Fun|da|men|ta|lịs|mus 〈m.; -; unz.〉
1. kompromissloses Beharren auf polit. od. religiösen Grundüberzeugungen
2. 〈urspr.〉 strenggläubige Richtung der evangelischen Kirche in den USA gegen Bibelkritik u. Naturwissenschaft
● der islamische \Fundamentalismus Siehe auch Info-Eintrag: Fundamentalismus - info!
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Fun|da|men|ta|lịs|mus, der; -:
a) [engl. fundamentalism, zu: fundamental, ↑ fundamental] geistige Haltung, Anschauung, die durch kompromissloses Festhalten an [ideologischen, religiösen] Grundsätzen gekennzeichnet ist [u. das politische Handeln bestimmt]:
religiöser F.;
b) streng bibelgläubige Richtung des amerikanischen Protestantismus.
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Fundamentalịsmus
der, -. Der Begriff Fundamentalismus gewinnt erst seit kurzem über die Grenzlinien seiner unterschiedlichen religiösen und nichtreligiösen Deutung hinweg eine fest umrissene Bedeutung und wird dabei meist als Strukturbegriff verwendet, der eine bestimmte Form willkürlicher Selbstabschließung von Denk- oder Handlungssystemen gegen Kritik und Alternativen bezeichnet. Im französischen Sprachgebrauch wird häufig auch gleichbedeutend »intégrisme« und im Englischen »communalism« verwendet. Mittlerweile steht er nach einem verbreiteten Konsens des Sprachgebrauchs für theoretische Orientierungen und praktische Organisationsformen eines umfassenden oder selektiven kulturellen und politischen Antimodernismus. Noch immer gehen die Auffassungen darüber auseinander, ob der Begriff auf die religiös bestimmten Formen eines solchen Antimodernismus beschränkt bleiben sollte oder auch auf säkulare Varianten angewendet werden kann, wenn sie im Übrigen seine wesentlichen Bestimmungsmerkmale teilen.
Das Wort Fundamentalismus tritt zuerst im Zusammenhang mit einer religiösen Schriftenreihe in Erscheinung, die in den Jahren 1910-15 unter dem Titel »The fundamentals« in den USA erschien. Sie trug den aufschlussreichen Untertitel »A testimony to truth« (»Ein Zeugnis der Wahrheit«). 1919 gründeten die protestantischen Christen, die die Reihe herausgegeben hatten, eine weltweit tätige Organisation, die »World's Christian Fundamentals Association«. Damit war die Bezeichnung für diese Art christliche Gläubigkeit geboren und hat sich für sie sowohl im allgemeinen wie im wissenschaftlichen Sprachgebrauch rasch durchgesetzt. Erst in jüngerer Zeit wurde sie dann auf vergleichbare Erscheinungen in anderen Religionen und schließlich auch auf gleichartige Organisations- und Orientierungsformen nichtreligiöser Art übertragen, die ihrerseits auf längere Traditionen zurückblicken.
Es waren v. a. vier unverrückbare »Grundwahrheiten« (»fundamentals«), die diese Bewegung charakterisierten: 1) die buchstäbliche Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift und die unbeirrbare Gewissheit, dass die Heilige Schrift keinen Irrtum enthalten könne; 2) die Nichtigkeit aller modernen Theologie und Wissenschaft, soweit sie dem Bibelglauben widersprechen; 3) die Überzeugung, dass niemand, der vom fundamentalistischen Standpunkt abweicht, ein wahrer Christ sein könne, und 4) in der Praxis der Bewegung schärfer als in ihren Schriften die Überzeugung, dass die moderne Trennung von Kirche und Staat immer dann zugunsten einer religiösen Bestimmung des Politischen aufgehoben werden muss, wenn politische Regelungen mit fundamentalen religiösen Überzeugungen kollidieren.
In der Sache hat es den Fundamentalismus, lange vor der Prägung des Begriffs, schon seit dem frühen 19. Jahrhundert gegeben. Er entstand in Europa als Gegenbewegung gegen den mit der von I. Kant eingeleiteten bewusstseinsphilosophischen Wende in der Philosophie erstarkenden Modernismus in Religion und Theologie. Die modernistischen Positionen, gegen die sich der protestantische und alsbald auch der katholische Fundamentalismus wandten, verkörpern das Eindringen des Geistes der Aufklärung in Theologie und Religion: die historische und literarische Bibelkritik, die kantische Begrenzung der Religion auf die Rolle des Garanten moralischer Motive, die wissenschaftliche Idee einer natürlichen Evolution der Menschengattung und sogar der konkreten Ausformungen der Religionen selbst.
Der Prozess der Modernisierung, der in großen, langsamen Schüben schon seit dem 12. Jahrhundert die Gesamtheit der abendländischen Kultur zu prägen begann, hatte seit dem 18. Jahrhundert die Säkularisierung vorangetrieben und infolgedessen die Trennung von Wahrheit und Gewissheit sowie die beginnende Öffnung aller kulturellen Systeme für legitime Alternativen bewirkt. Der religiöse Fundamentalismus stellt den Versuch dar, die generalisierte Ungewissheit aller Erkenntnisansprüche und die generelle Offenheit aller sozialen Systeme für Alternativen, die der Prozess der Modernisierung mit sich brachte, mit willkürlichen Dogmatisierungen aus der Religion fern zu halten und bestimmte Fundamente künstlich gegen alle Zweifel und Kritik zu immunisieren. Fundamentalismus bedeutet daher zunächst einen willkürlichen Abbruch der gemeinsamen Deutungspraxis religiöser Überlieferung, um selbsterkorene absolute Gewissheiten jeder offenen Deutung und Infragestellung zu entziehen.
Die religionshistorischen Studien von H. Küng haben gezeigt, dass vergleichbare Prozesse der Modernisierung, wenn auch nicht überall in derselben Konsequenz und in denselben Formen, spätestens seit dem 19. Jahrhundert in allen Weltreligionen zu beobachten waren. Überall hat es als Reaktionsbildung auf diesen Öffnungsprozess die Erscheinung eines Fundamentalismus gegeben. Fundamentalismus ist in dieser historischen Perspektive der Versuch, ein älteres Paradigma der Selbstauslegung einer Religion gegenüber allen jüngeren absolut verbindlich zu machen. Jüngere wissenschaftliche Studien haben buddhistische, islamische, hinduistische, konfuzianische, jüdische u. a. Formen des Fundamentalismus als jeweilige Reaktionsbildungen auf religionsimmanente Öffnungsbestrebungen beschrieben. Die Erfolge des Fundamentalismus bei der Bekämpfung modernerer Deutungen der jeweils eigenen religiös-kulturellen Traditionen sind in den einzelnen Kulturen höchst unterschiedlich und historischen Schwankungen unterworfen. Der Kernpunkt ist stets die Trennung von Staat und Religion. Für den Fundamentalismus als eine politische oder politisch fungierende Ideologie ist immer ein bestimmter, unterschiedlich weit gehender Anspruch auf die Einheit von Staat und Religion kennzeichnend.
Fundamentalismus bietet sich in vielen Formen als Lösung der Widersprüche an, die im Prozess der Modernisierung aufbrechen. Er ist eine Ausschließungshaltung, die Geborgenheit, Gewissheit und allem Zweifel entrückte Orientierung an die Stelle der unvermeidlichen Ambivalenzen und Unsicherheiten der modernen Existenz zu setzen verspricht. Fundamentalismus ist jedoch nicht das Kennzeichen bestimmter Religionen oder Weltanschauungen, sondern eine sozialpsychologisch bedingte Weise ihrer Auffassung und Anwendung.
Wesen und Erscheinungsformen
Fundamentalismus bedeutet die Handhabung bestimmter Erkenntnisansprüche als allem Zweifel entzogen und daher außerhalb jedes Dialogs angesiedelt. In seinen kämpferisch-politischen Formen wird das auf diese Weise immunisierte Fundament des Fundamentalismus als Legitimation für Vormachts- oder Herrschaftsansprüche gegenüber Abweichenden in Anspruch genommen. Dies schließt in der Regel die Bereitschaft zur Verweigerung von Menschenrechten und demokratischen Entscheidungsregeln ein.
Da die moderne Politik vielfach durch Offenheit und Pluralismus gekennzeichnet ist, bedeutet Fundamentalismus die antimoderne Rückkehr des Absoluten in die Politik. Die geschlossenen Glaubenssysteme fundamentalistischer Prägung übernehmen den Anspruch öffentlicher Herrschaft und schließen Kritik, Alternativen, Zweifel, den Dialog über ihre Erkenntnisansprüche von gleich zu gleich aus. Die gänzliche oder selektive Missachtung von Menschenrechten, Pluralismus, Toleranzgebot, Mehrheitsprinzip im Namen der vermeintlich absoluten eigenen Glaubenswahrheit, die sich allein im Besitz des jeweiligen Fundamentalismus befänden, sind Folgen seines sich nach außen wendenden absoluten Gewissheitsanspruchs.
Papst Pius X. hat für die katholische Kirche in seiner Enzyklika »De Modernistarum Doctrinis« 1907 die modernisierenden Strömungen im Katholizismus auf ähnlicher Weise identifiziert und verurteilt wie die protestantischen Fundamentalisten kurz danach. Dieses Dokument kann daher zur Legitimation eines katholischen Fundamentalismus herangezogen werden, als dessen Träger nach dem 2. Vatikanischen Konzil verschiedene, durch ein eher vorkonziliar-restauratives Kirchenverständnis geprägte »traditionalistische« (nach eigenem Verständnis traditions- und papsttreue) geistliche Bewegungen innerhalb der katholischen Kirche gelten; u. a. die - seit 1988 durch Schisma von der Kirche getrennte - »Internationale Priesterbruderschaft des Heiligen Pius X.«, die Bewegung »Una voce« und das »Engelwerk«. Aufsehen erregt hat seit den 1970er-Jahren in Europa v. a. der islamische Fundamentalismus, weil er unter der geistlich-politischen Führung des schiitischen Religionsführers R. M. Khomeini 1979 mit einer kämpferisch antiwestlichen Einstellung im Iran an die Macht gelangte und seither in einer zunehmenden Reihe islamisch geprägter Länder eine erhebliche politische Rolle spielt. Anhänger findet der islamische Fundamentalismus besonders bei unterprivilegierten Bevölkerungsschichten, bei denen sich die Rückkehr zum ursprünglichen Islam zunächst in Äußerlichkeiten (z. B. Kleiderordnung) manifestiert. Geprägt durch eine islamistische Ideologie, daher im westlichen Sprachgebrauch seit Anfang der 1990er-Jahre auch Islamismus genannt, wird der islamische Fundamentalismus in starkem Maße durch islamische Bruderschaften (Ägypten, Sudan) und islamistische Parteien, Bewegungen und Gruppen (Algerien, Palästina) getragen, die oftmals die terroristische Gewalt als ein Mittel zur Durchsetzung ihrer in erster Linie politischen Ziele betrachten. In Indien gewinnt seit dem Ende der 1980er-Jahre der politisch organisierte Hindu-Fundamentalismus bestimmenden Einfluss. Die ihm zugehörigen Parteien, besonders die »Bharatiya Janata Party« (BJP, deutsch »Indische Volkspartei«), haben zeitweilig in Gliedstaaten die Regierung gestellt und sich zur zweitstärksten Kraft im nationalen Parlament entwickelt. Er betont das »Hindutum« als den authentischen Ausdruck einer einheitlichen indischen nationalen Identität. In seiner äußeren Zielrichtung besonders gegen Einrichtungen der muslimischen Bevölkerung in Indien gerichtet, bildete die Zerstörung der im 16. Jahrhundert wahrscheinlich auf den Trümmern eines hinduistischen Tempels errichteten Babri-Moschee in Ayodya (Uttar Pradesh) im Dezember 1992 einen gewaltsamen Höhepunkt des Hindu-Fundamentalismus. Der organisierte protestantische Fundamentalismus in den USA nimmt erneut seit den 1970er-Jahren gezielt und erfolgreich Einfluss auf die Auswahl der Kandidaten für Kongress, Senat und Präsidentschaft und bedient sich dabei modernster elektronischer Kommunikationstechnik (besonders der Fernsehkirche). Seit Anfang der 80er-Jahre landesweite Sammlungsbewegungen bildend (»Moral Majority«, »Liberty Federation«, »Christian Coalition«), trat dieser Fundamentalismus in den 90er-Jahren besonders mit spektakulären Aktionen gegen die Gesetzgebung Präsident B. Clintons zum Schwangerschaftsabbruch sowie mit Kampagnen gegen Homosexualität und schulische Sexualerziehung an die Öffentlichkeit. Der seit Mitte der 1980er-Jahre ebenfalls wieder erstarkte jüdische Fundamentalismus in Israel ist religiös in Teilen des orthodoxen Judentums verwurzelt und wird in seinen politischen Anliegen durch mehrere religiöse Parteien vertreten. Zusammen etwa 15 % der Wähler repräsentierend, verstehen sie Israel als religiös begründeten Staat, dessen Gesetzgebung sich an religiösen Grundsätzen orientieren solle. Eine fundamentalistische Auslegung findet dieses Verständnis unter Teilen der Siedlerschaft in den besetzten palästinensischen Gebieten in einem »religiösen Zionismus«, der ein »Groß-Israel« fordert und theologisch von ultraorthischen Rabbinern mit einem jüdischen Anspruch auf Palästina als dem »Gelobten Land« begründet wird.
Die Strukturen, die eine fundamentalistische Geisteshaltung oder Bewegung charakterisieren, finden sich am Ende des 20. Jahrhunderts nicht nur in Teilströmungen aller kulturprägenden Religionen, auch solcher, die wie der Hinduismus mangels einer ausgearbeiteten Dogmatik lange Zeit als immun gegenüber solchen Versuchungen galten. Sie sind ebenso in säkularen Ideologien und Bewegungen zu beobachten, beispielsweise im orthodoxen Marxismus-Leninismus oder in metaphysischen Spielarten des Ökologismus.
In Umkehrung der kantischen Definition der Aufklärung lässt sich Fundamentalismus als Gegenbewegung zum kulturellen Prozess der Modernisierung beschreiben: Fundamentalismus könnte so als mehr oder weniger gewollter Versuch der Immunisierung gegen die Zumutungen des Selberdenkens, der Eigenverantwortung, der Begründungspflicht, der Unsicherheit und der Offenheit aller Geltungsansprüche, der Herrschaftslegitimationen und Lebensformen gesehen werden, denen Denken und Leben durch Aufklärung und Moderne unumkehrbar ausgesetzt sind; stattdessen bietet er die Sicherheit und Geschlossenheit selbst erkorener absoluter Fundamente. Vor ihnen soll alles Fragen Halt machen, damit sie absoluten Halt geben können. Vor ihnen soll alles andere - einschließlich der Menschenrechte - relativ werden, damit diese Fundamente selbst der Relativierung entzogen bleiben. Wer sich nicht auf ihren Boden stellen will, soll nach fundamentalistischer Überzeugung keine Rücksicht verdienen für seine abweichenden Argumente, Zweifel, Interessen und Rechte.
Fundamentalismus ist in kommunikationstheoretischer Sicht eine Form systematisch verzerrter Kommunikation, da er die stets unvermeidliche Deutungsarbeit an den jeweils eigenen Überlieferungen der unterschiedlichen Kulturen bei einem von ihm selbst festgelegten Ergebnis willkürlich abschließt. Für den Fundamentalismus ist es stets kennzeichnend, dass er den offenen Dialog über seine Geltungsansprüche verweigert. Dialog setzt voraus, dass gleichermaßen zurechnungsfähige Subjekte über divergente Meinungen, Interessen und Konzepte streiten in dem Bewusstsein, dass es für Menschen keinen Standpunkt geben kann, von dem aus Streitfragen a priori entschieden werden können. Dem Fundamentalismus erscheint darum der Konflikt über Deutungs- und gesellschaftlich-politische Gestaltungsansprüche als Verrat und der Gegner als Feind von Heil und Wahrheit. Er akzeptiert den Gegner daher nicht als zurechnungsfähig und setzt an die Stelle des Dialogs Strategien - sei es der Überredung, sei es der Umerziehung, sei es der Bloßstellung oder, wo er über die politische Macht verfügt, der Unterdrückung. Fundamentalismus umfasst stets mehrere Dimensionen des gesellschaftlichen Handelns. Er kann darum angemessen nur auf interdisziplinäre Weise verstanden und erklärt werden.
Erklärungsansätze
Erklärungsansätze für das Aufkommen und die Verbreitungschancen von religiösem oder nichtreligiösem politischen Fundamentalismus können auf individualpsychologischer, soziologischer, politikwissenschaftlicher und kulturphilosophischer oder sogar anthropologischer Ebene ansetzen. Wenn Fundamentalismus als die Zuflucht zu willkürlich immunisierten absoluten Gewissheiten unter der modernen Bedingung prinzipieller Ungewissheit gilt, so können Motive und Bedingungen dafür auf psychologischer Ebene gefunden werden, nämlich die Unfähigkeit zum Aushalten offener und mehrdeutiger Situationen, auf soziologischer Ebene, nämlich die Unfähigkeit, soziale Identität in einer pluralisierten Gesellschaft zu sichern, auf politischer Ebene, nämlich die mangelnde Bereitschaft, sich mit dem politischen Relativismus der Demokratie zu arrangieren, auf kulturphilosophischer Ebene, nämlich die Unfähigkeit, sich in der metaphysischen Heimatlosigkeit der Moderne einzurichten, und auf anthropologischer Ebene, nämlich in der Annahme, der Mensch könne ohne einen Grundbestand letzter Gewissheiten nicht existieren.
Offensichtlich bildet die metaphysische Heimatlosigkeit der Moderne (Peter L. Berger) die Grundsituation, in der dann das Zusammentreffen weiterer der genannten Motive und Bedingungen die Hinwendung zum Fundamentalismus und das Erstarken fundamentalistischer Bewegungen begünstigen. Zum Problem wird der Fundamentalismus dabei nicht so sehr durch den Versuch von Einzelnen oder Gruppen, künstliche Gewissheit für sich selbst zu erlangen, sondern durch die zusätzliche Haltung, diese Gewissheit erst dann als Sicherheit zu empfinden, wenn sie für alle gilt, also auch den Widerstrebenden aufgenötigt werden kann. Mit diesem Übergriff auf das öffentliche Leben wird der Fundamentalismus zur politischen Ideologie.
Als individuelles Motiv und als Haltung gesellschaftlicher Teilgruppen ist der Fundamentalismus selbst mit der Moderne eine Art siamesischer Zwilling. Als weltanschaulich-politische Bewegung gewinnt er, wie historische Längsschnitt- und interkulturelle Vergleiche nahe legen, Massenzulauf, wenn drei Bedingungen gleichzeitig erfüllt sind: 1) das plötzliche Brüchigwerden eingelebter soziokultureller Identitäten und Orientierungen, 2) die Erfahrung oder Drohung sozialer Unsicherheit und 3) ein in der gegebenen Situation glaubwürdiges Angebot fundamentalistischer Organisation, Rhetorik und Führung im Rückgriff auf Elemente der jeweiligen kulturellen Tradition.
Wirkungen und Diskussionen in der Gegenwart
Mit dem Unglaubwürdigwerden des europäischen Fortschrittsoptimismus und dem Erwachen des ökologischen Bewusstseins von der Zerstörbarkeit der natürlichen Lebensgrundlagen durch unkontrollierte Technikentfaltung setzte v. a. in der islamischen, jüdischen und christlichen Welt zu Beginn der 1970er-Jahre eine Welle des Fundamentalismus ein (Gilles Kepel). In vielen islamischen Ländern, wie Ägypten und Algerien, greifen fundamentalistische Bewegungen und Parteien nach der Macht. Überrascht hat selbst kundige Beobachter der machtvolle Aufschwung eines kulturell und politisch organisierten Hindu-Fundamentalismus in der »größten Demokratie der Welt«, Indien. Viele der Sekten und neuen religiösen Bewegungen in Europa tragen fundamentalistische Gepräge, wenn auch oft lange Zeit ohne direkte politische Ambitionen. Fundamentalistisch sind auch die ethnischen Formen des Nationalismus zu nennen, die in Ost- und Südosteuropa zeitweilig das Vakuum zu füllen scheinen, das der Zusammenbruch der marxistisch-leninistischen Weltanschauung dort hinterlassen hat, und die auch in Westeuropa verstärkt um sich greifen.
Der Begriff des Fundamentalismus ist v. a. drei kritischen Einwänden ausgesetzt: 1) Er sei zu weit und vage, um brauchbar zu sein; 2) er sei in polemischer Absicht gebildet und darum für Wissenschaft und kulturellen Dialog kaum brauchbar, und 3) er sei selbstwidersprüchlich, da sein Gebrauch selber der Kritik entrückte Annahmen voraussetze.
Als Entgegnung auf diese Einwände finden sich folgende Argumentationen: 1) Als Gegenbegriff zum Begriff der Modernisierung beziehungsweise der Moderne, der eine universelle und globale Bedeutung hat, muss der Begriff des Fundamentalismus von gleicher Allgemeinheit und Reichweite sein, ohne darum leer zu werden. Als allgemeiner Strukturbegriff, der eine bestimmte Logik des Verhaltens, Denkens und der sozialen Organisation bezeichnet, ist er in seiner konkreten Dynamik jeweils in hohem Maße von den soziokulturellen Kontexten abhängig, in denen sich die Sache, die er bezeichnet, entfaltet. Das gilt zumal für den Typ von Modernisierungswidersprüchen, denen er seine Entfaltung verdankt. - 2) Es gibt eine Anzahl von Strukturbegriffen, die polemischen Konnotationen haben oder haben können, ohne ihren analytischen Wert zu verlieren, z. B. Totalitarismus, Diktatur. Die polemische Konnotation im Begriff des Fundamentalismus ist einerseits nicht dominant und hängt andererseits in hohem Maße von der Verwendungsabsicht ab. Sie kommt in jedem Fall erst zur analytischen Grundbedeutung hinzu und tritt nicht an deren Stelle. Sie ist zudem keineswegs notwendiger Bestandteil der Begriffsbedeutung, da zahlreiche Fundamentalisten den Begriff ohne Vorbehalte zur Selbstbezeichnung benutzen. Er kann, wie fast alle Begriffe im politischen Grenzgebiet, auch als Mittel bloßer Polemik benutzt werden, indem der jeweils Andere ohne sachlichen Grund zum Fundamentalisten gestempelt wird. Eine solche Verwendung entspringt dann aber nicht dem Begriff, sondern nur den Motiven und den ungeklärten Bedingungen seiner Verwendung. - 3) Aus fundamentalistischer Sicht ist der Begriff Fundamentalismus mit dem Argument kritisiert worden, von Fundamentalismus lasse sich immer nur innerhalb eines diskursiven und weltanschaulichen Paradigmas reden, aber nicht im Verhältnis zwischen den kulturellen, religiösen, weltanschaulichen Paradigmen. Im Außenverhältnis müssten sie aus Gründen der Selbsterhaltung gleichermaßen fundamentalistisch gegeneinander auftreten.
Der amerikanischer Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington (* 1927) hat der internationalen Diskussion über den Fundamentalismus mithilfe dieses Arguments 1992 erheblichen Auftrieb gegeben. Ihm zufolge wird auf den Zusammenstoß der Nationalismen im 19. Jahrhundert und auf den Zusammenstoß der Ideologien im 20. Jahrhundert der Zusammenstoß der Zivilisationen (Kulturen) im 21. Jahrhundert folgen. Diese These setzt voraus, dass sich die Zivilisationen der Welt in entscheidenden Fragen fundamentalistisch zueinander verhalten werden, sobald sie sich auf ihre unterschiedlichen Identitäten besinnen. Sie misst der Tatsache zu geringe Bedeutung bei, dass in zahlreichen Studien über eine sehr große Zahl von Kulturen in allen Teilen der Welt immer deutlicher wird, dass innerhalb einer jeden von ihnen der »Zusammenstoß« zwischen einer liberal-modernisierenden und einer fundamentalistischen Deutung derselben kulturellen Überlieferung zu beobachten ist. Insofern ist es einerseits realitätsgerechter und andererseits pragmatisch angemessener - in der Begriffswahl Huntingtons -, von einem Zusammenstoß zwischen fundamentalistischen und liberalen Strömungen innerhalb der Zivilisationen zu sprechen.
Es sind offensichtlich nicht die Kulturen der Welt, die die notwendige Verständigung und Kooperation behindern, sondern partikuläre Kräfte in ihnen, die nur in besonderen Krisensituationen zeitweilig als berufene Sprecher der Mehrheitsströmung in Erscheinung treten können. Eine unkritische Verbreitung der These Huntingtons könnte eine Haltung begünstigen, die die Verständigung zwischen den Zivilisationen, sei es durch Resignation, sei es durch Misstrauen, auf letztlich unbegründete Weise behindert.
Bei dem Argument, die unterschiedlichen Kulturen der Welt seien im Verhältnis zueinander unvermeidlich fundamentalistisch, liegt offensichtlich eine Verwechslung der Argumentationsebenen vor. Fundamentalistisch ist nämlich nicht die argumentative Verfolgung von Wahrheitsansprüchen innerhalb offener Gesprächssituationen, sondern die Weigerung, solche Gesprächssituationen herbeizuführen oder sich auf sie einzulassen.
Als kulturkritisches Argument widerspricht diese Kritik der Erfahrung. Innerhalb aller Kulturen und Religionen gibt es fundamentalistische und nichtfundamentalistische Positionen, sodass der Unterschied zwischen beiden nicht der eines unterschiedlichen kulturell-religiösen Paradigmas sein kann.
Auch wenn die von kundigen Beobachtern mehrfach geäußerte Befürchtung, der Fundamentalismus könne in allen Kulturen in der Welt des 21. Jahrhunderts eine ähnliche Rolle spielen wie der Faschismus in Europa in den 1930er-Jahren, als zu pointiert erscheint, hat der Prozess der Modernisierung doch eine Richtung genommen, die eine in unterschiedlichen Formen des Fundamentalismus vollzogene massenhafte Flucht aus der modernen Kultur als Lebensform und politische Rahmenbedingung keineswegs unwahrscheinlich erscheinen lässt. Sekten, fundamentalistische Kulturorganisationen, fundamentalistische Parteien und Bewegungen bieten sich als scheinbarer Ausweg aus der Moderne in zunehmender Zahl und Variation überall an. Als Lebensform beruht die Moderne auf Voraussetzungen, die sie selbst weder gewährleisten noch erzeugen kann. In diese Lücke tritt der Fundamentalismus als andauernde Versuchung mit wechselnden Erfolgschancen ein.
G. M. Marsden: Fundamentalism and American culture. The shaping of 20th century evangelicalism (New York, 1980);
F. in der modernen Welt. Die Internationale der Unvernunft, hg. v. Thomas Meyer (1989);
M. Riesebrodt: F. als patriarchal. Protestbewegung. Amerikan. Protestanten (1910-28) u. iran. Schiiten (1961-79) im Vergleich (1990);
The fundamentalism project, hg. v. M. E. Marty u. a., auf mehrere Bde. ber. (Chicago, Ill., 1991 ff.);
S. P. Huntington: The third wave. Democratization in the late twentieth century (Norman, Okla., 1991);
»Katholischer« F. Häretische Gruppen in der Kirche?, hg. v. W. Beinert (1991);
F. in der verweltlichten Kultur, hg. v. H. Hemminger (1991);
Thomas Meyer: F. Aufstand gegen die Moderne (10.-12. Tsd. 1991);
Offenbarungsanspruch u. fundamentalist. Versuchung, Beitrr. v. I. Broer u. a. (1991);
Zukunftsperspektiven des F., hg. v. F. Stolz u. a. (1991);
B. Tibi: Die fundamentalist. Herausforderung. Der Islam u. die Weltpolitik (21993);
G. Kepel: Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen u. Juden auf dem Vormarsch (a. d. Frz., Neuausg. 1994);
P. L. Berger: Sehnsucht nach Sinn. Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit (a. d. Engl., 21995);
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Fun|da|men|ta|lịs|mus, der; - [a: engl. fundamentalism, zu: fundamental, ↑fundamental]: a) geistige Haltung, Anschauung, die durch kompromissloses Festhalten an [ideologischen, religiösen] Grundsätzen gekennzeichnet ist: religiöser F.; F. bezeichnet eine Bewegung, die in der gesamten muslimischen Welt anzutreffen ist (Hörzu 12, 1986, 10); b) Bewegung des amerikanischen Protestantismus, die davon ausgeht, dass die Bibel unmittelbares Wort Gottes ist u. daher irrtums- u. fehlerfrei ist.
Universal-Lexikon. 2012.