Akademik

Weizsäcker
Weizsäcker,
 
1) Carl Friedrich Freiherr von, Physiker und Philosoph, * Kiel 28. 6. 1912, Sohn von 2), Bruder von 4), Vater von 3). Nach dem Studium der Physik, Mathematik und Astronomie in Berlin, Göttingen und Leipzig, u. a. bei W. Heisenberg und N. Bohr, und Forschungstätigkeit in Leipzig (1933-36) sowie an den Kaiser-Wilhelm-Instituten für Chemie und Physik in Berlin war Weizsäcker 1942-45 Professor für theoretische Physik in Straßburg. Ab 1946 war Weizsäcker Abteilungsleiter am Max-Planck-Institut für Physik und Professor in Göttingen; 1957-69 Professor für Philosophie in Hamburg (dabei v. a. Auseinandersetzung mit Platon und I. Kant); 1970-80 Leiter des auf seine Anregung neu gegründeten Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen in der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg. 1958 erhielt er den Frankfurter Goethepreis und die Max-Planck-Medaille, 1963 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels; 1961 Aufnahme in den Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste. - Weizsäcker hat wiederholt zur Bedeutung und Verantwortung des Naturwissenschaftlers in der heutigen Welt Stellung genommen und versucht, sie politisch geltend zu machen, u. a. 1957 durch Beteiligung an der Göttinger Erklärung, in der Mitarbeit in der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung, durch politisch beratende Tätigkeit und durch Schriften zu Gegenwartsfragen (Weltfriede, humane Zukunft, Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt). - In der Physik befasste er sich u. a. mit der Bindungsenergie der Atomkerne (Bethe-Weizsäcker-Formel, 1935; Tröpfchenmodell). Im Bereich der Astrophysik erklärte er die Strahlungsenergie der Sterne mit Kernumwandlungsprozessen im Innern der Sterne (Bethe-Weizsäcker-Zyklus, 1937/38); er entwickelte 1946 eine Theorie zur Entstehung des Planetensystems, 1959 eine Theorie über die Entwicklung von Sternen und Sternsystemen, 1966 stellte er eine »Weltformel« auf. Der Versuch, die Quantentheorie philosophisch zu interpretieren, führte ihn zur Auseinandersetzung mit dem Begriff der Wahrscheinlichkeit sowie mit der Struktur der Zeit als Bedingung der Möglichkeit objektivierbarer Erfahrung. Wissenschaftstheoretisch gilt sein Bemühen der Rekonstruktion der Einheit der Physik als Fundamentalwissenschaft im Rahmen eines einheitlichen Wirklichkeitsverständnisses.
 
Schriften: Zum Weltbild der Physik (1943); Die Geschichte der Natur (1948); Die Einheit der Natur (1971); Fragen zur Weltpolitik (1975); Wege in der Gefahr (1976); Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie (1977); Der bedrohte Friede. Politische Aufsätze 1945-1981 (1981); Wahrnehmung der Neuzeit (1983); Aufbau der Physik (1985); Die Zeit drängt (1986); Bewußtseinswandel (1988); Bedingungen der Freiheit (1990); Der Mensch in seiner Geschichte (1991); Zeit und Wissen (1992); Der bedrohte Friede - heute (1994).
 
Literatur:
 
Physik, Philosophie u. Politik. Festschr. für C. F. v. W.. .., hg. v. K. M. Meyer-Abich (1982);
 M. Schüz: Die Einheit des Wirklichen. C. F. v. W.s Denkweg (1986);
 M. Wein: Die W. Gesch. einer dt. Familie (Neuausg. 1991).
 
 2) Ernst Freiherr von, Diplomat, * Stuttgart 25. 5. 1882, ✝ Lindau (Bodensee) 4. 8. 1951, Vater von 1) und 4), Bruder von 5); ab 1920 im diplomatischen Dienst, wurde 1937 Leiter der Politischen Abteilung und 1938 Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Zum NS-Regime stand er in einem ambivalenten Verhältnis von Anpassung und Widerstand. Er befürwortete die Machtsteigerung »Großdeutschlands«, jedoch nicht um den Preis eines großen Krieges. Seine Hoffnung, mäßigend auf die aggressive Außenpolitik Hitlers einzuwirken, erwies sich zunehmend als Illusion. Im Sommer 1939 ließ er die britische Regierung vergeblich vor Hitlers Kriegsplänen warnen. Mit dem Ziel, »Schlimmeres zu verhüten«, blieb er im Amt, wurde damit jedoch in die Kriegsvorbereitungen und die Verfolgung der Juden (Holocaust) verwickelt. 1943-45 war er Botschafter beim Vatikan. In einem der Nachfolgeprozesse der Nürnberger Prozesse (»Wilhelmstraßen-Prozess«) 1949 zu sieben Jahren Haft verurteilt, wurde Weizsäcker im Oktober 1950 begnadigt.
 
Ausgabe: Die Weizsäcker-Papiere, herausgegeben von L. E. Hill, 2 Bände (1974-82).
 
Literatur:
 
R. A. Blasius: Für Groß-Dtl. - gegen den großen Krieg. E. v. W. in den Krisen um die Tschechoslowakei und Polen (1981);
 D. Koerfer: E. v. W. im Dritten Reich, in: Die Schatten der Vergangenheit, hg. v. U. Backes u. a. (1990).
 
 3) Ernst Ulrich Freiherr von, Biologe und Umweltwissenschaftler, Sohn von 1), * Zürich 25. 6. 1939; nach dem Studium der Naturwissenschaften war Weizsäcker 1969-72 wissenschaftlicher Referent der Forschungsstätte der Evangelische Studiengemeinschaft (Friedensforschungs-Institut) in Heidelberg, danach 1972 -75 Professor für interdisziplinäre Biologie in Essen. 1975 wurde Weizsäcker Gründungspräsident der Gesamthochschule Kassel, die unter seiner Leitung (bis 1980) ein eigenständiges Reformprofil mit praxisbezogenen Ingenieurwissenschaften und besonderen Aktivitäten in den Bereichen Umweltschutz und ökologischer Landbau entwickelte. 1980 wechselte er als Direktor des UN-Zentrums für Wissenschaft und Technik nach New York; 1984 wurde er Direktor des Instituts für Europäische Umweltpolitik in Bonn, 1991 Gründungspräsident und Geschäftsführer des Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie, das sich mit dem wirtschaftlichen Strukturwandel infolge der globalen Klima- und Umweltveränderung befasst. Seit 1994 ist Weizsäcker Mitglied des Club of Rome, seit 1998 Mitglied des Bundestags (SPD). - Weizsäcker vertritt die Auffassung, dass Umweltschutz auch unter den heutigen Bedingungen ökonomisch lohnenswert sein kann.
 
Werke: Erdpolitik. Ökologische Realpolitik an der Schwelle zum Jahrhundert der Umwelt (1989); Ökologische Steuerreform. Europäische Ebene und Fallbeispiel Schweiz (1992, mit anderen); Faktor Vier. Doppelter Wohlstand - halbierter Naturverbrauch (1995, mit A. B. und L. H. Lovins).
 
Herausgeber: Umweltstandort Deutschland. Argumente gegen die ökologische Phantasielosigkeit (1994); Grenzen-los? Jedes System braucht Grenzen - aber wie durchlässig müssen sie sein? (1997).
 
 4) Richard Freiherr von, Politiker, * Stuttgart 15. 4. 1920, Sohn von 2), Bruder von 1); Wirtschaftsjurist und Rechtsanwalt; zunächst im Bankwesen und in Industrieunternehmen führend tätig, war 1964-70 und 1979-81 Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages, 1969-84 Mitglied der Synode und des Rates der EKD sowie des Zentral- und Exekutivausschusses des Weltkirchenrates. Als Mitglied des Bundestags (1969-81; 1979-81 Vizepräsident des Deutschen Bundestags) und stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU nahm er bei den Debatten um die Verabschiedung der Ostverträge der Regierung Brandt eine vermittelnde Stellung zwischen Regierung und Opposition ein. Im Mai 1974 kandidierte Weizsäcker für das Amt des Bundespräsidenten, unterlag jedoch W. Scheel (FDP). 1981-84 Regierender Bürgermeister von Berlin (West). Im Mai 1984 (erneut im Mai 1989) wählte ihn die Bundesversammlung zum Bundespräsident; bis 1994 im Amt, vermochte er - in einem v. a. ethischen Verständnis von politischer Kultur - seinem Amt konsensstiftend neue Geltung zu verschaffen und das internationale Ansehen der Bundesrepublik Deutschland (u. a. Rede vor dem Deutschen Bundestag am 8. 5. 1985) zu erhöhen.
 
Schriften: Die menschliche Brücke zwischen Juden und Deutschen trägt wieder (1982); Die politische Kraft der Kultur (1987); Brücken zur Verständigung (1990); Von Deutschland nach Europa (1991); Demokratische Leidenschaft. Reden des Bundespräsidenten (1994).
 
Memoiren: Vier Zeiten. Erinnerungen (1997).
 
 5) Viktor Freiherr von, Arzt, * Stuttgart 21. 4. 1886, ✝ Heidelberg 8. 1. 1957, Bruder von 2); zunächst Internist, dann Neurologe, 1922 Professor in Heidelberg, 1941 in Breslau und 1946 wiederum in Heidelberg. Weizsäcker untersuchte u. a. die Abbaubedingungen und -formen der Sensibilität, des optischen Systems und der Motilität. Zur Beschäftigung mit Tiefenpsychologie und Psychoanalyse wurde er v. a. angeregt durch eine Begegnung mit S. Freud (1926), durch die soziale Problematik einiger Neurosen sowie die Notwendigkeit, den Menschen »als Subjekt« (d. h. als Individuum) in die Pathologie einzuführen. Weizsäcker befürwortete eine psychosomatische Medizin; er verstand Krankheit als eine pathologische Form der Selbstverwirklichung und als Teil der individuellen Lebensgeschichte. In seiner Lehre vom Gestaltkreis werden Seelisches und Körperliches in ihrer funktionalen Verschränkung beschrieben.
 
Werke: Seelenbehandlung und Seelenführung nach ihren biologischen und metaphysischen Grundlagen betrachtet (1926); Der Gestaltkreis (1940); Pathosophie (1956).
 
Literatur:
 
R.-M. E. Jacobi: Leben im Zwischen. Vorüberlegungen zu einem erkenntniskrit. Verständnis der Gestaltkreislehre V. v. W.s, in: Selbstorganisation. Jb. für Komplexität in den Natur-, Sozial- u. Geisteswiss.en, Bd. 7 (1997).

Universal-Lexikon. 2012.