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Kaisertum Karls des Großen: Symbol der Einheit
Kaisertum Karls des Großen: Symbol der Einheit
 
»König der Langobarden«
 
Kaum hatte Karl das Reich seines Bruders im Dezember 771 übernommen, da wurde er schon bald in die italischen Angelegenheiten hineingezogen. Während des karolingischen Bruderzwistes war das Papsttum dem langobardischen Druck schutzlos ausgesetzt gewesen. Papst Stephan III. hatte deshalb 771 ein Bündnis mit dem Langobardenkönig Desiderius eingehen müssen. Doch warf sein Nachfolger Hadrian I. schon 772 das Steuer wieder herum, setzte ganz auf die fränkische Karte und bat Anfang 773 Karl um Hilfe. Dieser zögerte zunächst, da er bereits den Kampf mit den Sachsen aufgenommen hatte, doch fanden Karlmanns Witwe und Kinder die Unterstützung des Langobardenherrschers. Ein Eingreifen in Italien schien daher dringend geboten, zumal Karl auch schon seine erste Gemahlin, eine Tochter des Desiderius, verstoßen und an den Hof des Vaters zurückgeschickt hatte.
 
Ihren Anfang nahm die Expansionspolitik Karls also erst mit der Erneuerung der Reichseinheit und dem Bruch mit den Langobarden; sie führte am Ende zu einer Ausweitung der fränkischen Herrschaft auf den schon von Pippin gewiesenen Bahnen, folgte aber keinem festen Plan und wurde oftmals stärker von äußeren Bedingungen bestimmt als von der eigenen Initiative. Gerade der Langobardenkrieg bildet dafür einen deutlichen Beleg: Nur widerwillig auf Bitten des Papstes begonnen, stand zunächst offenbar auch sein Ziel noch gar nicht fest. Erst während der langen Belagerung von Pavia scheint bei Karl der Entschluss gereift zu sein, keinen Frieden zu schließen, sondern die Herrschaft über die Langobarden selbst zu übernehmen. Nach der Kapitulation der Stadt Anfang Juni 774 verwies Karl daher seinen unterlegenen Gegenspieler Desiderius ins Kloster und wurde selbst langobardischer König — ohne Wahl, ohne Krönung, aber auch ohne größeren Widerstand.
 
Von diesem grundlegenden Wandel der fränkischen Italienpolitik, die der Eigenständigkeit des Langobardenreiches ein Ende setzte und zur Etablierung der karolingischen Herrschaft auf der Apenninenhalbinsel führte, war nicht nur der basileus im fernen Konstantinopel betroffen, sondern vor allem auch der Papst in Rom, dem zwar die von Desiderius vorenthaltenen Besitzungen zurückgegeben, nicht jedoch die weiter reichenden, erst 774 erneuerten Versprechungen von 754 erfüllt wurden. Größere politische Ambitionen in Mittelitalien musste das Papsttum daher aufgeben. Trotzdem wurde der karolingisch-päpstliche Bund enger geknüpft, während sich die Bindung Roms an Byzanz weiter lockerte: Der Name des byzantinischen Kaisers verschwand aus den römischen Urkunden und von den Münzen, obwohl noch keine formelle Trennung vom basileus vollzogen wurde, an seine Stelle trat die Nennung des Papstes.
 
Die Entscheidung von 774 führte nicht zu einer Verschmelzung der Reiche, denen Karl nun vorstand, wohl aber zu einer Durchsetzung Italiens mit fränkischen Amtsträgern, Vasallen und Siedlern. 781 ließ der Karolinger seinen noch minderjährigen Sohn Pippin vom Papst zum König von Italien salben und krönen und richtete damit ein Unterkönigtum ein, das als relativ autonomes Gebilde der Sonderstellung Italiens im karolingischen Großreich entsprach. Karl nannte sich deshalb seit 774 auch rex Francorum et Langobardorum und betonte auf diese Weise selbst den eigentümlichen Charakter seiner italischen Herrschaft, die durch seine römische Stellung als patricius Romanorum ergänzt wurde.
 
 Der Kampf mit den Sachsen
 
Nach dem Erfolg über die Langobarden konnte sich Karl wieder den Sachsen zuwenden. Dieses Volk, im 2. Jahrhundert erstmals als Bewohner der Halbinsel Jütland erwähnt, hatte sich über die Norddeutsche Tiefebene nach Westen fast bis zum Rhein hin ausgedehnt und verharrte um 770 noch immer außerhalb der fränkisch-christlichen Welt, mit der es jedoch seit dem 6. Jahrhundert zu zahlreichen, nicht immer friedlichen Begegnungen gekommen war. Politisch bildeten die Sachsen einen nur lockeren, in Gaue gegliederten Stammesverband, an dessen Spitze kein König stand und über dessen weitere Organisation wenig bekannt ist.
 
Probleme mit den Sachsen, die eine politische und, trotz unermüdlicher Missionstätigkeit, religiöse Abwehrhaltung gegenüber den Franken einnahmen, gab es schon lange, als Karl daranging, eine Lösung zu suchen. Diese scheint nicht von Anfang an in einer Einbeziehung der Sachsen in den karolingischen Herrschaftsverband bestanden zu haben, zumindest ähnelt Karls erster Sachsenzug, in dessen Verlauf 772 die an der Diemel gelegene Eresburg (wohl beim heutigen Marsberg) erobert und ein als Bild der Weltsäule verehrtes sächsisches Heiligtum, die Irminsul, zerstört wurde, eher einer herkömmlichen Strafexpedition. Allerdings wurde mit diesem Unternehmen ein Ringen eröffnet, das Karls Zeitgenosse und Biograph Einhard als einen dreiunddreißigjährigen Krieg charakterisierte und an dessen Ende die Integration des sächsischen Stammesgebietes in das Frankenreich und 802 die schriftliche Fixierung des sächsischen Volksrechtes (lex Saxonum) standen. Der Kampf war hart, aber er wurde nicht ununterbrochen geführt und auch nicht gegen die Gesamtheit der Sachsen; vielmehr war er in einem starken Maße auch von inneren Gegensätzen geprägt, die in der ständischen Gliederung der sächsischen Gesellschaft ihre Ursache hatten. 776 jedenfalls konnte Karl die Unterwerfung »der Sachsen« und ihre Verpflichtung, sich taufen zu lassen, entgegennehmen. Ein Jahr später fand in Paderborn, erstmals auf sächsischem Boden, eine Reichsversammlung statt, auf der die Unterwerfung erneuert und das Land in Missionsbezirke eingeteilt wurde.
 
778 kam es jedoch aus antifränkischen, aber offenkundig auch aus sozialen Motiven zu einer sächsischen Reaktion unter dem Heerführer Widukind, die vor allem von den unteren Ständen getragen wurde und auslösendes Moment für die vollständige Eroberung des sächsischen Gebietes geworden ist. 782 erfolgte in Lippspringe durch die Errichtung von Grafschaften, mithin von fränkischen »Institutionen«, die förmliche Einbeziehung in den Reichsverband. Noch im gleichen Jahr wurde jedoch am Süntel ein fränkisches Heer vernichtet. Da Karls Strafgericht von Verden, das einer großen Zahl gefangener Aufrührer den Tod brachte, den Widerstand nicht endgültig zu brechen vermochte, loderte der Aufstand 783 heftiger denn je auf. Nach schweren Kämpfen unterwarf sich Widukind 785 und empfing in der Pfalz Attigny die Taufe; danach verliert sich seine Spur.
 
In den Neunzigerjahren flammten die Kämpfe noch einmal auf und fanden erst 804 endgültig ein Ende. Nicht auszuschließen ist, dass die Einführung des Kirchenzehnten, die arge Missstimmung hervorrief, einen wesentlichen Anlass für diese Konflikte bot, zumal der Ausbau der fränkischen Herrschaft nicht ohne Gewaltanwendung vonstatten ging. Seit den Neunzigerjahren ließ Karl schließlich zahlreiche Sachsen mit ihren Familien ins Reichsinnere verpflanzen und an ihre Stelle fränkische Siedler setzen. Als die Konsolidierung der neuen Verhältnisse Fortschritte machte, verkündete er 797 ein sächsisches Kapitular (capitulare Saxonicum), durch das die 782 oder 785 erlassenen strengen Strafbestimmungen gegen die Sachsen gemildert wurden. Um die Jahrhundertwende konnten die sächsischen Missionssprengel schließlich als Bistümer konstituiert werden: Münster, Osnabrück, Minden und Bremen kamen zur Kölner Kirchenprovinz, Paderborn und die wohl erst unter Ludwig dem Frommen endgültig eingerichteten Diözesen von Verden, Hildesheim und Halberstadt wurden der Mainzer Metropole unterstellt.
 
Als Konsequenz aus der Einbeziehung der Sachsen in das fränkische Großreich ergaben sich einerseits nicht immer friedliche Berührungen mit den Dänen im Norden, wo 810 auch Nordalbingien in das Reich eingegliedert wurde, und mit den Westslawen im Osten, über die eine keinesfalls stabile Oberhoheit aufgerichtet werden konnte. Andererseits veränderte die Eroberung das Verhältnis zwischen germanischen und romanischen Elementen innerhalb des Frankenreiches und schuf zugleich eine wichtige Voraussetzung für die spätere Entstehung Deutschlands.
 
 Aquitanien
 
Wenn der Kampf mit den Sachsen auch häufig die Aufmerksamkeit Karls erforderte, so bildete doch nicht nur der Nordosten einen Schauplatz für die Aktionen des großen Karolingers, auch im Südwesten griff er ein. Der 778 unternommene Zug ins nördliche Spanien scheiterte zwar, aber in Aquitanien wurde bald danach ein Unterkönigtum für Karls minderjährigen Sohn Ludwig eingerichtet, der 781 zusammen mit seinem zum italischen Unterkönig ernannten Bruder Pippin vom Papst gesalbt und gekrönt wurde. Dies führte zu einer Stabilisierung der Verhältnisse im Pyrenäenraum, wobei es gelang, die Herrschaftssphäre — wenn auch nur zeitweise — über den Gebirgskamm hinweg bis nach Gerona, Urgel, Cerdagne und Barcelona auszudehnen.
 
 Das Ende des bayerischen Herzogtums der Agilolfinger
 
Auch im Südosten des Reiches vermochte Karl die fränkische Herrschaft zu intensivieren. Hier bestand immer noch eine auf weitgehende Unabhängigkeit bedachte Herzogsgewalt: das bayerische Herzogtum seines agilolfingischen Vetters Tassilo III. Dieser hatte die Bindung an die karolingische Monarchie von 757 sechs Jahre später wieder stark gelockert, als er sich von einem gegen Aquitanien gerichteten militärischen Unternehmen Pippins zurückzog. Seither bestand nur noch eine dem Herzog große Eigenständigkeit gewährende Oberhoheit. Obwohl die bayerische Kirche und offenbar auch große Teile des bayerischen Adels frankenfreundlich eingestellt waren, griff Karl 787 in Bayern ein und zwang seinen bayerischen Vetter mit militärischer Macht zum Vasalleneid: Aus Karls Händen nahm Tassilo das bayerische Herzogtum zu Lehen, auf das er aber bereits im folgenden Jahr auf einem Ingelheimer Hoftag verzichten musste. Damit war das letzte erbliche, auf ethnischer Basis errichtete und über weitgehende Autonomie verfügende Herzogtum beseitigt. Das bayerische Gebiet jedoch, das 798 auch als eigene (Salzburger) Kirchenprovinz organisiert wurde, blieb trotzdem als politische Einheit erhalten und bewahrte unter als Präfekten bezeichneten Amtsträgern des Königs und im 9. Jahrhundert als Unterkönigtum auch als fränkischer Reichsteil eine Sonderstellung.
 
Mit der festen Eingliederung der Baiern ins Frankenreich wurde ebenfalls eine wichtige Voraussetzung für die spätere Entstehung Deutschlands geschaffen. Zugleich gelang es, gegenüber den Awaren die Südostgrenze zu sichern und die Donau- und Alpenländer der bayerischen Siedlung und Mission zu öffnen. Am Ende des 8. Jahrhunderts war das Abendland daher unter fränkischer Führung weitgehend zu einer neuen Einheit zusammengefasst. In dieser Situation trat ein Ereignis ein, das Karl den Weg zum Kaisertum eröffnete — zu einer Würde, die er keinesfalls konsequent anstrebte, die er aber annahm, als sich die Gelegenheit dazu bot.
 
 Die Erneuerung des Kaisertums
 
Im Jahre 795 war auf Papst Hadrian I. Leo III. (✝ 816) gefolgt. Während Hadrian das staatsrechtliche Halbdunkel, das seit der Mitte des Jahrhunderts über Rom und dem patrimonium Petri lag, auszunutzen und das sich von Byzanz lösende Papsttum als unabhängige politische Größe neben dem fränkischen Machtbereich zu erhalten suchte, musste Leo dieses Unterfangen aufgeben und selbst die karolingische Zuständigkeit in Rom deutlich betonen. Er handelte damit gegen die Maxime der berühmten Konstantinischen Schenkung (constitutum Constantini), einer Fälschung, die zwischen der Mitte des 8. und der Mitte des 9. Jahrhunderts entstanden ist, vielleicht sogar schon bei seinem Amtsantritt vorlag, da die Herstellung dieses Machwerks sich gut in die päpstliche Politik der Jahrzehnte um 770 einfügen würde. Absicht der Fälschung war nämlich die Schaffung einer päpstlichen Herrschaftssphäre in Italien, behauptete sie doch, Konstantin der Große habe, als er seine Residenz nach Byzanz verlegte, dem Papst Silvester I. Rom, Italien und die »westlichen Regionen« überlassen und ihm zugleich kaiserliche Gewalt, Würde und Insignien zuerkannt. Leo III. war jedoch weit davon entfernt, dieses Ziel zu verwirklichen.
 
Am 25. April 799 wurde er, der wahrscheinlich wirklich nicht über alle Vorwürfe erhaben gewesen sein dürfte und sich in der Ewigen Stadt einer wachsenden Feindseligkeit ausgesetzt sah, während einer Prozession überfallen, misshandelt und gefangen gesetzt; aber er vermochte zu fliehen, da die üblichen, zur Amtsunfähigkeit führenden und daher 799 auch geplanten Verstümmelungen an Augen und Zunge letztlich doch unterblieben. Im Juli 799 empfing ihn Karl in Paderborn und leitete eine Untersuchung des Vorfalls ein, aber erst im Sommer 800 brach der König nach Rom auf und zog am 23. November wie ein Kaiser — also nicht nach dem weniger aufwendigen Zeremoniell, das ihm als patricius eigentlich nur gebührte — in die Stadt ein. Eingedenk des etwa dreihundert Jahre zuvor formulierten Grundsatzes von der Unrichtbarkeit des Papstes weigerte sich eine unter Karls Leitung tagende Synode, über Leo zu Gericht zu sitzen. Als dieser am 23. Dezember 800 im Petersdom einen Reinigungseid ablegte, war das Verfahren daher beendet.
 
Danach begann ein weiterer Akt in diesem welthistorisch bedeutsamen Schauspiel, das durch stadtrömische Wirren ausgelöst worden war, bald aber ungeahnte Konsequenzen zeitigte und der neuen Einheit der abendländischen Völker eine eigene und dauerhafte Gestalt verlieh. Es wurden Stimmen laut, das Kaisertum, das als vakant zu betrachten sei, seit in Konstantinopel eine Frau den Thron usurpiert habe, auf Karl zu übertragen. Natürlich äußerten sich hier keine spontanen Ideen. Der Karolinger war ja schon einen Monat zuvor nach kaiserlichem Zeremoniell empfangen worden. Es dürfte also Absprachen über eine Kaisererhebung gegeben haben, zumal sich Karls Stellung als Herrscher über zahlreiche Völker und zwei Königreiche sowie als Schützer der Christenheit schon längst zu einem imperialen Großkönigtum gesteigert hatte. Als ihm der Papst während der Weihnachtsmesse die Kaiserkrone aufsetzte und das Volk ihm als »Kaiser der Römer« zujubelte und ihn damit in antiker Tradition zum Universalherrscher erhob, empfing Karl im Grunde nur den Namen für eine Sache, die er schon längst verkörperte: das nomen imperatoris — so, wie sein Vater Pippin ein knappes halbes Jahrhundert zuvor die Königswürde erhalten hatte, weil er die königliche Macht bereits in Händen hielt.
 
In einer Hinsicht allerdings änderten sich die Verhältnisse durch die Kaiserkrönung schlagartig: Das Papsttum vollendete seine Emanzipation von Byzanz und schuf in Rom, unter Aufgabe anderer Ziele, staatsrechtliche Klarheit. Mit Karls Kaisertum gab es am Tiber wieder eine höchste Gerichtsinstanz, die das Urteil über die Papstattentäter fällen konnte — und der Karolinger waltete seines kaiserlichen Amtes umgehend, verurteilte die Verschwörer zum Tode und begnadigte sie bald danach auf Fürsprache Leos.
 
Es kann kaum einen Zweifel an Karls Bereitschaft zur Übernahme der Kaiserwürde geben. Trotzdem berichtet des Kaisers Biograph Einhard als intimer Kenner des Karolingerhofes vom Unmut des Herrschers über das Geschehen während der Weihnachtsmesse und überliefert Karls Ausspruch, »er würde an jenem Tage, obgleich es ein hohes Fest war, die Kirche nicht betreten haben, wenn er des Papstes Absicht hätte vorherwissen können«. Doch kann sich diese Äußerung kaum gegen die Übernahme der Kaiserwürde selbst richten; eher missfielen Karl die äußeren Umstände: die Rolle, die der Papst und das römische Volk auf Weih- nachten 800 spielten. Dreizehn Jahre später, als er seinen Sohn Ludwig in Aachen zum Mitkaiser erhob und dabei auf byzantinische Vorbilder zurückgriff, wurden Bischof und Volk von Rom jedenfalls nicht mit einbezogen.
 
Karl wartete mit der Entscheidung über die Einrichtung eines Mitkaisertums lange — offenbar bis die aus seiner Kaiserkrönung erwachsenen Spannungen mit Byzanz beigelegt waren. Im Sommer 812 war der Ausgleich endlich erreicht und Karl von Ostrom als Imperator anerkannt; Byzanz waren dafür Venetien und Dalmatien überlassen worden. Zu diesem Zeitpunkt war eine von Karl 806 getroffene Nachfolgeordnung (divisio regnorum) schon überholt. Diese hatte, unter Rückgriff auf die fränkische Teilungspraxis, eine Aufteilung von Reich und Herrschaft unter die drei legitimen Söhne Karl, Pippin und Ludwig vorgesehen, bezeichnenderweise aber keine Bestimmung über das Kaisertum enthalten, obwohl im Text von imperium vel regnum (Kaiser- oder Königreich) die Rede war. Da Pippin 810 und der jüngere Karl 811 starben, besaß der Kaiser bei seinem Ableben nur noch einen thronfähigen Sohn, den aquitanischen Unterkönig Ludwig, der daher 813 zum Mitkaiser erhoben wurde und mit dem Beinamen »der Fromme« in die Geschichte eingehen sollte. Dieser konnte die Herrschaft ohne große Probleme übernehmen, als Karl am 28. Januar 814 in Aachen starb und in der Pfalzkirche seiner »Altersresidenz« die letzte Ruhe fand.
 
 Ludwig der Fromme und die Reichsordnung von 817
 
Der neue Kaiser trat die Regierung mit Schwung und Elan an und versuchte vor allem, die stark in religiösen Dimensionen verwurzelte politische Ordnung zu festigen. Dabei stützte er sich besonders auf seine geistlichen Ratgeber, die er zum Teil aus Aquitanien mitgebracht hatte: auf den Abt Benedikt von Aniane etwa oder den Kanzler Helisachar. Diese Repräsentanten einer Generation, die schon von einem stärker verinnerlichten Christentum geprägt war, bemühten sich aus religiösem Verantwortungsbewusstsein um kirchliche Reformen, die besonders von dem Streben nach Vereinheitlichung und Normsetzung getragen waren. Auf der Aachener Synode von 816 wurde den Nonnen und Mönchen die Benediktregel als verbindlich vorgeschrieben und, in der Tradition des Kirchenreformers Chrodegang von Metz, Vorschriften für die Kanonissen und Kanoniker erlassen. Zugunsten der einen für richtig befundenen Norm sollten die traditionelle Vielfalt und Mischformen von Regeln aufgegeben werden.
 
Dieses Bemühen blieb nicht auf den kirchlichen Bereich beschränkt, sondern ergriff auch die politische Ordnung, denn »Kirche« und »Staat« waren im Mittelalter nicht säuberlich voneinander getrennt, sondern vielmehr aufs Engste miteinander verwoben, wurde doch die Gemeinschaft der Christen, bestehend aus einem geistlichen und einem weltlichen Bereich, insgesamt als corpus Christi, als eine religiöse Größe also, verstanden. Nicht zuletzt die Erneuerung des abendländischen Kaisertums, das zumindest dem Anspruch nach eine universale Gewalt darstellt, hatte daher theologisch motivierte Vorstellungen von der unteilbaren Einheit des Kaiserreiches Gestalt annehmen lassen: So, wie es einen Gott, eine Kirche und einen christlichen Glauben gebe, so dürfe es auch nur ein Reich (imperium) geben.
 
817, als ein Unfall Ludwig gemahnte, für den Fall seines Todes Vorsorge zu treffen, rückte man jedoch von der üblichen und ja auch von Karl dem Großen noch 806 vertretenen Teilungspraxis ab und stellte den Gedanken der Reichseinheit in den Vordergrund: Allein der älteste Sohn Lothar wurde zum Mitkaiser erhoben und zum Nachfolger bestimmt, während die jüngeren Söhne Pippin und Ludwig (der Deutsche) mit Aquitanien bzw. Bayern abgefunden wurden. Sie bekamen aber nicht nur einen wesentlich geringeren Anteil am Gesamtreich, sondern blieben als Könige dem kaiserlichen Bruder untergeordnet. Diese Reichsordnung (ordinatio imperii), die im Kern eine Haus- und Nachfolgeordnung darstellt, unterscheidet sich von den früheren Teilungen grundlegend: Es wurde nicht nur ungleichmäßig geteilt — und darüber hinaus eine weitere Teilung untersagt —, es wurde nicht nur aus religiösen Motiven und theologischen Erwägungen die Einheit des Reiches im Grundsatz gewahrt, sondern es wurde dabei auch der bisher geltende prinzipielle Anspruch aller thronfähigen Königssöhne auf eine gleichberechtigte Nachfolge in der Herrschaft beiseite geschoben; an die Stelle der genossenschaftlichen Teilung trat die herrschaftliche Überordnung des ältesten Bruders; die Teilkönige verfügten nur über eine interne Autonomie und unterstanden in allen darüber hinausgehenden Handlungen der Aufsicht des Kaisers.
 
Es scheint 817 Widerstände gegen die mit dem Herkommen brechende ordinatio imperii gegeben zu haben. Aber die Reformer setzten sich durch, weil Ludwig sich die theologisch-politische Idee von der Reichseinheit zu Eigen machte und mit seiner ganzen Autorität vertrat. Außerdem konnte der Hochadel, der über Besitz und Lehen im gesamten Reich verfügte, der Wahrung der Reichseinheit ebenso gute Seiten abgewinnen wie die Kirche, die für ihre gleichfalls weit gestreuten Güter und die Integrität ihrer Diözesen wenig Gutes von Teilungen zu erwarten hatte. In rechtlicher Hinsicht waren von den erlassenen Bestimmungen letztlich nur die jüngeren Kaisersöhne betroffen, weswegen 817 auch keine gefährliche Adelsopposition befürchtet zu werden brauchte. Zum bewaffneten Aufstand ließ sich nur ein einziges Mitglied des Karolingerhauses hinreißen: Ludwigs Neffe Bernhard, den noch Karl der Große 812/813 als Nachfolger des 810 verstorbenen Vaters Pippin zum Unterkönig von Italien erhoben hatte, der in der ordinatio imperii jedoch mit keinem Wort erwähnt wird und daher um seine Herrschaft fürchten musste. Er starb 818, nachdem er als Empörer zum Tode verurteilt worden war, an den Folgen der Blendung, zu der sein kaiserlicher Onkel ihn begnadigt hatte.
 
821 wurde die ordinatio imperii eidlich bekräftigt; 822 ging Lothar I. nach Italien, um hier die fränkische Herrschaft zu festigen; 823 setzte ihm, der schon 817 zum Kaiser erhoben worden war, Papst Pascha- lis I. (817—824) in einer Festkrönung nochmals das Diadem auf und dokumentierte damit den 817 übergangenen römischen Anspruch auf diesen Akt. Nach der Reorganisation des patrimonium Petri, das jetzt der kaiserlichen Kontrolle unterworfen wurde, kehrte Lothar 825 an den Hof zurück und übte nun tatsächlich die Mitregentschaft aus: Die Herrscherurkunden wurden seit dem Dezember 825 im Namen beider Kaiser ausgestellt. Das System von 817 schien sich zu bewähren; in Wirklichkeit jedoch war schon der Keim für Zwietracht gelegt.
 
Prof. Dr. Franz-Reiner Erkens
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
karolingische Renaissance: Erbe der Kulturen
 
Frankenreich im Zerfall: Reichsteilungen des 9. Jahrhunderts
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Frankenreich als Hegemonialmacht des Abendlandes: Karolingerreich
 
Literatur:
 
Ehlers, Joachim: Die Entstehung des deutschen Reiches. München 1994.
 Fleckenstein, Josef: Die Bildungsreform Karls des Großen. Freiburg im Breisgau 1953.
 Fried, Johannes: Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024. Berlin 1994.
 Prinz, Friedrich: Frühes Mönchtum im Frankenreich. Darmstadt 21988.
 Schieffer, Rudolf: Die Karolinger. Stuttgart u. a. 1992.
 Schneider, Reinhard: Das Frankenreich. München 31995.

Universal-Lexikon. 2012.