Indien: Indien unter britischer Herrschaft
Die Etablierung des britisch-indischen Reiches
Als Indien 1858 nach der Niederschlagung des großen Aufstands indischer Soldaten der Herrschaft der britischen Krone unterstellt wurde, war die konstitutionelle Monarchie konsolidiert und niemand befürchtete, dass Königin Viktoria ihren Machtzuwachs dazu nutzen konnte, die parlamentarische Demokratie auszuhebeln. Solche Befürchtungen hatten ja dazu geführt, dass die britischen Eroberungen in Indien nicht bereits 1765 der Krone unterstellt, sondern im Besitz der Ostindischen Kompanie belassen worden waren. In Großbritannien waren die Bevölkerung und das Sozialprodukt seitdem enorm gewachsen. Der Tribut Indiens hatte nun in seinem Verhältnis zur britischen Wirtschaftsmacht keine übermäßige Bedeutung mehr. Zudem war unmittelbar nach dem Aufstand von Indien ohnehin nicht viel zu erwarten.
Der Ausbau des imperialen Staates
Königin Viktoria begrüßte ihre indischen Untertanen mit einer großzügigen Proklamation, in der sie ihnen die gleichen Chancen wie ihren anderen Untertanen garantierte. Die Einlösung dieses Versprechens erwies sich freilich als problematisch. Insbesondere die Aufnahme von Indern in den britisch-indischen Elitebeamtendienst (Indian Civil Service) wurde so erschwert, dass nur sehr wenige Inder die Hürden, die ihre Aufnahme in den Dienst praktisch verhindern sollten, überwinden konnten. Die Briten waren als Kolonialherren eben lieber unter sich.
Der imperiale Staat wurde unter dem neuen Regime ausgebaut. Der Generalgouverneur erhielt den Titel Vizekönig. Ihm wurde mit dem Imperial Legislative Council ein Gremium beigegeben, in dem von ihm ernannte indische Honoratioren an der Gesetzgebung mitwirken durften, auch dies eine Neuerung, da es zuvor keine Gesetze, sondern nur Verordnungen gegeben hatte. Außerdem wurden Oberlandesgerichte (High Courts) eingerichtet, in denen auch indische Richter zu hohen Funktionen aufsteigen durften. Ferner wurden die Universitäten Bombay, Kalkutta und Madras gegründet, die jedoch zunächst reine Prüfungsbehörden waren. Selbst die Colleges von Lahore im Pandschab gehörten zum Zuständigkeitsbereich der Universität Kalkutta, um nur ein Beispiel zu nennen.
Den Schlussstein des neuen imperialen Staatsgebäudes bildete die Krönung Viktorias zur Kaiserin von Indien (Kaisar-i-Hind) im Jahre 1876. Sie reiste zwar nicht selbst nach Indien, aber dort wurde ein imperialer Durbar, eine große öffentliche Audienz, abgehalten, zu dem sich alle indischen Fürsten versammelten. Man knüpfte damit an die Tradition der Großmoguln an. Nach der Erschütterung durch den Aufstand glaubten die Kolonialherren auf diese Weise eine neue Loyalitätstradition stiften zu können. Viktoria nahm ihre neue Aufgabe sehr ernst. Sie lernte Hindi, hatte einen indischen Privatsekretär und lud den in Oxford lehrenden deutschen Indologen Friedrich Max Müller zu Privatvorlesungen in ihren Palast ein.
Indiens Integration in den Weltmarkt
Die innere Konsolidierung des britisch-indischen Reichs machte im späten 19. Jahrhundert rasche Fortschritte. Die systematische Grundsteuerveranlagung durchdrang das ganze Land. Der Vermarktungsdruck und die Verschuldung der Bauern nahmen auf diese Weise zu. Indische Geldleiher profitierten vom gläubigerfreundlichen britischen Recht, Grundherren beuteten ihre Pächter aus. Die Briten versuchten dem entgegenzuwirken, indem sie Pächterschutzgesetze erließen, um so die soziale Basis der Kolonialherrschaft zu erweitern. Britische Gerichtshöfe, die hohe Gerichtsgebühren kassierten, standen überall zur Verfügung. Das Justizwesen warf so auch ein zusätzliches Einkommen für den Staat ab. Damit wuchs aber auch eine Schicht indischer Rechtsanwälte, die zu kritischen und redegewandten Staatsbürgern wurden.
Die Eisenbahn und der Telegraf verbreiteten sich rasch im ganzen Land. Der Dampfschiffverkehr durch den Suezkanal verkürzte den Seeweg und senkte die Frachtkosten. Damit wurden aber auch der Import der Industrieprodukte aus Großbritannien und der Export indischer Agrarprodukte gefördert. Indien wurde in den Weltmarkt integriert, aber nicht als selbstständiger Wirtschaftspartner, sondern als abhängige Kolonie. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde selbst während Hungersnöten noch Weizen aus Indien exportiert.
Der Amerikanische Bürgerkrieg zwang die britische Baumwollindustrie auf indische Baumwolle zurückzugreifen, deren Anbau daher vorangetrieben wurde. Als dann die amerikanische Baumwolle wieder als Konkurrent auf dem Weltmarkt auftauchte, brach der indische Baumwollmarkt zusammen, aber dafür profitierte die junge indische Textilindustrie von den billigen Rohstoffpreisen und war in der Lage, sich Nischen zu erobern, in denen sie sich gegen die britische Konkurrenz durchsetzen konnte. Dazu gehörte nicht nur die Produktion großer Tuche für den indischen Binnenmarkt, sondern auch der Export von Garn nach Ostasien.
Im Zuge des wachsenden Export- und Importhandels nahm die Bedeutung der Zölle für den Fiskus zu, während die Staatsfinanzen zuvor hauptsächlich auf die Einkünfte aus der Grundsteuer, der Salzsteuer und dem Opiummonopol angewiesen waren. Um die home charges (Schuldendienst, Pensionen, Kosten des Indienministeriums in London) zu zahlen, musste Indien immer einen Exportüberschuss haben. Durch eine Manipulation der Währungspolitik sorgten die Kolonialherren dafür, dass ihre Rechnung auch unter sich jeweils ändernden Bedingungen immer wieder stimmte.
Zu den anderen Belastungen des indischen Steuerzahlers kam im späten 19. Jahrhundert das rasche Anwachsen des britisch-indischen Militärbudgets hinzu. War schon Indien selbst auf Kosten des indischen Steuerzahlers erobert worden, so sollte er nun auch die imperiale Expansion unterstützen, die im Schatten der pax Britannica große Fortschritte machte.
Grenzsicherung — Afghanistan und Birma
Das Nahziel der imperialen Expansion war zunächst einmal Afghanistan. Dort wollte man sich gegen das russische Vordringen in Mittelasien sichern und einen abhängigen Pufferstaat etablieren. Afghanistan war jedoch in jeder Hinsicht ein schwieriges Terrain, wie die Sowjetunion hundert Jahre später erfahren sollte, als sie das tat, was die Briten in ihrem 2. Afghanischen Krieg versuchten, der 1880 mit einer Niederlage der britisch-indischen Truppen und einem schmählichen Rückzug endete. Der konservative Vizekönig Lord Lytton, der diesen Krieg zu verantworten hatte, wurde abberufen und durch den liberalen Lord Ripon ersetzt. Dieser afghanische Krieg war zum Thema des britischen Wahlkampfs geworden. Und so war der Sieg des liberalen Premierministers William Gladstone zu einem beträchtlichen Teil dieser Tatsache zuzuschreiben. Weder vorher noch nachher wurden die Angelegenheiten des indischen Imperiums je wieder zum Wahlkampfthema. Vielmehr wurde die imperiale Politik von der britischen politischen Elite sonst stets aus den innenpolitischen Auseinandersetzungen herausgehalten. Da der britische Steuerzahler von den Kosten für die Expansion des Imperiums kaum betroffen war, hatte das Parlament denn auch keinen Anlass, sich damit zu beschäftigen.
An der anderen Flanke Britisch-Indiens hatten die imperialen Expansionisten mehr Erfolg. Dort ging es um die Annexion von Birma (Myanmar), die in mehreren blutigen Kriegen vorangetrieben wurde. Der erste Krieg fand 1824 bis 1826 statt und war eine Reaktion der Ostindischen Kompanie auf das Vordringen der birmanischen Königsmacht in Gebiete, die sie als ihre Einflusssphäre betrachtete. Er endete mit nur geringen territorialen Gewinnen für die Briten. Birma hatte im Wesentlichen seine Position behaupten können. Im zweiten Krieg 1852 verlor Birma die fruchtbare Reisebene des Südens, die unter britischer Herrschaft zum wichtigsten Reisexportgebiet Asiens wurde. Grundsteuer, Kopfsteuer und Reisexportsteuer brachten der britisch-indischen Regierung viel Geld ein. Dem König von Birma verblieb nur noch der nördliche Landesteil, in dem britische Firmen mit dem Abholzen der Teakwälder gute Geschäfte machten. Als Frankreich seine Position in Indochina konsolidierte und von dort aus nach Westen vordrang, sah sich der Vizekönig Lord Dufferin dazu veranlasst, den Rest Birmas 1885/86 in einem Blitzkrieg zu annektieren. Doch war der Krieg auch kurz gewesen, so waren danach die Befriedungs- und Besatzungskosten sehr hoch und zwangen die britisch-indische Regierung zur Auflösung ihres Hungersnotreservefonds und zur Erhöhung der Salzsteuer.
Die dem indischen Steuerzahler aufgebürdeten Militärkosten wuchsen auch noch durch andere Unternehmungen, so etwa durch den Einsatz indischer Truppen bei der Eroberung Ägyptens und des Sudan und durch die »Vorwärts«-Politik an der indischen Nordwestgrenze, wo die Unterwerfung kriegerischer Stämme viel Zeit und Geld kostete. Ihren Höhepunkt erreichte die Expansionspolitik unter dem Vizekönig Lord Curzon, der unter anderem auch Tibet durch die Expedition von 1903/04 der britischen Einflusssphäre sicherte.
Der Erste Weltkrieg rückte dann ganz andere Konfliktfelder ins Rampenlicht der Weltpolitik und setzte dem Zeitalter der imperialen Expansion in Asien ein Ende. Nach dem Krieg hatte das stark angeschlagene Großbritannien in erster Linie damit zu tun, den Besitzstand zu verteidigen. Dabei fand es sich mehr und mehr von den indischen Nationalisten bedrängt, die sich bereits im 19. Jahrhundert organisiert, aber bisher nur Verfassungsfortschritte gefordert hatten.
Die Eisenbahn und das Bildungswesen sowie die Verbreitung indischer Zeitungen hatten viel dazu beigetragen, dass die nationale Kommunikation die weiten Entfernungen im britisch-indischen Reich überwinden konnte. Die Kolonialherren regierten autokratisch, aber in den Colleges konnten die jungen Inder von britischen Lehrern etwas über die Ideen der britischen Philosophen John Stuart Mill oder Herbert Spencer erfahren. Einer der ersten indischen Nationalisten, der Parse Dadabhai Naoroji, der als erster Inder ins britische Parlament einzog, nachdem er als Kandidat der Liberalen Partei den Wahlkreis Finsbury erobert hatte, veröffentlichte 1901 ein Buch mit dem Titel »Armut und unbritische Herrschaft in Indien« (»Poverty and un-British rule in India«), in dem er die Praxis der Kolonialherren mit den Maßstäben des britischen Liberalismus maß. Das war typisch für die Geisteshaltung der meisten indischen Nationalisten dieser Zeit. Naorojis Buch war aber auch ein Zeugnis des ökonomischen Nationalismus. Er kritisierte den »Abfluss des Reichtums« (drain of wealth) aus Indien — und diese Formel war bald in aller Munde.
Hindus und Muslime
Neben dem politischen und dem ökonomischen Nationalismus wuchs auch der kulturelle Nationalstolz heran. Unter den Hindus kam ein nationaler Solidaritätstraditionalismus auf, der dazu dienen sollte, Kastenschranken zu überwinden und die Eigenständigkeit gegenüber der Kolonialherrschaft zu betonen. Der Monismus der indischen Philosophie, nach dem Gott und die Erscheinungswelt identisch sind, wurde in diesem Sinne umgedeutet. Swami Vivekananda wurde zum Apostel dieser erneuerten Vedantaphilosophie, auf deren Grundlage er von der Einheit und Wahrheit aller Religionen sprach. Sein Erfolg auf dem Weltkongress der Religionen in Chicago (1893) verlieh ihm auch in Indien großes Ansehen. Viele Briten hatten auf die Religion der Hindus herabgesehen und sie als heidnischen Aberglauben abgetan; deshalb waren Erfolge wie die Vivekanandas für die indische Selbstachtung sehr bedeutsam. Auch wurde der Mythos der Muttergöttin dazu verwendet, »Mutter India« (Bharat Mata) zu feiern. Der bengalische Dichter Bankimcandra Chatterjee schuf das Gedicht »Verneige dich vor der Mutter« (Bande Mataram), das zur informellen Nationalhymne wurde. Nicht nur in Bengalen, sondern auch in Maharashtra kam es zu einer literarischen Renaissance; schließlich wurden auch andere Sprachprovinzen nach und nach in dieses nationale Erwachen einbezogen. So hatte in Nordindien die von Swami Dayananda gegründete Reformbewegung des Aryasamaj großen Einfluss.
Die Muslime konnten die geistigen Strömungen des neuen Hinduismus nicht begeistern; sie fühlten sich ausgegrenzt oder gar in ihrer islamischen Identität bedroht. Sie schufen sich ihre eigenen Organisationen wie die von Nawab Abdul Latif in Kalkutta gegründete Muhammadan Literary Society, in der sich die Urdu und Persisch sprechende städtische Muslimelite traf und nicht nur literarische, sondern auch naturwissenschaftliche Fragen diskutierte. Ähnliche Aktivitäten entfaltete Sayyid Ahmad Khan in Nordindien. Er wurde schließlich zum Gründer der Aligarh Muslim University. Diesem Beispiel folgte Pandit Madan Mohan Malaviya, der wenige Jahre später die Banaras Hindu University gründete.
Forderung nach Reformen
Bei der Gründung des Indischen Nationalkongresses, der sich zum ersten Mal 1885 in Bombay traf, war man allerdings noch davon überzeugt, dass Hindus und Muslime sich für einen gemeinsamen politischen Fortschritt einsetzen könnten. Diese erste Sitzung wurde von rund hundert Delegierten aus allen Teilen Indiens besucht. Darunter waren auch etliche Muslime. Unter den Resolutionen, die der Nationalkongress verabschiedete, war auch eine, in der die Annexion Oberbirmas gerügt und gefordert wurde, dass es auf alle Fälle separat verwaltet und nicht Britisch-Indien hinzugefügt werden solle. Die Delegierten sahen schon voraus, welche Kosten da vom indischen Steuerzahler getragen werden sollten. Sie betonten außerdem, dass die indische Nation die imperiale Expansion nicht billige und mit ihren Nachbarn in Frieden leben wolle. Der Vizekönig Lord Dufferin, der die Gründung des Nationalkongresses zunächst wohlwollend geduldet hatte, entzog ihm darauf sein Wohlwollen und verfügte, dass sich in Zukunft kein Inder in britischen Diensten an den Sitzungen beteiligen dürfe.
Der vizekönigliche Zorn tat dem Nationalkongress keinen Abbruch. Die nächste Sitzung fand mit weit größerer Beteiligung in Kalkutta statt. Dort hätte eigentlich schon die erste Sitzung stattfinden sollen, Bombay war Kalkutta nur um eine Nasenlänge zuvorgekommen. In den folgenden Jahren wanderte der Nationalkongress durch alle größeren Städte Indiens. Die Resolutionen blieben im Rahmen eines liberalen Konstitutionalismus. Man forderte eine Erweiterung der gesetzgebenden Gremien und die Beteiligung gewählter indischer Abgeordneter. Daneben wurde das alte Thema der Behinderung des Zugangs von Indern zum Indian Civil Service immer wieder aufgenommen.
Nach der jeweiligen Kongresssitzung traf sich immer die Indian National Social Conference, deren führender Kopf der Richter Mahadey Govind Ranade war. Da er in britischen Diensten stand, durfte er dem Nationalkongress nicht angehören, aber gegen das Treffen der Sozialreformer gab es keine offiziellen Einwände. Diesen Reformern ging es um die Abschaffung der Kinderheirat und die Wiederverheiratung von Witwen und andere Probleme der alten patriarchalischen Sozialordnung der Hindus. Im Nationalkongress gab es Kritik an diesen Bemühungen. Der bedeutende Nationalist Bal Gangadhar Tilak stellte sich gegen Ranade und die Reformer, weil er befürchtete, dass die Reformdebatten Zwietracht unter den Nationalisten säen und sie vom gemeinsamen Ziel des politischen Freiheitskampfes ablenken würden. Außerdem konnten manche Reformen nur durch Gesetze der Kolonialherren eingeführt werden und hätten so die Fremdherrschaft gestärkt.
Verfassungsreformen und die Teilung Bengalens
Das Misstrauen Tilaks gegenüber den Kolonialherren bezog sich natürlich auch auf die Verfassungsreformen, um deren Einführung seine liberalen indischen Zeitgenossen sich so sehr bemühten. Ihre Wünsche wurden zumindest teilweise durch die britisch-indische Verfassungsreform von 1892 erfüllt, die die Wahl einer begrenzten Zahl indischer Abgeordneter in die gesetzgebenden Körperschaften vorsah. Freilich mussten die Abgeordneten nach der Wahl noch vom Vizekönig ernannt werden, der sich damit die letzte Entscheidung darüber vorbehielt, wer das indische Volk vertreten dürfe. Eine Reihe liberaler Nationalisten, die zu den Führern des Nationalkongresses gehörten, nahmen nun ihre Sitze im Imperial Legislative Council und in den entsprechenden Gremien der Provinzen ein. Um den Nationalkongress wurde es still und als der konservative Vizekönig Lord Curzon kurz vor der Jahrhundertwende sein Amt antrat, glaubte er, das nahe bevorstehende Ende des Nationalkongresses voraussagen zu dürfen. Er sollte dann durch seine eigenen autokratischen Maßnahmen den Nationalkongress zu neuem Leben erwecken.
Lord Curzons umstrittenste Maßnahme war die Teilung Bengalens, die er 1905 gegen den erbitterten Widerstand der bengalischen Nationalisten durchführte. Vordergründig ging es dabei um eine durchaus plausible Verwaltungsreform. Die Provinz Bengalen, die zusätzlich zum eigentlichen Bengalen auch noch Orissa, Assam und Bihar einschloss, war in der Tat zu groß. Eine Abtrennung von Bihar und Orissa, wie sie 1911 erfolgte, nachdem Curzons Teilung Bengalens rückgängig gemacht worden war, wäre von vornherein sinnvoller gewesen. Aber Curzon wollte durch seine Teilung bewusst die nationalistische Elite Bengalens treffen. Viele Angehörige der Hindu-Oberschicht hatten Grundbesitz in Ostbengalen, lebten und arbeiteten aber im westbengalischen Kalkutta. Ostbengalen, das mehr oder weniger dem heutigen Bangladesh entspricht, hatte eine Muslimmehrheit und Curzon scheute sich nicht, dies ausdrücklich hervorzuheben. Er hielt sich etwas darauf zugute, den Muslimen eine eigene Provinz gegeben zu haben, und nahm damit das Prinzip der Teilung Indiens vorweg.
Die bengalischen Nationalisten fanden überall in Indien Sympathie für ihren Kampf gegen die Teilung. Insbesondere Tilaks Gefolgschaft in Maharashtra stand auf der Seite der Bengalen. Es zeichnete sich eine Spaltung des Nationalkongresses in einen liberalen »gemäßigten« und einen nationalrevolutionären »extremistischen« Flügel ab. Die Spannungen wurden dadurch verschärft, dass die liberalen Nationalisten, geführt von Gopal Krishna Gokhale, ihre Hoffnungen auf einen Sieg der Liberalen Partei in Großbritannien setzten und von ihr eine liberale Verfassungsreform erwarteten. Die Kongresssitzung von 1905 unter dem Vorsitz Gokhales verlief noch glimpflich. Man gab sich mit einem gemäßigten Protest gegen die Teilung Bengalens zufrieden. Die Sitzung von 1906 in Kalkutta war schon problematischer, aber die »Gemäßigten« hatten den alten Liberalen Dadabhai Naoroji aus England herbeigeholt. Unter seiner Präsidentschaft konnte die Spaltung vermieden werden. Sie fand dann aber 1907 statt und führte dazu, dass die »Extremisten« unter der Führung Tilaks ins Abseits gerieten, während die »Gemäßigten« ein neues Statut einführten und die Kongressorganisation in den Griff bekamen. Im folgenden Jahr wurde Tilak wegen aufrührerischer Zeitungsartikel zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Gokhale dagegen reiste mehrfach nach London, um mit dem neuen Indienminister, dem liberalen Philosophen John Morley, zu konferieren, von dem man nun die bahnbrechende Verfassungsreform erwartete.
Als die Verfassungsreform 1909 verabschiedet wurde, zeigte sie freilich eher die Handschrift des konservativen Vizekönigs Lord Minto und seines Staatssekretärs Herbert Risley als die des großen Liberalen Morley. Minto hatte die neu gegründete Muslimliga favorisiert und separate Wählerschaften für Muslime in die Verfassungsreform eingebracht, um den Muslimen die Furcht vor der Majorisierung durch die Hindus zu nehmen. Dies war die entscheidende Weichenstellung für die spätere Teilung Indiens, denn von nun an konnte sich nur noch der als Muslimführer profilieren, der sich ganz und gar für die Sonderinteressen seiner Muslimwähler einsetzte. Da die Hindus ihn ja nicht mitwählen konnten, brauchte er sich nicht um ihre Unterstützung zu bemühen.
Indien im Ersten Weltkrieg
Der Erste Weltkrieg setzte der aktiven politischen Betätigung der Inder ein Ende, weil das im Krieg geltende Notstandsgesetz (Defence of India Act) garantierte, dass mit jedem Aufmüpfigen kurzer Prozess gemacht wurde. Wirtschaftlich bedeutete der Krieg einen Aufschwung für Indien, weil er die Handelswege abschnitt. Das war für die indische Industrie besser als jeder Protektionismus. Das kurz vor dem Krieg errichtete Stahlwerk der Firma Tata wurde im Krieg mit Aufträgen für den Schienenbau in Mesopotamien und auch für die Rüstung bedacht, während es sonst von der britischen Konkurrenz bald zugrunde gerichtet worden wäre. Die indische Textilindustrie machte ebenfalls Fortschritte. Rund eine Million indischer Soldaten, meist Sikhs und Muslime aus dem Pandschab, kämpften an allen Fronten. Ihr Sold floss zurück in ihre Heimat und kam dort der Intensivierung der Landwirtschaft zugute.
Das Verhältnis der Briten zu den indischen Muslimen wurde freilich durch den Krieg getrübt, weil der von den Muslimen hochverehrte türkische Kalif nun zu den Gegnern Großbritanniens zählte. Der brillante Rechtsanwalt Mohammed Ali Jinnah, der dem Nationalkongress angehörte, dann aber zusätzlich der Muslimliga beigetreten war, nachdem man ihm versichert hatte, dass dies durchaus mit seiner Kongressmitgliedschaft vereinbar sei, bemühte sich um ein gutes Einvernehmen mit Tilak, der 1914 nach Verbüßung seiner Haftstrafe die Führung des Nationalkongresses übernahm. Sein Gegenspieler Gokhale starb 1915. Es kam zu einem Pakt zwischen Liga und Kongress, zwischen Jinnah und Tilak, der großzügige Zugeständnisse an die Muslime bei der Sitzverteilung in den künftigen gesetzgebenden Körperschaften beinhaltete und dafür dem Kongress die politische Unterstützung durch die Liga sicherte.
Dieser Kompromiss wurde freilich schon im nächsten Jahr durch die Ankündigung des Indienministers Edwin Samuel Montagu unterlaufen, der responsible government zum Ziel der nächsten Verfassungsreform erklärte. Er hatte self-government sagen wollen, war aber damit auf den Widerstand des konservativen Kriegsministers Lord Curzon gestoßen, der meinte, die Inder müssten erst einmal lernen, Verantwortung zu tragen. Montagu, der genau wusste, dass responsible government weit mehr bedeutete, als Curzon sagen wollte, als er seinen Einwand erhob, erkärte sich sofort bereit, diese Sprachregelung zu übernehmen. Responsible bezeichnet im Rahmen der parlamentarischen Konvention die Verantwortung der Exekutive gegenüber der Legislative, die die Regierung zum Rücktritt zwingt, wenn sie nicht mehr das Vertrauen der Legislative hat. Dabei kommt es unter Umständen auf jeden Abgeordneten an und separate Wählerschaften sowie der darauf basierende Pakt zwischen Jinnah und Tilak waren in diesem Kontext kontraproduktiv. Montagu gestand das in dem Bericht über die nächste Verfassungsreform, den er mit dem Vizekönig Lord Chelmsford verfasste, unumwunden ein, doch es hieß in diesem Bericht auch, dass die Muslime die separaten Wählerschaften nun als politischen Besitzstand betrachteten, den man ihnen nicht mehr nehmen könne. So wurde der gordische Knoten geknüpft, der später von Lord Mountbatten durchschlagen wurde, als er 1947 als letzter Vizekönig die Teilung Indiens in Indien und Pakistan vornahm.
Prof. Dr. Dietmar Rothermund
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
Indien: Gandhis Einsatz im indischen Freiheitskampf
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
Indien (1526 bis 1857): Von den Moguln zu den Briten
Gopal, Sarvepalli: British policy in India 1858-1905. Cambridge 1965.
Mehrotra, Sri Ram: The emergence of the Indian National Congress. Delhi u. a. 1971.
Rothermund, Dietmar: Government, landlord, and peasant in India. Agrarian relations under British rule 1865-1935. Wiesbaden 1978.
Simon, Werner: Die britische Militärpolitik in Indien und ihre Auswirkungen auf den britisch-indischen Finanzhaushalt 1878-1910. Wiesbaden 1974.
Universal-Lexikon. 2012.