private Aktivitäten zu ersetzen. Diskutiert werden im Wesentlichen drei Varianten einer Privatisierung der Verkehrsinfrastruktur: 1) Beim Betreibermodell erfolgen Erstellung, Finanzierung und Betrieb durch private Wirtschaftsobjekte, die ein Nutzungsentgelt für »ihre« Straße (z. B. streckenbezogene Maut) erheben. Diese weitestgehende Privatisierungsvariante führt zu einer echten Entlastung der öffentlichen Haushalte, wirft aber zugleich rechtliche Probleme auf, da eine gleichzeitige Erhebung von zeit- und streckenbezogenen Straßenbenutzungsentgelten nach EG-Recht nicht zulässig ist und der deutsche Staat seit 1995 bereits eine zeitbezogene Fernstraßenbenutzungsgebühr für Lkw (»Euro-Vignette«, Straßenverkehrsabgaben) erhebt. Das Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetz vom 30. 8. 1994 ermöglicht die Anwendung des Betreibermodells in erster Linie für Brücken, Tunnel und Gebirgspässe im Zuge von Bundesautobahnen und -straßen. 2) Beim Leasingmodell finanziert und errichtet ein privates Konsortium das Infrastrukturprojekt. Es wird Eigentümer auf Zeit und vermietet die neue Einrichtung für diese Zeit an die öffentliche Hand (Leasingnehmer) gegen Zahlung einer festen jährlichen Leasingrate. Diese Privatisierungsvariante bedeutet keine echte Haushaltsentlastung, sondern lediglich eine Vorfinanzierung. Umstritten ist, ob dies nicht als Kreditaufnahme (und insofern als Verstoß gegen die Haushaltsgrundsätze der Klarheit und Wahrheit) zu werten ist und ob es sich wirklich um eine günstigere Finanzierungsform als die Kreditaufnahme handelt. 3) Beim Konzessionsmodell liegen lediglich Erstellung und (Vor-)Finanzierung in privater Hand. Nach Fertigstellung geht das Objekt an den Staat über, der über einen vorab vereinbarten Zeitraum die Bau- und Finanzierungskosten ratenweise erstattet. Nach dem Konzessionsmodell werden gegenwärtig (2000) 27 Bundesfernstraßenprojekte sowie die neue Hochgeschwindigkeitsschienenstrecke Nürnberg-Ingolstadt-München finanziert. Für insgesamt 11 Projekte von Bund und Ländern ist eine Realisierung als Betreibermodell geplant. Zwei weitere Projekte werden als Betreibermodell in der Baulast der Gemeinden durchgeführt: Warnow-Querung (Rostock) und Travequerung (Lübeck).
 
 Privatisierung in anderen Ländern
 
In Österreich waren durch die Verstaatlichungsgesetze vom 26. 7. 1946 und 26. 3. 1947 große Teile der Industrie sowie die drei größten Kreditinstitute und die Elektrizitätswirtschaft gegen spätere Entschädigung der bisherigen Eigentümer in Staatseigentum überführt worden. Die Anteilsrechte an den meisten verstaatlichten Industrieunternehmen liegen bei der Österreichischen Industrieholding AG (ÖIAG). Die Österreichische Elektrizitätswirtschafts-AG (Verbundgesellschaft) verwaltet die Bundesbeteiligungen an der Elektrizitätswirtschaft. Im internationalen Vergleich machte die Privatisierungstätigkeit in Österreich bisher nur geringe Fortschritte, zahlreiche Vorhaben wurden mehrfach verschoben oder aufgehoben, zum Teil gingen die staatlichen Anteile durch Verkauf lediglich an andere Unternehmen der öffentlichen Hand über. Bis in die jüngste Zeit fanden Privatisierungspläne und -Maßnahmen ihre Grenze an dem erklärten Prinzip, dass der Bund 51 % der Anteile in seiner Hand behalten müsse. (Teil-)Privatisierungen wurden seit 1987 durchgeführt bei der Österreichischen Mineralölverwaltung (ÖMV), der Österreichischen Elektrizitätswirtschafts-AG (Verbundgesellschaft), der Luftverkehrsgesellschaft Austrian Airlines, der Flughafen Wien AG, der Großbank Creditanstalt-Bankverein AG, der Bank Austria AG, dem Dorotheum und der Staatsdruckerei. Durch das Poststrukturgesetz von 1996 wurde die Post- und Telekommunikations- Beteiligungsverwaltungsgesellschaft GmbH (PTBG) gebildet, die Alleineigentümerin der Aktien der Post & Telekom Austria AG (PTA) wurde. 1998 wurde der Telekommunikationsbereich der PTA als Telekom Austria AG rechtlich verselbstständigt (Veräußerung von 25 % der Anteile plus 1 Aktie). Der Postsparkassenbereich wurde 1997 als Österreichische Postsparkasse AG (P. S. K.) ebenfalls verselbstständigt. Die PTGB als Eigentümerin wurde ermächtigt, bis zu 49 % der Aktien zu veräußern; inzwischen ist eine Vollprivatisierung der P. S. K. geplant. In Vorbereitung auf eine neue Privatisierungsrunde wurden dann durch Gesetz vom 26. 4. 2000 PTBG und PTA mit der ÖIAG verschmolzen und die ÖIAG mit umfangreichen Privatisierungsmaßnahmen beauftragt.
 
In der Schweiz spielt die Privatisierung wegen des geringen Umfangs an staatliche Unternehmen nur eine untergeordnete Rolle. Ein 1996 eingebrachtes Gesetz sieht die formale Privatisierung der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) durch Umwandlung in eine AG für 1998 vor, eine materielle Privatisierung der SBB ist nicht geplant.
 
Die umfangreichsten Privatisierungen öffentlicher Unternehmen in Europa fanden in Großbritannien statt, wo nach den Verstaatlichungen der Nachkriegszeit ein entsprechend großes Privatisierungspotenzial bestand. Seit Beginn der 80er-Jahre wurden mehr als 50 staatliche Unternehmen privatisiert, darunter British Petroleum Company p. l. c., British Gas, British Telecom, Rolls Royce Co., British Airways, British Aerospace PLC, die Wasser- und Stromversorgung sowie der umfangreiche Bestand an Sozialwohnungen. Eine der letzten Maßnahmen stellte die Privatisierung der Eisenbahn (British Rail) dar: Das rollende Material wurde von der neu geschaffenen privaten Rolling Stock Companies übernommen, die Wagen und Lokomotiven an vom Staat konzessionierte private Eisenbahnbetriebsgesellschaften vermietet. Das Schienennetz und die Bahnhöfe gehören der 1996 privatisierten Gesellschaft Railtrack und werden den Konzessionären gegen Entgelt überlassen. Unzureichende Investitionen führten in den letzten Jahren zu einer rapiden Verschlechterung der Bahn-Infrastruktur. Im Oktober 2001 kam es zur Insolvenz von Railtrack, und die Gesellschaft wurde bis zur Sanierung unter staatliche Zwangsaufsicht gestellt.
 
In Frankreich wurden vorgesehene Privatisierungsmaßnahmen in den letzten zehn Jahren wiederholt revidiert. Probleme bereitete v. a. die Unterkapitalisierung verschiedener Privatisierungskandidaten, die vor einer Privatisierung zunächst erhebliche staatliche Kapitalhilfen erfordert hätte. 1996 wurde die Teilprivatisierung des Versicherungsunternehmens Assurances Générales de France (AGF) realisiert, der Plan einer Privatisierung der Air France wurde 1997 aufgegeben. Die bereits eingeleitete Teilprivatisierung des staatlichen Telekommunikationsunternehmes France-Télécom war im Juni 1997 zunächst abgebrochen worden, soll aber durchgeführt werden. Unter dem Druck der Haushaltsdefizite sind ferner geplant die Privatisierung des hoch subventionierten Versicherungsunternehmens Groupe des Assurances Nationales, der Bankengruppe Crédit Industriel et Commercial sowie eine Verringerung des Staatsanteils am Elektronikkonzern Thomson S. A.
 
 Privatisierung und Systemwandel
 
Eine besondere Rolle spielt die Privatisierung im Rahmen der Transformation zur Marktwirtschaft in den ehemaligen Planwirtschaften Mittel- und Osteuropas. Während das freie Spiel von Angebot und Nachfrage auf Märkten durch Freigabe der Preisbildung relativ einfach sichergestellt werden kann, ist die Schaffung von Privateigentum an Produktionsmitteln durch Privatisierung der umfangreichen Staatswirtschaft weitaus schwieriger: 1) Es fehlen funktionsfähige Kapitalmärkte und ein differenziertes Bankensystem. 2) Die tatsächlichen Verfügungsrechte an den Staatsbetrieben sind zum Teil umstritten, weil es (v. a. in Polen und Ungarn) nach dem Ende der zentralen Lenkung und Überwachung noch vor einer entsprechenden Gesetzgebung vielfach zu »spontanen« Privatisierung durch die alten Unternehmensleitungen oder die Belegschaften gekommen war. 3) Die inländischen Ersparnisse sind für eine Finanzierung der Übernahme der zahlreichen Staatsbetriebe zu gering, sodass man auf ausländisches Kapital angewiesen ist. Eine unmittelbare Übernahme durch ausländische Erwerber könnte jedoch Widerstände der Bevölkerung gegen einen »Ausverkauf des Volksvermögens« hervorrufen. 4) Es besteht ein Defizit an qualifizierten Managern.
 
Zu den vielfältigen wirtschaftspolitischen Zielen der Privatisierungsbemühungen gehören nicht nur die rasche Wiederherstellung des Privateigentums (ordnungspolitisches Ziel), die Verringerung der Haushaltsdefizite und eine gerechte Verteilung des Produktivvermögens (verteilungspolitisches Ziel), sondern gleichzeitig auch eine schnelle Effizienzsteigerung der Wirtschaft und damit eine Verringerung des Wohlstandsgefälles gegenüber Westeuropa, die Sicherstellung der Investitionskraft der Wirtschaft durch Kapitalimport und Mobilisierung inländischer Ersparnisse sowie die Förderung des Imports neuer Technologien durch Engagement westlicher Unternehmen und der Abbau der Auslandsschulden. Mit Rücksicht auf die spezifischen Probleme der inländischen Spar- und Kapitallücke und der Akzeptanz in der Bevölkerung wurde bei der Privatisierung des Industrievermögens neben dem betriebsinternen Verkauf (Belegschaftsaktien, Management-Buy-out) und der Veräußerung an In- und Ausländer in mehreren Staaten (z. B. Tschechoslowakei beziehungsweise Tschechische Republik [seit 1991], Rumänien und Russland [seit 1992], Polen [1994], Ukraine [1995], Bulgarien [1996]) auf das Verfahren der unentgeltlichen oder stark verbilligten Vergabe mithilfe von Privatisierungsgutscheinen (Privatisierungskupons, -Schecks, -Vouchers) zurückgegriffen. Danach erhalten die Bürger (gratis beziehungsweise gegen geringe Gebühr) Gutscheine mit einem bestimmten Nennwert, die sie zum Erwerb von Anteilen an Unternehmen ihrer Wahl oder für indirekte Beteiligungen über den Erwerb von Anteilen an Investmentfonds verwenden können. Das Verfahren führt freilich zunächst kaum zum Zufluss neuen Kapitals in die Unternehmen, ermöglicht aber eine relativ schnelle Privatisierung im Sinne der Schaffung einer Eigentumsordnung.
 
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
 
Eigentum · Enteignung · Finanzpolitik · Marktwirtschaft · Strukturpolitik · Vermögensbildung
 
Literatur:
 
P. u. Deregulierung öffentl. Unternehmen in westeurop. Ländern, hg. v. F. Schneider u. a. (Wien 1990);
 A. Wellenstein: Privatisierungspolitik in der Bundesrep. Dtl. (1992);
 U. Scheele: P. von Infrastruktur (1993);
 
Privatisierungsstrategien im Systemvergleich, hg. v. H. J. Thieme (1993);
 
Privatization and economic reform in Central Europe, hg. v. D. A. Rondinelli (1994);
 H. Rehm: Neue Wege zur Finanzierung öffentl. Investitionen (1994);
 
Verkehrswegerecht im Wandel, hg. v. W. Blümel (1994);
 S. Spelthahn: P. natürl. Monopole. Theorie u. internat. Praxis am Beispiel Wasser u. Abwasser (1994);
 A. Bucher: P. von Bundesfernstraßen (1996);
 M. Kolodziej: Die private Finanzierung von Infrastruktur (1996);
 
P. auf kantonaler u. kommunaler Ebene. Fallbeispiele aus dem Kanton Bern, bearb. v. R. E. Leu u. a. (Bern 21997);
 S. Martin u. D. Parker: The impact of privatization. Ownership and corporate performance in the UK (London 1997);
 J. A. Kämmerer: Privatisierung. Typologie - Determinanten - Rechtspraxis - Folgen (2001);
 c. Gramm: Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben (2001);
 
Öffentliche Unternehmen. Entstaatlichung und Privatisierung? (2001);
 S. Kehr: Die Bedeutung der Corporate governance für den Transformationsprozess in Osteuropa. Eine Analys am Beispiel der Voucher-Privatisierung in Polen, Tschechien und Russland (2000);
 M. Schaffhauser-Linzatti: Ökonomische Konsequenzen der Privatisierung (2000).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Privatisierung: Grundzüge
 

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Pri|va|ti|sie|rung, die; -, -en (Wirtsch.): das Privatisieren (1), Privatisiertwerden: die P. der Bundesbahn; Albrecht, der Mitglieder seines Kabinetts beauftragt habe, öffentliche Dienstleistungen auf eine mögliche P. zu untersuchen (Saarbr. Zeitung 1. 12. 79, 31).

Universal-Lexikon. 2012.